Publizistik. Essays und Interviews
Foto: Philipp Schmidli
Публицистика на русском
Essays and interviews in English
Michail Schischkin über Alexej Nawalny und die russische Opposition
Kulturzeit, 3Sat, 22.10.2024
Interview mit Michail Schischkin
NZZ, 3.08.2024
Krokodile mit der Freiheitsfahne
FAZ, 17.05.2024
Warum braucht Russlands Politik immer einen Krieg, Herr Schischkin?
Ein Podcast von Juan Moreno, SPIEGEL Kultur, 24.04.2024
Michail Schischkin: “Warum wir, Russen, töten hier?”
Ein Film von Swissinfo, 7.03.2024
„Wir werden Zeugen des Zusammenbruchs des letzten Imperiums“
“Tagesspiegel”, 24.02.2024
“Die Republik”, 17.02.2024
“Süddeutsche Zeitung”, 12.11.2023
“Merkur”, Nr.889, Juni 2023
Die Mächtigen entscheiden, was wahr ist
NZZ, 19.06.2023
“Friedenszeitung”, Nr.44, März, 2023
Podiumsdiskussion: Putins Krieg – Der russische Überfall und seine Folgen
In Weimar diskutieren: Dr. Wolfgang Schäuble, ZDF-Reporterin Katrin Eigendorf, “Memorial”-Mitbegründerin Prof. Dr. Irina Scherbakowa, die ukrainisch-deutsche Publizistin Marina Weisband und Michail Schischkin.
MDR+ 27.02.2023
Putin und der totale Krieg – Goebbels Sportpalastrede reloaded
Ein Gespräch mit Michail Schischkin
3SAT, “Kulturzeit”, 20.02.2023
FAZ, 11.01.2023
Michail Schischkin im Jahreswechsel-Gespräch
Von Zita Affentranger. “Tages-Anzeiger”, 03.01.2023
Wie viele sind wir? Zur Situation der russischen Opposition.
Diskussion auf der Frankfurter Buchmesse, 20.10.2022
Sein Leben war ein grandioses Missverständnis
NZZ, 03.09.2022
“Reformiert”, 28.07.22
Schuld und Sühne der Russischen Literatur
FAZ, 03.07.2022
“Die russische Armee kämpft nur ums Überleben”
Michail Schischkin im Interview von Daniel Spliethoff.
NTV, 11.05.2022
NZZ, 11.05.2022
WOZ, 5.05.2022
“Es wimmelt zurzeit in Genf und Bern von russischen Agenten”
Interview mit Michail Schischkin von Jonas Roth, Erich Aschwanden.
NZZ, 30.04.2022
Juri Andruchowitsch und Michail Schischkin: Schriftsteller zusammen gegen den putinschen Krieg
Südwestrundfunk. SWR4 im Gespräch. 18.04.2019
Michail Schischkin in der Sendung “Musik für einen Gast”
SRF 2 Kultur, “Musik für einen Gast”, 17.04.2022
Michail Schischkin über Russlands Krieg gegen die Ukraine
SRF, “Tagesgespräch”, 13.04.2022
Die russische Armee war und bleibt eine Schule der Sklaven
NZZ, 26.03.2022
Kultur-Talk: Was bewirkt ein Boykott russischer Kultur?
Ein Gespräch mit Ilma Rakusa und Michail Schischkin
Radio SRF 2 Kultur, “Kultur-Talk”, 23.03.2022
PEN Ukraine-Panel “Nein zu Putins Krieg – Was kann Literatur leisten?”
PEN Ukraine-Panel im Rahmen der Leipziger Buchmesse Pop-Up mit: Marjana Gaponenko (Ukraine), Michail Schischkin (Russland), Volha Hapeyeva (Belarus), Karl Schlögel. Moderation: Cornelia Zetzsche
Lepziger Buchmesse, 21.03.2022
Gredig direkt zum Ukraine-Krieg
SRF, “Gredig direkt”, 10.03.2022
“Liebe Schweiz! Die Epoche der Neutralität ist vorbei”
Friedensdemo in Zürich gegen den Krieg in der Ukraine am 05.03.2022
Die Rede von Michail Schischkin
Putins Krieg – Und was macht die Schweiz?
