Das ist er, fasst ihn! Er ist der Kindermörder. Wer? Dominique Jann in der anonymen Menge der Putin-Puppen. Eine Szene aus M wie Mörder. (Bild: Yoshiko Kusano)

Deutschsprachige Theater-Aufführungen

Mörder unter uns. Das Theaterstück von Michail Schischkin nach Motiven von Fritz Langs Film M 1931. Regie: Eberhard Köhler. Musik: Simon Ho. Szenografie: Danila Korogodsky. Uraufführung: Schlachthaus Theater, Bern, am 12. September 2019. In Kooperation mit dem Theater “Pokolenij” Sankt Petersburg, Kellertheater Winterthur, Theater an der Winkelwiese Zürich.

Briefsteller. Elegie – Trio. Konzept und künstlerische Leitung Alexey Botvinov. Uraufführung: Theater Stok, Zürich, Dezember 2012. Neuaufführung Theater Tuchlaube, Aarau, November 2014.

Trailer

Briefsteller. Charlotte Schwab und „Stille Hunde“. Uraufführung: Altes Rathaus, Göttingen, August 2013.

Nabokovs Tintenklecks. Regie: Bastian Kraft. Im Rahmen von Arm und Reich. Schlaglichter auf die Ungleichheit zus. mit Die schwarze Halle von Lukas Bärfuss und Rechne von Händl Klaus. Uraufführung: Schauspielhaus Zürich, 4. Mai 2013.

Rezensionen und Interviews

Politisches Theater

Von Thomas Irmer

“Theater der Zeit”, Dezember 2022

Teatr Pokoleniy/Die Zimmerwäldler/Raum4:

„M-Mörder unter uns“ von Michail Schischkin und Matto Kämpf

Regie Eberhard Köhler

Ausstattung Danila Korogodsky

Musik Simon Ho

 

Nach der Premiere in Bern im September 2019 und einigen Schweizer Aufführungsorten, gefolgt von der Corona-Pause, war dies nun die erste Aufführung in Deutschland und die erste seit Beginn des Krieges. Die bereits gebuchten Flugtickets über Helsinki zu nutzen, war für die russischen Schauspieler nicht mehr möglich. Die Transportkosten aus Sankt-Petersburg für die Dekoration hatten sich vervielfacht. So war es fast ein Wunder, als der Regisseur Eberhard Köhler, der das freie Teatr Pokoleniy (Theater Generation) zusammen mit dem Bühnenbildnern Danila Korogodsky an der Newa über Jahre aufgebaut und ein weiteres Mal für diese Produktion mit Schweizer Partnern zusammengeführt hatte, das Publikum vor der Vorstellung begrüßte und über all diese Schwierigkeiten informierte, deren Ursachen somit greifbar im Raum standen.

Das Stück schrieb der in der Schweiz lebende russische Dissident Mikhail Schischkin (zusammen mit Matto Kämp) nach dem Filmklassiker von Fritz Lang aus dem Jahr 1931. In Berlin wird ein Kindermörder gesucht, dessen Verfolgung wegen mangelnder Ergebnisse der Kriminalpolizei schließlich vom organisierten Verbrechen in die Hand genommen wird, das sich in seinen Geschäften gestört fühlt und die aufgeheizte Atmosphäre in einer traumatisierten Bevölkerung für sich nutzen will. Für Schischkin eine Vorlage mit Blick auf das heutige Russland, ohne dass er seine Adaption nun extra dorthin hätte verlagern müssen. „Mörder unter uns“. So der ursprünglich von Lang vorgesehene Titel, meint eben nicht nur den gesuchten Kindermörder_ sondern eine Gesellschaft, die in einen Ausnahmezustand hinein taumelt, in dem längst andere Kräfte des Zerfalls zu wirken begonnen haben.

Die theatralen Mittel für diese parabelartige Erzählung sind indes ganz verschieden und werden vor allem von der zuweilen an Kurt Weills „Dreigroschenoper“ erinnernden Musik von Simon Ho zusammengehalten, die er gemeinsam mit einem exquisiten Blasinstrumentalisten und einem Schlagzeuger von der Seite live orchestriert. Suse Wächter tritt mit einem Bauchladen voller Puppen wie eine Moritatensängerin für die Exposition auf, eine Rolle, die sie durch die ganze Inszenierung hindurch als überbrückende Erzählerin einnimmt und in einigen Szenen als Spielerin für die zur Puppe gedoppelten Mörderfigur Beckert erweitert. Ihre dem Hauptdarsteller des Films, Peter Lorre, mit seinen herausstechenden Augen nachempfundene Puppe ist für sich ein Meisterwerk und öffnet hier einen Raum zwischen der filmischen Vorlage und der natürlich auf aktuelle Einsichten zielenden Inszenierung. Beckert wird von Dominique Jann als qualvoll ängstlicher Mann gespielt, dessen Triebmorde – wie im Film als furchtbare Spaltung seiner selbst von ihm gestanden – zu einer hoffnungslosen Flucht und schließlich vor das Tribunal der Verbrecher führen, wo er im letzten Moment vor deren Selbstjustiz von der Polizei gestellt, aber nicht gerettet wird. Dargestellt mit einem Todestanz zu Schlagzeugsolo. Die Szenen, die „Volksmeinung“ im erschütterten Alltag verängstigter Mütter spielen, werden von den russischen Schauspielerinnen aus Stoffbahngestellen heraus gesprochen, die bereits nicht mehr den ganzen Menschen erkennen lassen. Aber sie bekunden: „Verbrecher herrschen über uns!“ Der in die Tiefe gestaffelte Raum wird mit mehreren hoch und runter zu ziehenden Reihen von schwarzen Anzügen gegliedert – ein Bild dafür, dass sich vielleicht für diesen Fall alles noch anonym abspielt, aber auch schrecklich vervielfachen kann. Und genau das ist bei aller schauspielerischen Leichtigkeit die Assoziation für „Mörder unter uns“.

