Foto: Evgeniya Frolkova

TARKOWSKIS LEKTIONEN

Aus der autobiografischen Prosa

Ein Schriftsteller sollte eigentlich andere Schriftsteller als seine Lehrer betrachten, aber für meinen Lehrer halte ich einen Filmregisseur – Andrei Tarkowski.

Meinen ersten Film von Tarkowski habe ich 1973 gesehen, als ich dreizehn war. Das war Andrei Rubljow. Wie bekannt wurde der Film 1966 gedreht und wie es damals hieß, „aufs Regal gelegt“, also verboten. Erst nach seinem internationalen Erfolg durften auch die Sowjetmenschen Andrei Rubljow sehen. Ich erinnere mich gut an diesen Kinobesuch mit meiner Mutter im Filmtheater „Ural“ bei uns nicht weit von der Metrostation Schtscholkowskaja in Moskau. Ich weiss noch, wie meine Mutter nach der Filmvorführung mich gefragt hat, ob ich alles verstanden habe. Ich habe mit einem „Ja“ geantwortet. Ich war ergriffen, erschüttert, überwältigt. Selbstverständlich habe ich nur das im Film verstanden, was ein Dreizehnjähriger verstehen konnte. Anders gesagt, ich habe nichts verstanden. Aber wie kann man überhaupt solche Fragen stellen? Auch jetzt – nach 45 Jahren – kann ich diese Frage nicht beantworten. Eine solche Frage kann nur ein Sterbender oder ein gestorbener Mensch mit einem „Ja“ beantworten.

Wichtig war aber dieses Gefühl der Erschütterung, die Verstehen konnte auch später kommen. Ich wurde vom Kontrast der schwarz-weißen Bilder der russischen brutalen Realität mit den bunten Ikonenfarben am Ende das Films ergriffen. Ich habe damals das wichtigste in Tarkowski gefühlt und erst viel später begriffen: Das einzige, was man dieser brutalen erniedrigenden schmutzigen Realität entgegensetzen kann, ist die Schönheit. Wenn es die Schönheit in dieser Welt gibt, dann gibt es auch Gott, weil die Schönheit der einzige Beweis für die göttliche Existenz ist. Das war ein Film über den Künstler, über den Menschen, der die Schönheit in die Welt bringt und mit seinen Farben Gott beweist.

Über zwei Stunden lang wurden uns die schrecklichen Bilder voll von Gewalt, Krieg und Tod gezeigt, aber die Zuschauer verliessen das Kino mit dem hellen Gefühl der Erhabenheit und Glückseligkeit. Das war die erste Lektion für mich, worin die eigentliche Aufgabe des Künstlers besteht. Und es spielt keine Rolle, ob es um einen Filmregisseur oder Schriftsteller geht. Er nimmt das ganze Böse dieser Welt in sich hinein, aber er gibt es nicht weiter. Der Hass, die Gewalt, die Brutalität, der Tod bleiben in seiner Seele – mit den anderen teilt er sein Gefühl für Schönheit, Liebe, menschliche Wärme und seine Unsterblichkeit.

Mit 18, bereits im bewussten Alter, habe ich seinen Film Der Spiegel gesehen und dieser Film hat mich als jungen Autor und auch meine zukünftigen Bücher stark beeinflusst.

Der Künstler befreit sich von den Erzählkonventionen, verwebt die Zeitebenen, Traumbilder, dokumentarisches Material, Kunstwerke in ein Filmgedicht, um die innere Welt sichtbar zu machen.

Als eine technische Kunstart hängt der Film von der technologischen Entwicklung ab und als Folge veralten Filme sehr schnell im Gegensatz zur Musik oder Literatur. Es liegt auf der Hand, dass der Film nach fast fünf Jahrzenten gar nicht so einen tiefen Eindruck auf die jungen Leute von heute ausüben kann. Dazu kommt, dass all die bahnbrechenden filmischen Neuheiten Tarkowskis von den folgenden Generationen der Filmemacher nachgeahmt, einverleibt und verarbeitet worden sind. Den Einfluss von Tarkowski und von Der Spiegel kann man in vielen Werken von seinen gewollten oder ungewollten Nachfolgern und Nachahmern, vor allem im russischen Film, finden. Ich meine zum Beispiel, solche Regisseure wir Sokurow oder Zwjaginzew.