Die Inszenierung in russischer und deutscher Sprache verwendet überdies historisches Filmmaterial, das immer im Spiel mit der Bühne bleibt. Die Vielfalt der Mittel wie auch deren Interpretation im Einzelnen wirken geradezu überbordend. Aber in keinem Moment unverständlich oder abwegig. Man kann nur hoffen, dass es nicht die letzte Produktion des Teatr Pokoleniy im Exil zusammen mit den Schweizer Theaterleuten Die Zimmerwäldler ist. Die benannten sich nach dem Ort nahe Bern, in dem 1915 eine Konferenz zur Neuorganisation der Sozialistischen Internationale stattfand, die mit ihrer folgenreichen Spaltung einiges zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts und so schließlich sogar zu den abstrusen Argumenten für Russlands Krieg heute beigetragen hat oder haben könnte. Politisches Theater.

“Putin ist ein Schlächter!”: Michail Schischkin geht auf die Barrikade

Der russisch-schweizerische Schriftsteller und Regimekritiker hat sein erstes Stück geschrieben. Mörder unter uns ist ein Aufstand der Kunst.

Von Daniele Muscionico

NZZ, 18.09.2019

Der Abend ist ein Schlag in die Magengrube. Michail Schischkin, man kennt seinen Furor, schreibt zum ersten Mal für das Theater. Und die Empörung, die in seinen Büchern lediglich glüht, findet auf der Bühne, im echten Spiel, einen Katalysator, der sie entfacht. Scharf, gallig und bisweilen auch polemisch klingt der Ton. Der Autor will sein Publikum aktivieren und politisieren. Zwar steht im Fadenkreuz seines Interesses stets der Tyrann, doch es ist unsere Passivität, die ihn ja erst dazu macht.

«Die Kunst, die Literatur, die Musik sind zu grosse Kanonen, um auf Diktatoren von heute zu schiessen. Die Lebenserwartung einer Diktatur ist immer kürzer als die eines echten Kunstwerks», sagt er im Gespräch. «Aber das Theater lebt nur heute Abend, es ist die Quintessenz der Strassen-Volkskunst: Emotion pur.»

Emotional ist Schischkins Erstling mit der Musik von Simon Ho, und das ist noch untertrieben. Der Abend ist ein expressiver Monsterbrocken des freien politischen Theaters. So ungefällig und formal unorthodox schreibt und inszeniert nur, wer keinen Wert darauf legt, von einer Institution oder einem Kanon geliebt zu werden.

Der Berliner Regisseur Eberhard Köhler hat den Autor mit Fritz Langs Filmklassiker vom Vorabend des Nationalsozialismus, M – Eine Stadt sucht einen Mörder (1931), in Kontakt gebracht. Schischkin nun behandelt und aktualisiert den Stoff mit seiner erzählerischen Kompositionskunst. 

Es ist die Geschichte eines Berliner Kindermörders, den die Polizei nicht fassen kann. Sie baut für dessen Jagd ein System von Spitzeln und Verrätern auf, schliesslich wird eine kriminelle Gang ihn richten, Selbstjustiz. Das ist für Schischkin die Falltür in die Gegenwart. Langs Atmosphäre einer allgegenwärtigen Bedrohung schliesst sich auf der Bühne kurz mit einem heutigen politischen Zeitwind, einer – von Rechtspopulisten geschürten, sagt Schischkin – Verunsicherung und Angst. Jeder kann mein Feind sein, zumal der Unbekannte. Der Autor nennt seine Adaption Mörder unter uns und greift damit auf den Wunschtitel von Fritz Lang zurück. Die Nazis hatten seine Anspielung (richtig) verstanden und zensierten kurzerhand.

Die Inszenierung ist eine Koproduktion mit dem Teatr Pokoleniy aus St. Petersburg und soll auf Schweizer Bühnen wie auch auf Gastspielreise in Russland gezeigt werden. Das Erstere ist ausgemacht und bestätigt, das Zweitere allerdings ist laut Schischkin durch die Verhärtungen der russischen Politik ungewiss geworden. Die Schauspieler hätten Angst, das Stück in Russland zu zeigen.

Denn Langs Filmstoff ist für den Autor nur Kulisse. Er versteht ihn als Parabel, um zu zeigen, wie aus einem Staat ein Unrechtsstaat wird, indem er die Politisierung der Bürgerängste für sein Ziel nutzt. Mörder unter uns zeigt, dass es von Kriegsgewinnlern über Breivik bis zu Putin so etwas wie eine heimliche Verbindung zwischen Orten, Geisteshaltungen und Zeiten gibt: Der Tyrann trägt nur immer neue Kleider.

Und er kann auch ein Pappkamerad sein. Die grossartige Berliner Puppenspielerin Suse Wächter ist als Moritatensängerin mit einem Bauchladen des Schreckens die Spielführerin des Abends. Die Angst im Gesicht der Puppe Peter Lorre (im Film der gejagte Mörder) scheint aus den Glasaugen sogar irrer zu funkeln als je aus einem Menschengesicht.

Mit Mörder unter uns hat der Autor auch einen Aufstand der Kunst formuliert und ruft zum Widerstand der Kunst – und der Künstler – auf: Mitten im Stück weigern sich die Darsteller, das Leiden anderer zu spielen, und fordern eine andere Wendung als im Film. Sie stellen sich vor, wie sie in Russland die «Mütter von Beslan» mit ihren T-Shirts auf die Bühne bitten. Auf den Kleidern der Frauen steht geschrieben: «Putin, Schlächter von Beslan». Eine Utopie? Nicht für Schischkin: «Ich habe erlebt, dass die geschriebenen Worte eine magische Kraft weiterentwickeln und sich in der Realität verwirklichen.»

«Das Stück ist ein Aufstand»

Der russische Autor Michail Schischkin hat mit Matto Kämpf ein Stück zu Fritz Langs Spielfilm M – eine Stadt sucht einen Mörder von 1931 geschrieben. Kritik an Russland und der Schweiz kommt nicht zu kurz.

Interview mit Michail Schischkin von Marina Bolzli

Berner Zeitung, 11.09.2019

Warum dient gerade Fritz Langs Spielfilm von 1931 als Vorlage?

Vor einiger Zeit hat mich der Berliner Theaterregisseur Eberhard Köhler angefragt, ob ich mit ihm den berühmten Film von Fritz Lang für die Bühne adoptieren würde. Den Film M hatte ich vor vielen Jahren gesehen und er hat mich beeindruckt. Nicht wegen „Horroreffekte“ eines Kultkrimis selbstverständlich. Rein technisch veralten Filme sehr schnell und die Bilder, die bei den Zuschauern 1931 Entsetzen auslösten, bewirken heute nur ein Lächeln. Vielmehr machte das historische Vorgefühl Langs einen tiefen Eindruck auf mich. Im Film geht es um den kommenden Faschismus, um die komplizierten Beziehungen zwischen der Gesellschaft und dem Staat, um die Menschenrechte, um die Grundsätze der Demokratie, um die Schwächen eines Rechtsstaates. Alles lauter aktuelle Themen auch heutzutage.

Mörder unter uns will das Phänomen des aktuell weltweiten rechtspopulistischen Erfolgs untersuchen. Wo sehen Sie die Parallele zum Film?

Woher kommt diese rechtspopulistische Welle nach Europa? Sie kommt zusammen mit Gefahren für die Bevölkerung. Der Terrorismus, die Migrationsflut, der Krieg in der Ukraine haben die friedliche europäische Existenz ins Schwanken gebracht. Leute fragen: kann ein demokratischer Staat uns vor Gefahren wirklich schützen? Wie soll ein Rechtsstaat mit brutalen Verbrechern vorgehen? Im Film wirft Lang unter anderem die Frage auf, ob es ethisch sei einen Mörder zu lynchen, oder ob ein vollendetes Bösewicht auf eine Verteidigung und „menschliche“ Behandlung Recht hat? Die Geschichte von Breivik scheint die Fortsetzung zum Fritz Langs Film zu sein! Der Massenmörder hat das Recht, den norwegischen Staat vor Gericht für „sadistische“ Haftbedingungen zu ziehen: das Essen sei in der Mikrowelle erwärmt, statt Playstation 3 kriegt er Playstation 2 zum Gamen etc.! Das ist das, was in einem Rechtsstaat mit dem Kindermörder Hans Beckert nach Ende des Films passieren sollte! Was müssen dabei die Mütter der Ermordeten fühlen? Danach muss man nicht mehr darüber staunen, dass die Mütter für die Einführung der Todesstrafe stimmen! Lang drehte seinen Film über die Fragilität eines demokratischen Rechtsstaates, er spürte bereits, was auf ihn und seine Zuschauer zukommen wird. Der Staat selbst wurde zum Kindermörder. Der Regisseur musste aus Deutschland flüchten. Wieviel Mädchen hat Beckert getötet und wieviel Mädchen gab es unter 6 000 000 ermordeten Juden?

Inwiefern spielt Russland dabei eine Rolle?

Der sowjetische Staatsanwalt hat es bei den Nürnberger Prozessen präzise formuliert: «Diese Verbrecher haben die Staatsmacht ergriffen und den Staat zum Instrument ihrer verbrecherischen Handlungen gemacht.» Genau das passiert heute in Russland. Dazu schweigen hieße, Verbrecher zu unterstützen. Das berühmte Zitat aus dem Film lautet: „Mütter müssen besser auf ihre Kinder aufpassen!“ Und was ist, wenn der Staat selbst ein Täter ist? In unserem Stück werden die Bilder nach einer Bombardierung in Tschetschenien gezeigt: von einem Mädchen ist nichts geblieben – Eltern begraben im Sarg ihr Mäntelchen. Und die Tragödie in Beslan! Danach erwies es sich, dass FSB von der Geiselnahme vorher wusste. Diese Kinder wurden zum Wechselgeld in einem politischen Spiel – Putin brauchte einen Vorwand und viel Blut, nach Beslan sind die letzten Zeichen der Demokratie und des Rechtsstaates in Russland verschwunden. Die Mütter von Beslan kamen zum Jahrestag der Tragödie mit den T-Shirts „Putin – der Henker von Beslan“, sie wurden verhaftet.

Wie ist die Situation in Russland momentan?

Das Stück sollte nach dem ursprünglichen Plan in Sankt Petersburg ohne Schweizer Schauspieler im ständigen Repertoire laufen, aber mit meinem vollständigen Text ist es in heutigem Russland offensichtlich nicht möglich. So ist die Atmosphäre in Russland nach der Welle der letzten Proteste. Als wir das Stück vor zwei Jahren geplant haben, waren noch viele Dinge in Russland möglich, die jetzt unmöglich geworden sind. Ich kann den Schauspielern nichts vorwerfen. Wir sind back in the USSR, mit dem Unterschied, dass die Staatsgrenzen noch offen sind. Eine Diktatur lebt von der Angst der Bevölkerung. Aber diese Angst kann man gut nachvollziehen. Alle haben Familien. Wir alle zusammen – mit russischen Schauspielern inklusive – versuchen unser Stück auch in Russland zu retten, ohne die russischen Kollegen in Gefahr zu bringen (die Schweizer Schauspieler übernehmen die schlimmsten Aussagen wie „Putin-Henker“ etc.). Die gemeinsamen Aufführungen mir Schweizer Beteiligung werden stattfinden, jedoch kann ich mir nicht vorstellen, dass im Repertoire-Theater das Stück mit vollem Wortlaut gespielt wird.  Wir suchen gemeinsam, partnerschaftlich nach Lösungen für die Repertoire Variante. Jedenfalls wird dann diese Fritz Lang Adaption wegen Kürzungen in meinem Text im ständigen Repertoire nicht unter meinem Namen laufen.

Wie schätzen Sie die Beziehung zwischen der Schweiz und Russland ein?