In der Zeit nach Tarkowski veränderte sich der Zuschauer und das hat auch den Film, seine Rezeption und Wahrnehmung verändert. Das, was uns damals in seinem Film verwirrte, verblüffte, was als Neuentdeckungen in der Darstellungsweise mich und meine Generation beeindruckte, kann heutzutage kaum die Zuschauer in Verlegenheit bringen. Heute scheint Tarkowskis assoziative Erzählweise, seine poetische Sprache klar und deutlich zu sein.

Doch es geht um viel wichtigere Lektionen Tarkowskis, die er mir in seinen Filmen erteilt hat. Und diese Lektionen werden für jede kommende Generation der Künstler immer aktuell sein, egal ob sie ihre Welten der Realität im Film, in der Literatur oder in der Musik entgegensetzen.

Ein Student der amerikanischen Filmschule fragte einmal den Regisseur: „Nun habe ich mein Studium abgeschlossen, ich kann technisch alles im Film machen. Aber wie kann ich zum Künstler werden?“ Tarkowski antwortete: „Du musst an Gott glauben“. Obwohl nun im Westen Wörter wie Gott, Glaube, Religion nicht mehr „salonfähig“ sind, kann man das Schaffen Tarkowskis ohne seinen Glauben überhaupt nicht verstehen. Seine Filme sind Meditationen. Wer die gewöhnliche Unterhaltung in seinen Filmen sucht, der findet sie nicht, denn seine Filme sind Gebete. Geistliche Werke insbesondere von Johann Sebastian Bach nehmen auch im Film Der Spiegel eine zentrale Stellung ein.  Ohne Glauben hätte es unsterbliche Musik von Bach nicht gegeben. Ohne Glauben hätte es keine Filme von Andrei Tarkowski gegeben.

Ihm wurde vorgeworfen, seine Sprache sei unverständlich, „unzugänglich“ und zu anspruchsvoll für die Zuschauer. In seinem Buch Die versiegelte Zeit antwortete er auf diese Vorwürfe: «Ich kann mir nicht vorstellen, wie man seine Idee verwirklichen kann, wenn das Ziel gesetzt ist, auf einer „zugänglichen“ Sprache zu sprechen. Ich weiß nicht, was eine zugängliche Sprache ist. Die einzige Möglichkeit ist ehrlich und aufrichtig zu sprechen“. Der Künstler kann keine Kompromisse eingehen und kann nur das machen, was für sein Werk gemacht werden muss und nicht das, was die Obrigkeit oder der Markt von einem erwartet. Über den Spiegel hat er geschrieben: „In diesem Film hatte ich mich zum ersten Mal dazu entschlossen, unmittelbar und vorbehaltlos von dem zu sprechen, was für mich das Wichtigste und Wertvollste – das Intimste ist.“ Der Film fängt mit den eindrücklichen Dokumentarbildern an, der junge Stotterer beginnt klar zu reden. In der Welt, wo alle stottern, kann und muss der Künstler klar reden.

Tarkowski hat keine Kompromisse gemacht. Und fast alle seine Filme wurden in der Sowjetunion verboten. Die sowjetische Filmbehörde Goskino kritisierte den Film Der Spiegel wegen seiner mangelnden „Allgemeinverständlichkeit“. Der Film wurde 1974 gedreht, jedoch sofort verboten. Es war auch verboten, den Spiegel zu Internationalen Filmfestivals zu schicken, wo er erwartet wurde. So wurde eine Aufführung im Rahmen der Internationalen Filmfestspiele von Cannes, wo Tarkowskis zwei vorangegangene Werke (Andrei Rubljow und Solaris) Auszeichnungen erhalten hatten, von der sowjetischen Filmbehörde nicht ermöglicht. Erst nach fünf Jahren wurde der Film in drei Randkinos in Moskau gezeigt. Ich war bei einer dieser halbgeschlossenen Filmvorführungen im Filmtheater „Gorizont“ in der Nähe der Metrostation Frunsenkaja. Wie bekannt, ist der Dichter in Russland mehr als ein Dichter. Tarkowski war und bleibt für mich mehr als ein Filmregisseur.