Um diese Beziehung geht es auch im Stück. Die Schweizer haben sich gefreut, als Gorbatschow „Perestrojka“ angekündigt hat, aber was hat die Schweiz gemacht, um der jungen russischen Demokratie auf die Beine zu helfen? Die Schweizer müssten ihrerseits nur eine einzige schlichte Sache machen – einfach an ihrem eigenen Beispiel zeigen, wie die Demokratie funktioniert, was ist das: ein Rechtsstaat. Man müsste einfach eigenen Gesetzen folgen, nichts mehr. Und was haben westliche Demokratien den Russen gezeigt? Alles läuft nach dem ungeschriebenen Gesetz: Beim grossen Geld hört der Rechtsstaat auf. Die Banditen an der Macht in Russland stehlen bei eigenem Volk Naturschätze und verkaufen die Beute nach Westen. Grosses Geld aus Russland – das ist kriminelles Geld und in der Schweiz hat man sich über dieses Geld in den letzten zwanzig Jahren sehr gefreut. In einem wahren Rechtsstaat würde man einfach die Gesetze gegen Geldwäscherei anwenden, und die Kriminellen sowohl aus Russland als auch ihre Helfershelfer und Hehler aus der Schweiz wären im Gefängnis. Als in Sotschi Olympiade war, musste man sie boykottieren, um die Solidarität mit den Geiseln, nicht mit der Bande zu zeigen, die das ganze Land als Geisel genommen hatte. Die Schweizer jedoch haben das Schweizer Hüsli gebaut, wo der Bundesrat dem Diktator und Henker von Beslan höchstpersönlich huldigen konnte. Sie wissen, was nach Sotschi kam: die Krim-Annexion, Krieg in der Ukraine, zehn Tausend Tote. Und wieviel tote Kinder – hat keiner gezählt. Ein Schweizer Schauspieler sagt im Stück: „Ich bin Schweizer, aber was habe ich mit dem schmutzigen Geld aus Russland zu tun?! Ich bin kein Politiker, ich bin nur ein einfacher Bürger“.  Wir sind alle keine Politiker, nur einfache Bürger. Man darf aber nicht vergessen, dass jeder von uns persönlich für seinen Präsidenten, seine Stadt, sein Land, sein Volk, seine Geschichte Verantwortung trägt. Und wenn mein Land Verbrechen begeht, dann muss ich auch für das Land und für sein Verbrechen Verantwortung tragen. Und wenn es dem einfachen Bürger für sein Land weh tut, dann ist es noch nicht alles verloren.

Im Projektbeschrieb heisst es, Sie seien zuständig für die «Dekonstruktion». Was dekonstruieren Sie?

Ich verstehe, das Wort hat längst an Glanz eingebüsst, das war eher ein technischer Arbeitsbegriff für uns. Mir wäre lieber „der Aufstand“. Zuerst ist das mein Aufstand gegen die bestimmten Methoden der Kunst, die Realität zu verdauen. Zum Beispiel: ich finde es grundsätzlich amoralisch, eine Oper oder ein Ballett zum Thema Holocaust oder Kindermord zu machen. Meinen Aufstand im Stück vertraue ich den Schauspielern an, die sich gegen die Art und Weise auflehnen, solche ernsthaften Themen mit Mitteln eines Musicals zu behandeln. Dann geht „der Aufstand“ weiter, die grundsätzlichen Themen der Kunst und der Politik werden aufgegriffen. Ich habe bereits mehrmals im Leben erlebt, dass die geschriebenen Worte eine magische Kraft weiterentwickeln und sich in der Realität verwirklichen. So entwickelte sich mein erfundener Schauspieler-Aufstand gegen das Stück in einen realen. Wie gesagt, die Schauspieler haben ihr berechtigtes Bedenken, das Stück mit diesen Texten in Russland zu spielen. Und wie der Regisseur diesen „Aufstand“ dann zurück auf die Ebene der Kunst meistert, das muss man auf der Bühne sehen.

Wie sehen Sie die Zukunft? Gibt es Hoffnung? Und wenn ja, was gibt Ihnen Hoffnung?

Um diese Fragen zu beantworten habe ich ein Buch zusammen mit dem bekannten deutschen Journalisten Fritz Pleitgen geschrieben: Frieden oder Krieg. Russland und der Westen (Ludwig Verlag München, 2019). Wir diskutieren über die russische Geschichte und über die russische Zukunft. Im heutigen Russland tobt bereits der kalte Bürgerkrieg. Noch kocht die Aggression online im Internet, aber nun wird sie auf die Straße überschwappen. Mit solcher Geschichte kann man kaum auf den Sieg der Demokratie in Russland in der absehbaren Zeit hoffen. Aber wenn man auch nicht siegen kann, muss man trotzdem für die Demokratie kämpfen. Und es freut mich sehr, dass die jungen Leute in Moskau auf die Strassen gehen. Sie verteidigen ihre menschliche Würde. Und das ist bereits der wichtigste Sieg.

 

Dieser Roman änderte sein Leben fundamental

Der ukrainische Pianist Alexey Botvinov hat Michail Schischkins Kultroman Briefsteller für die Bühne bearbeitet.

Von Elisabeth Feller

BZ, 08.11.2014

Eine Frau, ein Mann, eine Sommerliebe. Sascha und Wolodja werden durch einen Krieg getrennt und können sich nur Briefe schreiben. Darin erzählen sie einander von Kindheit, Familie und Alltag. Ein normaler Briefwechsel? Nein. Leser von Michail Schischkins Briefsteller erfahren: Die Zeit der beiden ist «verrückt». Sie lebt in der Gegenwart; er kämpft in China zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Er stirbt, doch seine Briefe kommen weiterhin an. Sie heiratet, schreibt ihm weiter – als ob weder die Zeit noch der Tod eine Rolle spielten. Längst ist der Roman des in Zürich lebenden russischen Autors Kult – mittlerweile ist er in über 20 Ländern erschienen.

Einen hat Schischkins Briefsteller in seinen Grundfesten erschüttert: Alexey Botvinov. Der ukrainische in der Schwarzmeer-Metropole Odessa lebende Pianist spricht von «einem ungewöhnlich starken, berührenden Buch, das mein Leben fundamental verändert hat». Nur beim Lesen liess es Botvinov nicht bewenden. Unmittelbar nach der Lektüre traf er Schischkin, worauf sich Autor und Musiker rasch einig waren: Der Roman gehört auf die Bühne. «Ich wusste, der Briefsteller würde dort funktionieren», sagt Botvinov, der über eine reiche Theatererfahrung verfügt: als Intendant der Oper in Odessa und musikalisch unvergleichliche Stütze vieler Ballette des Choreografen Heinz Spoerli. Dass er die Bühnenfassung selbst schreiben würde, stand für Botvinov von Beginn an fest. Klar war auch, «welche Musik zu diesem polyfonen Roman gehört. Auf jeden Fall Sergej Rachmaninoffs Elegie, die ich im Konzert oft spiele, sodann Werke von Alexander Skrjabin.» Klar war überdies, dass die Briefe von zwei Schauspielern gelesen, aber von ihnen auch ins Szenische übergeführt werden sollten – im Zusammenklang mit Botvinovs Klavierspiel. Alles schien gut. Aber dann erfuhr der Pianist, dass auch das Moskauer Tschechow-Kunsttheater eine Fassung erarbeiten wollte. War sein Projekt hinfällig?

Nein. Michail Schischkin gab nicht nur der Moskauer, sondern auch Botvinos intimerer Version grünes Licht: diese wurde 2012 in Odessa uraufgeführt. Begeistert von der Bühnenfassung des Pianisten schlug Michail Schischkin vor, das Stück ins Deutsche zu übersetzen. In Alexey Botvinovs Augen blitzt es belustigt auf: «Das war Abenteuer Nummer 2 für mich.» Waghalsig deshalb, weil die Schauspieler «komplett unterschiedlichen Theaterschulen entspringen. Das musste ich berücksichtigen. Russisch ist perfekt, um russische Emotionen zu zeigen. Die Schauspieler dürfen weinen, und mit ihnen weint das Publikum – das ist wie eine Katharsis. Im Deutschen sind die Akzentsetzungen ganz anders. Schwarzen Humor mag es hier ertragen – im Russischen kommt er hingegen nicht gut an», betont Botvinov: «Also wusste ich: Will ich den Briefsteller auf Deutsch vorstellen, muss ich das Projekt mit neuen Ideen und Wörtern anpacken.» Der Pianist nippt an seinem Tee; lächelt. Michail Schischkin habe die deutschsprachige, im Zürcher Kammertheater Stok uraufgeführte Version mit diesen Worten geadelt: «Sie ist besser als die russische.» Dieses Lob macht den ukrainischen Pianisten glücklich – vor allem im Hinblick auf die Wiederaufnahme des Briefstellers in der Tuchlaube Aarau. «Der Roman ist aktueller denn je. Er hat für mich in den letzten Monaten eine ganz neue Bedeutung bekommen.» Botvinovs Gelassenheit macht unversehens einem Ernst Platz, dem sich sein Gegenüber nicht entziehen kann. Die Situation in der Ukraine. Botvinov verstummt. Als er wieder zu sprechen beginnt, klingt seine Stimme gedämpfter, aber energischer, was kein Widerspruch ist.

Der Pianist kommt auf die Massenproteste im Herbst und Winter 2013/14 in Kiew sowie auf die erhitzte Situation im Februar 2014 zu sprechen: Es wurden Schusswaffen eingesetzt; mehr als 70 Menschen starben. Dann streift der Musiker den Konflikt in der Ostukraine, der sich ab Februar dieses Jahres zu einem bewaffneten entwickelt hat. «Die Ukraine will keine Diktatur. Sie ist kein Satellit von Russland; wir – Ukrainer und Russen – leben doch gut zusammen.» Der Musiker erzählt von jüngeren Menschen, die sich anfänglich neutral verhalten hätten. «Aber dann entwickelten sie zunehmend ein politisches Bewusstsein, und das ist gut so.» Botvinov selbst hat sich in den brandgefährlichsten Zeiten für die Demokratie stark engagiert. «Natürlich hatte ich permanent Angst», bekennt er, «so viele Menschen sind schon gestorben. Plötzlich war der Krieg da. Niemand hätte sich das vorstellen können».

Eindringlich blickt der 50-Jährige die Besucherin an: «Was ein Krieg wirklich bedeutet, ist in Schischkins Roman zu lesen. Genau deshalb ist er von brennender Aktualität.» Im August dieses Jahres sei die Situation in der Ukraine fast unerträglich gewesen. «Wir sind morgens aufgestanden und unser erster, quälender Gedanke war: Was bringt der heutige Tag?» Seit September habe sich die Lage etwas entspannt, sagt Botvinov und kommt von der Politik wieder auf die Musik, zumal seiner Heimat, zu sprechen.

Am 20. Januar 2015 will er dem Publikum in der Tonhalle Zürich zeigen, welche Schätze diese birgt: Kompositionen von Walentyn Sylwestrow und dem hierzulande nahezu unbekannten Alemdar Sabitovych Karamanov. Alexey Botvinov hat eine Fassung des Finales aus dessen Klavierkonzert Ave Maria erarbeitet. «Spiele ich sie, bekomme ich immer Hühnerhaut», sagt er. Ob er diese auch am 12. November bekommt? Dann wird Michail Schischkin die erste Vorstellung des Briefstellers in der Tuchlaube Aarau besuchen und danach mit dem Publikum diskutieren.

 

Briefsteller Theater Tuchlaube Aarau; 12. und 14. November, 20.15 Uhr.

Liebesbriefe auf der Motormühlen-Bühne

NWZ, 09.09.2014

Rostrup – Das Göttinger Ensemble Stille Hunde gehört schon zu den Stammgästen in der Rostruper Motormühle. Am Sonnabend, 20. September, 20.15 Uhr, sind Stefan Dehler und Christoph Huber erneut zu sehen – in einer szenische Lesung des Romans Briefsteller von Michail Schischkin. Mit dabei ist diesmal mit Charlotte Schwab eine Schauspielerin, die auf mehr als 30 Jahren auf der Bühne und vor der Filmkamera zurückblickt. Sie hat an großen Bühnen gespielt, wie am Düsseldorfer Schauspielhaus, an der Berliner Schaubühne, am Thalia Theater in Hamburg, sowie den Schauspielhäusern in Bochum und Zürich. Einem breiten Publikum wurde sie vor allem durch ihre zahlreichen Auftritte in Film- und Fernsehproduktionen bekannt.