Der Spiegel verlangt vom Zuschauer ein hohes Maß an Konzentration und mehr noch, der Regisseur verlangt das Mitwirken. Den Film zu drehen reicht nicht. Um sich zu verwirklichen, braucht das Kunstwerk die schöpferische Kraft des Zuschauers. Noch als Student, lange bevor er seine Meisterwerke gedreht hat, schrieb Tarkowski: „Jede Idee, die dem Zuschauer indirekt, durch Bilder dargeboten wird und die vom Zuschauer richtig verstanden wird, ist dem Zuschauer viel näher und teurer, denn dazu beteiligte sich der Zuschauer am Schöpfungsakt“. Tarkowski zeigt, wie man in der Kunst die allgemeingültigen Gesetze zu brechen und eigene Gesetze zu kreieren muss. Und ohne Teilnahme des Zuschauers ist es nicht möglich. Der Künstler verändert die Gesetze der Wahrnehmung. Die anspruchsvolle Sprache von Tarkowski im Film Der Spiegel irritierte vor 50 Jahren das Publikum, wurde nun jedoch zur „Lingua franсa“ der heutigen Film-Ökumene.

Worum geht es im Film Der Spiegel? Die Handlung ist ganz einfach. Ein Mensch stirbt und erinnert sich vor dem Tod an das Wichtigste in seinem Leben: seine Kindheit, seine Mutter, sein Vater, seine Frau, sein Kind. Das sind die Augenblicke, in denen im Angesicht des Todes das Leben vorbeizieht. Der sterbende Mensch vor dem Tod – das ist jeder vor uns, jetzt und immer, denn wir alle stehen vor dem Tod. Dieser Film handelt von jedem von uns.

Die echte Kunst kann jeden von uns, die wir alle so verschieden sind, in einer Person für einige Augenblicke vereinen und unsterblich machen. Das macht Tarkowski in seinem Film. Die Frauen unseres Lebens, die Mutter, die uns geboren hatte, und die Frau, die unserem Kind das Leben schenkte, werden zu einer Frau. Der Vater und der Sohn werden zu einem Mann. Das Vergängliche schafft Abgründe zwischen uns, das Echte, das Unsterbliche schenkt uns das Vermögen des Nachfühlens und der Empathie, schafft die Trennwände zwischen Menschen weg. In diesem Film werden die Mutter und die Ehefrau des Erzählers Alexei von einer Schauspielerin dargestellt. Und die Stimme des Dichters Arseni Tarkowski, des Vaters von Andrei, wird zur eigentlichen Autorenstimme des Films. Der Vater und der Sohn finden sich und vereinen sich im Schöpfungsakt des Films. In einem Gedicht von Arseni Tarkowski heißt es im Film; „Alle sind unsterblich, alles ist unsterblich . . ., das Zukünftige geschieht schon jetzt“.

Eine weitere wichtige Lektion Tarkowskis für mich war: Der Künstler kann sich nur als ein kleiner Teil der gesamten menschlichen Kultur empfinden, deshalb wirken die Dokumentarbilder als natürlicher Teil des Kunstwerks, deshalb gehören zu seinem Film Werke Leonardo da Vincis und eine der Winterlandschaften Pieter Brueghels des Älteren wie die Textzitate aus Dante Alighieri, Fjodor Dostojewski oder Alexander Puschkin oder die Musik von Giovanni Battista Pergolesi und Henry Purcell. Der Film ist die Arche Noah, welche sich über der Zeitlichkeit erhebt und neben der gesamten unsterblichen menschlichen Kultur auch für zwei Stunden den Zuschauer mit sich nimmt.

Die Zeit trennt und vernichtet, die Kunst vereint und gibt den Sinn, die Einsicht, dass alles unzertrennbar ist, dass verschiedene Finger einer Hand gehören, dass jedes Lebewesen sowie jeder Gegenstand auf der Welt wichtige Lebensorgane eines Körpers bilden, dass Bäume, Menschen und Steine aus Gott bestehen, dass die winterliche Landschaft am Schießplatz aus der Kriegskindheit des Regisseurs im Film die gleiche Winterlandschaft aus dem Gemälde von Pieter Brueghel ist.

Die Realität, der Zeitgeist wird behutsam für die Ewigkeit und für die zukünftigen Zuschauer, also für uns, aufbewahrt. Der sowjetische Zeitgeist der Stalin-Ära war die große Angst. Es mag bizarr klingen, aber man müsste über die dankbare Wirkung der Zensur auf die künstlerische Darstellung der Epoche des Terrors sprechen. In den 1960er und 1970er Jahren war es unmöglich offen über den Gulag und Verhaftungen zu sprechen. Das veranlasste große Künstler – wie Tarkowski – nach den Möglichkeiten zu suchen, durch Bilder alles auszudrucken, was offen nicht sagbar war. Nach der Perestrojka wurden Dutzende Filme gedreht, die sich mit den Themen der Angst und Repression in der Stalin-Zeit auseinandergesetzt haben, aber in keinem wurden Schrecken und Entsetzen jenes Alltagslebens ausdrücklicher gezeigt, wie im Film von Tarkowski. Man kann die Bilder nicht vergessen, wie die Mutter, die in einer Druckerei arbeitet, wegen eines eingebildeten Korrekturfehlers in Panik gerät und durch regennasse Straßen und die unheimlichen Korridore der Druckerei rennt, um den Fehler noch rechtzeitig ausfindig zu machen, der gar nicht existiert.