Zum Inhalt: Eine Frau verliert ihren Liebhaber, aber nicht ihre Liebe. Sascha und Wolodja haben nur einen gemeinsamen Sommer, dann reißt der Krieg sie auseinander. In Gedanken bleiben sie sich nah, Briefe verbinden sie. Während Wolodja ihr von den täglichen Gräueln an der Front berichtet, erzählt Sascha von alltäglichen Begebenheiten, zeichnet ein Bild der vermeintlichen Normalität zu Hause. Als Wolodja umkommt, bedeutet sein Tod keine endgültige Trennung. Sascha hält an ihren Gefühlen fest. Sie schreibt weiter, unermüdlich, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr um Jahr, und lässt den immer jungen Toten gegen alle Gesetze von Raum und Zeit, gegen die Widrigkeiten der Wirklichkeit und gegen alle Schicksalsschläge an ihrem ganzen Leben teilhaben. Der 1961 in Moskau geborene, in der Schweiz lebende Autor Schischkin entwirft vor dem Hintergrund der Berichte von den militärischen Kampfhandlungen zaristischer Truppen gegen die aufständischen Boxer in China eine nahezu unfassbare Utopie der Liebe.

Briefsteller

Szenische Lesung des Romans von Michail Schischkin

“Göttinger Tageblat”, 05.08.2013

Jede tiefe seelische Verbindung zu einem anderen Menschen eröffnet Räume, durch deren Türen nur die Beteiligten gehen können.

Vielen Liebespaaren der Weltliteratur – seien es nun Romeo und Julia oder Ferdinand und Luise – bleibt bei allen Widrigkeiten, verursacht durch Familienfehden oder gesellschaftliche Hindernisse, nur der Tod als Tür zum Raum der Vereinigung, als ihr „Land der Liebenden“. Eine solche Figuren-Konstellation prägt auch den preisgekröntehn Roman Briefsteller von Michail Schischkin. Zusammen mit der aus Theater, Film und Fernsehen bekannten Schauspielerin Charlotte Schwab brachten Stefan Dehler und Christoph Huber von den Stillen Hunden den Roman als szenische Lesung auf die Kultursommerbühne des Alten Rathauses.

Die beiden durch Krieg voneinander getrennten Protagonisten aus Sascha und Wolodja, schreiben sich Briefe, sie von daheim, er aus dem Kampf gegen chinesische Rebellen im sogenannten Boxeraufstand Anfang des 20. Jahrhunderts. Sie halten die Erinnerung aneinander wach, geben sich Halt. Die große räumliche Distanz lässt sie offener werden, ermöglicht einen innigen, intimen Austausch zwischen der weiblichen Welt Saschas daheim in Russland und der grauenhaften Männerwelt des Krieges.

„Mit dir bin ich ich“, schreibt Sascha ihrem Wolodja, den sie selbst nach seinem Tod fürs Vaterland nicht verliert. Er bleibt ihr Ansprechpartner, ihr Lotse durch die Untiefen des Lebens, jemand, den sie schreibend am Leben erhält. Facettenreich verkörperte Schwab mit ihrer tiefen, rauen Stimme sowohl die jugendlich verspielte Sascha, als auch die gesamte Entwicklung zur reiferen Frau, die sich ohne ihre erste große Liebe durchs Leben kämpft. Barfuß wandelt sie über die – das Moment der Vergangenheit betonende – mit weißen Tüchern verhüllte Bühne, die sie mit ihren Briefen (oder Leseblättern) bedeckt. Die Briefe sind alles, was bleibt. Hinter einem weißen Stoff steht ihr Liebster, ewig jung und lebendig, ihr ewig nah.

Darsteller und Lesende wandeln zuweilen mutig aber gekonnt auf dem schmalen Grat zur Rührseligkeit. So manche Szene geht in ihrer detaillierten Beschreibung und schonungslosen Darstellung an die Schmerzgrenze, so zum Beispiel der Verlust von Saschas Kind. Bedrückende Momente, zu der die Hitze im Raum ihr Übriges tut. Aber auch ohne diese Hitze hätte der Briefsteller wohl kaum jemandem an diesem Abend kalt gelassen, und man geht mit dem sehr dringlichen Gefühl, endlich mal wieder einen aufrichtigen, inhaltsvollen Brief an einen lieben Menschen schreiben zu müssen. Zur Krönung vielleicht sogar mit Tinte auf Papier.

Kultursommer endet mit szenischer Lesung

HNA, 24.07.2013

Göttingen. Die Schauspielerin Charlotte Schwab und die Göttinger Theatergruppe stille hunde stehen am Samstag, 3. August, im Alten Rathaus erstmals gemeinsam auf der Bühne und präsentieren eine szenische Lesung aus Michail Schischkins Roman Briefsteller. Die Abschlussveranstaltung des Kultursommers beginnt um 20.30 Uhr.

Die gebürtige Schweizerin Charlotte Schwab arbeitet seit über dreißig Jahren als Theater- und Filmschauspielerin. Einem breiten Publikum wurde sie vor allem durch ihre zahlreichen Auftritte in Film- und Fernsehproduktionen bekannt.

Die Schauspielgruppe stille hunde wurde 2008 von Stefan Dehler und Christoph Huber gegründet. Das freie Ensemble produziert Repertoirestücke für Kinder, Jugendliche und Erwachsene und führt theaterpädagogische Projekte sowie berufliche Weiterbildungen durch. Bei ihrer gemeinsamen Lesung im Alten Rathaus interpretieren Charlotte Schwab und die stillen Hunde mit Briefsteller eine Liebesgeschichte in Zeiten des Krieges.

Ungleichheit global – arm und reich als menschliches Drama

Arm und reich: Drei Einakter, ein Schwerpunkt

Von Lisa Röösli

SRF, “Kulturplatz”, 08.05.2013

Die Schweiz ist eines der reichsten Länder. Doch das reichste Prozent besitzt mehr als die restlichen 99. Wo liegen die Gründe dieser Entwicklung? Und wie können wir sie beeinflussen? Das Schauspielhaus Zürich zeigt drei Theaterproduktionen zum Thema – an einem Abend in Folge.

«Wer hat, dem wird gegeben»: Die landläufige Redensart ist heute wieder heiss diskutierte Politik. Auch das Theater mischt sich in die Auseinandersetzung ein. Im Schauspielhaus Zürich hat das Thema «Ungleichheit» die Hauptrolle im Monat Mai.

Wie lebt man richtig? Es ist diese Mutter aller Fragen, die den Schriftsteller und Dramaturg Lukas Bärfuss am Thema «arm und reich» interessiert. «Wann hat man das Gefühl, es sei ein reicher Tag gewesen, ein reicher Moment, und wann bin ich zufrieden? Wann fühle ich mich arm? Und wie steht das im Zusammenhang mit meinem relativen oder meinem absoluten Reichtum?» Wem da Erinnerungen anklingen an die Worte eines Pfarrers liegt nicht ganz falsch. Es geht Lukas Bärfuss um Werte und um den Wertewandel in der westlichen Gesellschaft.

Und der fängt beim Einzelnen an. Die drei Einakter, die den Schwerpunkt «Arm und reich – Schlaglichter auf die Ungleichheit» im Schiffbau eröffnen, halten denn auch dem Einzelnen den Spiegel vor und fragen, was die Ungleichheit mit uns macht.

Der österreichische Autor Klaus Händl hat dazu seine eigene Erfahrung: «Das grosse Geld kann auch eine Last sein. In meinem Freundeskreis gibt es ein paar sehr reiche Leute. Da kommt es regelmässig zu so tragisch-komischen Szenen. Sie sind beispielsweise immer total unsicher, ob sie mir, dem bescheiden lebenden Autor, das Essen im Restaurant bezahlen sollen oder eben gerade nicht, um mich nicht zu beleidigen.»

In seinem Stück Rechne (Regie: Sebastian Nübling) geht es dann allerdings nicht um episodische Verlegenheiten, sondern um einen Akt in der Gewissensberuhigungs-Industrie. Tatsächlich empfinden zwei milliardenschwere Ladies ihren Reichtum als Bürde. Vom Wissen um die Ungerechtigkeiten in der Welt und von ihrem Skrupel geplagt, gründen sie eine Stiftung. Was nach Wohltätigkeit klingt, entpuppt sich rasch als Macht- und Unterhaltungsspiel. Aus dem Tun schaut schliesslich nichts heraus als die eigene Befriedigung – und diejenige der Finanzberater. Ein leichtes, clowneskes Stück, in dem die Reichen über die Bühne tanzend zwar viel in Bewegung sind und munter tun, aber eigentlich als Gefangene ihres Vermögens erscheinen.

Der Autor Michail Schischkin setzt in Nabokovs Tintenklecks (Regie: Bastian Kraft) ein Stück Biografie um. Der brotlose russische Schriftsteller muss einen ehemaligen Kommilitonen als Dolmetscher begleiten – genau so, wie Schischkin selbst es einmal tun musste um zu dringend benötigtem Geld zu kommen. Zur Ausstattung des Auftraggebers gehört eine Blondine und viel Geld, das nach Korruption stinkt. Die soziale Hierarchie ist gesetzt, genauso wie die moralische. So scheint es zumindest zu Beginn der gemeinsamen Reise. Doch dann vermischen sich in der Inszenierung nicht nur die Identitäten der beiden Männer, sondern zusehends auch Gut und Böse.

Neid erwacht im Schriftsteller, Zweifel an seiner moralischen Überlegenheit. «Arm und reich sind Klischees. In meinem Text wollte ich diese Klischees zerstören oder überwinden. Bei der Frage, was unser Leben ärmer oder reicher macht, geht es um ganz andere Dinge,» meint Michail Schischkin.

In Lukas Bärfuss’ Die schwarze Halle (Regie: Barbara Frey) geht es dann darum, worum es gehen könnte. Natürlich nicht um den Saldo auf dem Bankkonto. Sondern vielleicht um den Saldo, wenn wir Bilanz ziehen über unsere Beziehungen. In dem als schnörkelloses Rededuell inszenierten Stück interviewt die ehrgeizige Journalistin einen reichen Guru, der den Menschen die Aussicht auf inneren Frieden und Freiheit verkauft.

Im Versuch, ihn seiner Lügen und Tricks zu überführen, zeigen sich die Risse im erfolgreich scheinenden Leben der Frau, genauso wie sich Abgründe beim Seelenkäufer öffnen. «Schuld und Schulden hat im Deutschen einen grossen Zusammenhang», sagt der Autor. «Wenn wir arm und reich nur wirtschaftlich definieren, greift das viel zu kurz.» Es gehe ihm natürlich nicht darum, die Folgen der absoluten Armut zu negieren. Oder das Bild von «arm aber glücklich» zu propagieren. Aber die Welt, die das Glück sucht, indem sie nach dem simplen Rezept von Reichtums-Vermehrung kocht, sei zur Umwertung gezwungen. «Kaum jemand glaubt noch daran, dass das permanente Wachstum weitergeht. Unsere Kinder werden ihr Glück anders definieren müssen als mit materiellem Reichtum.»

Der Abend bietet drei unterschiedliche Perspektiven auf das Thema «arm und reich»: einmal der Blick von oben auf die da unten. Einmal der Blick von unten auf die da oben. Und einmal auf Augenhöhe. Es gibt etwas zum Lachen, es gibt etwas zum Ärgern – dann, wenn etwas gar viel Pathos reinrutscht – und es gibt etwas zum Nachdenken. Wer wem was und wie viel schuldet, dafür gibt’s keine automatisch erhältlichen Bilanzen.

Coitus ininterruptus

«Arm und Reich» heisst das thematische Minifestival zum Saisonabschluss des Zürcher Schauspielhauses. Mit der Uraufführung dreier Einakter – von Michail Schischkin, Händl Klaus und Lukas Bärfuss – wurde es eröffnet. Trotz erstklassigen Schauspielern wirkt der Abend vor allem kunstbemüht.