Aber die Kunst kann mehr, als nur die Zeit versiegeln.

Nur der Künstler hat die Fähigkeit, die Kraft und das Privileg, das Vergängliche zum Unvergänglichen zu machen, die Kriegsdokumentarbildern über den Marsch sowjetischer Soldaten durch den Siwasch-See zu biblischen, kosmischen Bildern emporzuheben. Und wenn sich Soldaten, in den Aufnahmen der Kriegswochenschau, durch Sümpfe schleppen, als liefen sie bis ans Ende aller Tage, werden sie zur Metapher für den Übergang des erwählten Volkes über das Meer. Die Soldaten im Film, von denen bereits niemand am Leben geblieben ist, schauen in das Objektiv der Kamera und überqueren nicht den Siwasch-See, sondern den Fluss der Zeit, die Lethe.

Den Titel Der Spiegel kann man lange deuten. Das Wort bekam in der Kulturgeschichte der Menschheit unendlich viele Bedeutungen und jede erwacht im Film zum Leben. Das ist unter anderem der magische Spiegel aus den Märchen, der nur die Wahrheit sagt, der Spiegel, dem Zauberkräfte innewohnen, der Spiegel der Kunst. Der betrunkene Snout aus Solaris sagt, die Menschheit brauche keinen Kosmos, sie brauche lediglich den Spiegel von sich. „Der Mensch braucht einen Menschen“.

Auf Andrei Tarkowskis Grab in Paris steht geschrieben: „Der Mann, der den Engel gesehen hat“.

 

Der Text wurde für “Das Tarkowski-Projekt” geschrieben (eine Ausstellung von der Stiftung Arina Kowner, Zürich, 2018).

 

Kurzer Lebenslauf

Michail Schischkin (Mikhail Shishkin, Mikhail Chichkine) wurde 1961 in Moskau geboren. Er arbeitete als Lehrer, Journalist und Übersetzer. Seit 1995 lebt er in der Schweiz.
Michail Schischkin wird international als einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller der Gegenwart gefeiert. Als bisher einziger Autor wurde er in Russland mit den drei wichtigsten Literaturpreisen ausgezeichnet. Seine Bücher wurden in 35 Sprachen übersetzt. Seit Jahren gehört der Autor zu den scharfen Kritikern des Regime Putins. Schischkins Essays wurden in grossen Zeitungen im deutschen Sprachraum publiziert sowie in den wichtigsten internationalen Medien wie New York Times, WSJ, The Guardian, Le Mond etc.
Michail Schischkin ist Mitglied des Schweizerischen Schriftstellerverbandes Autorinnen und Autoren der Schweiz, des Deutschschweizer PEN-Zentrums, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Mitgründer des PEN Berlin.

Auszeichnungen (Auswahl)

1994 Bestes Debüt des Jahres in Russland für Urok kalligrafii (Die Kalligraphiestunde).

2000 Russischer Booker-Preis für den besten Roman des Jahres für Wsjatije Ismaila (Die Eroberung von Ismail).

2000 Werkbeitrag-Stipendium des Kantons Zürich für Die Russische Schweiz.

2002 Werkjahr der Stadt Zürich für Montreux-Missolunghi-Astapowo. Auf den Spuren von Byron und Tolstoi.

2005 Preis für das beste ausländische Buch des Jahres in Frankreich: Montreux-Missolunghi-Astapowo. Auf den Spuren von Byron und Tolstoi.

2005 Nationaler Bestseller-Preis in Russland für Wenerin Wolos (Venushaar).

2006 Bolschaja-Kniga-Preis in Russland für Wenerin Wolos (Venushaar).

2007 Grinzane Cavour Prize, Capelvenere (Ital. Übersetzung Venushaar)

2011 Spycher Literaturpreis, Leuk, Schweiz, für Venushaar

2011 Internationaler Literaturpreis – Haus der Kulturen der Welt für Venushaar.

2011 Bolschaja-Kniga-Preis in Russland für Pismownik (Briefsteller).

2022 Premio Strega Europeo in Italien für Pismownik (Punto di fuga).