Von Barbara Villiger Heilig

NZZ, 06.05.2013

Auch die Theater reden andauernd von der Krise, und doch scheinen alle immer mehr und noch mehr zu machen. Am Samstag durfte man deshalb nach sechs Stunden im Neumarkt bei Milo Raus ungemein spannenden Zürcher Prozessen (siehe unsere Seite «Zürcher Kultur») in den Schiffbau eilen, wo das Schauspielhaus Zürich sein Minifestival Arm und Reich mit drei Einakter-Uraufführungen eröffnete. Das Thema wird gleich schon vom Dispositiv des Saals umgesetzt: In die Box hat Bettina Meyer für das Publikum drei Galerie-Ränge eingebaut, die mit Weiss, Gold und Rot ans Burgtheater erinnern. Wer allerdings auf den zusammengewürfelten Stühlen und Bänken in der schummrig neonbeleuchteten Eisen- und Holzstruktur Platz nimmt, fühlt sich eher in eine Baracke versetzt. Schein und Sein?

Drei Stücke: Nabokovs Tintenklecks von Michail Schischkin, Rechne von Händl Klaus, Die schwarze Halle von Lukas Bärfuss. Drei Regiehandschriften: Bastian Kraft, Sebastian Nübling, Barbara Frey. Nehmen wir’s vorweg: Trotz einheitlichem Rahmen und pausenlosem Durchspielen entsteht kein Ganzes. Der Abend wirkt artig kunstbemüht, anders gesagt an den Haaren herbeigezogen. Eine Pflichtübung, schauspielerisch gut besetzt sowie apart aufbereitet, aber es fehlt der Schwung, die Dringlichkeit – und der Zauber.

Am ehesten verzaubert noch Schischkin, der freilich statt eines dramatischen Texts eine Erzählung geliefert hat. Sein brotloser Exilrusse, in Zürich verheiratet, chauffiert einen schwerreichen Landsmann durch die Schweiz. Erst begleitet er die Oligarchengattin samt Töchterlein an die Zürcher Bahnhofstrasse, darauf geht’s nach Montreux in Nabokovs Palace-Suite. Dort löst abends der Cognac die ohnehin lockere Zunge des Geschäftsmanns, eines mafiösen Karrieristen, dem Chauffeur übrigens aus ferner Komsomol-Vergangenheit bekannt. Bastian Kraft, gewieft im szenischen Umsetzen von Prosa (wie sein Steppenwolf zeigte), verdoppelt dank Fritz Fenne und Lukas Holzhausen den Erzähler, trickst mit Videokamera, Schattenspiel, Fotoprojektionen wechselnde Atmosphären auf die karge Bühne und entführt uns so in eine Welt aus unlauterem Luxus, wahrer Liebe, verbrecherischem Risiko und grosser Literatur. Bravo.

Es folgt der zähe Mittelteil. Nübling, zum dritten Mal mit Händl Klaus beschäftigt, lässt dessen Milliardärinnen – Anne Ratte-Polle, Isabelle Menke – auf der Nase zweier Banker – Jan Bluthardt, Markus Scheumann – herumtanzen. Letztere führen akrobatische Turnübungen aus, um ans Geld zu gelangen, das in eine Stiftung fliessen soll. Der geile Paartanz ums goldene Kalb verlängert sich mittels Gurgel-Orgien, Krawatten-Tändeleien und handfesten Chiropraktiker-Griffen in einen endlos hinausgezögerten Sexualakt, der die musikalische Struktur des adretten Wortkanons zur Operette aufdonnert, überdehnt und schliesslich zerreisst.

Lukas Bärfuss zielt in Dürrenmattsche Sphären. Er schickt eine investigative Hardcore-Journalistin zu ihrem Objekt, einem berüchtigten Guru, genannt Hot Berry, der den Menschen Hab und Gut abknöpft, indem er ihnen metaphysischen Frieden in Aussicht stellt. Ein Psychosektenführer? Ein Finanzjongleur? Lambert Hamel wirkt wie ein alter Mann, unter dessen entspannter Müdigkeit sich indes auch strategische Tücke verbergen könnte: leise und zurückhaltend zuerst, dann plötzlich scharf und aggressiv. Friederike Wagners Interviewerin überspielt ihre Verkrampftheit zusehends schlechter. Die Dialogpartie mischt halbverdeckte Karten und zückt bald materielle, bald spirituelle Werte. Dieses Oszillieren zwischen unterschiedlichen Ökonomien macht den Reiz des Stücks aus. Dass es eigentlich ein Hörspiel wäre, lassen Barbara Freys sanfte Regie und die Top-Schauspieler vergessen. Dennoch wird man nicht glücklich: zu absehbar die Pointe. Wer sie noch nicht erraten hat, mache die Probe aufs Exempel.

Polittheater auf der Schauspielhaus-Bühne

Arm und Reich heisst das Thema während einem Monat im Schauspielhaus. Gezeigt werden neue Stücke, aber es gibt auch Diskussionen und Vorträge.

Von Ellinor Landmann

SRF, News, 05.05.2013

Für Arm und Reich sind drei neue kurze Stücke der Autoren Lukas Bärfuss, Händl Klaus und Michail Schischkin entstanden – zu sehen an einem Abend in der Box im Schiffbau. Ein Projekt, in dem nicht nur die Sichtweisen dreier renommierter Autoren aufeinandertreffen, die zwar alle in der Schweiz leben, deren Blick auf die hiesige Ungleichheit aufgrund ihrer unterschiedlichen künstlerischen Handschriften und Nationalitäten jedoch ein jeweils anderer ist, sondern in dem sich auch drei Regisseure begegnen.

In Die schwarze Halle (Regie Barbara Frey) konfrontiert eine Wirtschaftsjournalistin einen Sektenführer mit dem Vorwurf der Steuerhinterziehung. In Rechne (Regie Sebastian Nübling) spielen zwei wohlhabende Freundinnen die Möglichkeit durch, ihren Besitz für einen guten Zweck zu stiften – ein so lustvolles wie qualvolles Ritual, das um die Frage nach der individuellen Verantwortung kreist. In Nabokovs Tintenklecks (Regie Bastian Kraft) wird von einem russischen Autor und Dolmetscher erzählt, der in Zürich in prekären Verhältnissen lebt. Die Möglichkeit, seine finanzielle Situation zu verbessern, schickt ihn auf eine Reise nach Montreux, die ihm Fragen nach seiner Moralität und danach, was Armut und Reichtum ausmacht, stellt.