Michail Schischkin in der “Arena” zum Ukraine-Krieg. SRF 25.02.2022
“Die WM ist nicht dazu da, Putin die Stiefel zu lecken”
Interview mit Michail Schischkin von Florian Raz
“Tages-Anzeiger”, 7.06.2018
Fussball-WM in Russland. Boykottaufruf aus der Schweiz
SRF, News, 23.05.2018
NZZ, 11.11.2017
NZZ, 03.07.2017
NZZ, 27.01.2017
Warum wir am Ende doch verloren haben
NZZ, 09.05.2015
“Cicero”, 17.11.2014
“Der Tagesspiegel”, 25.09.2014
NZZ, 26.05.2014
Michail Schischkin über Europa
Am 8. und 9. Mai 2014 diskutierten in Berlin Schriftsteller und Politiker aus 25 Ländern über ihre Europa-Vorstellungen. Tina Mendelsohn hat den Schriftsteller Michail Schischkin interviewt.
ZDF, “Kulturzeit”, 19.05.2014
Ein Gespräch zwischen Frank-Walter Steinmeier Michail Schischkin und Mely Kiyak.
Von Ijoma Mangold. „Die Zeit“, 30.04.2014
SRF, “Rundschau”, 26.02.2014
Michail Schischkin: “Sotschi ist eine Schande für das ganze Land”
SRF, Kultur, 04.02.2014
Russischer Autor: “Putin wird den Kreml nicht lebendig verlassen”
Interview mit Michail Schischkin von Dimitri Hofer. BZ, 30.12.2013
Der russisch-siamesische Zwilling
“Du. Kulturmagazin”, Nr.838, Juli, 2013
Der Schriftsteller Michail Schischkin im Interview: “Eine kriminelle Bande hat die Macht usurpiert”
Von Manfred Flügge. “Der Tagesspiegel”, 26.06.2013
“Als russischer Autor darf man nicht schweigen”
Das Gespräch mit Michail Schischkin führt Martha Schmid. “Frankfurter Rundschau”, 03.04.2013
“Merkur”, Nr.752, Januar, 2012
Das Imperium der Sprache: ein russisches Puzzle
“Passagen – Passages: Pro Helvetia Kulturmagazin” 36, 2004
NZZ, 01.06.2002
NZZ, 16.06.2001
NZZ, 13./14.02.1999
Lenins Fr. 12.90 lagern bei der ZKB
NZZ, 28.11.1997
Interview für das deutsche Fernsehen am 21.08.1991
Aus dem Film von Gerd Ruge “Panzer in Moskau”
Die Schillerrede 2024 von Michail Schischkin
DIE FEDER IN DER WELTENUHR
Versuch über den russischen Schiller
«Das Zeitalter ist aufgeklärt […] – woran liegt es, dass wir noch immer Barbaren sind?»
Aus dem 8. Brief «Über die ästhetische Erziehung des Menschen», Friedrich Schiller, 1795
Schiller wurde am 10. November 1898 in Mariental geboren. Seine entfernten Vorfahren kamen aus der Pfalz an die Wolga. Franz Schiller war Literaturprofessor am Institut der Weltliteratur in Moskau. Der große deutsche Dichter war sein Lieblingsschriftsteller. Franz kannte alle Werke seines berühmten Namensvetters in der Originalsprache auswendig.
1933 veröffentlichte Franz Schiller seine Forschung «Der schöpferische Weg Friedrich Schillers in Verbindung mit seiner Ästhetik». In der 2. Hälfte der 1930er Jahre wurde in Moskau eine Sammlung der Werke Friedrich Schillers unter der Redaktion von Franz Schiller herausgegeben. Der Professor schrieb auch Einführungsartikel zu einzelnen Bänden dieser Ausgabe und zu einer Reihe von Büchern des großen Klassikers.
Das Ziel seines Lebens war, ein großes biografisches Buch über das Leben und Schaffen von Friedrich Schiller zu schreiben.
Im Herbst 1935 heiratete der Professor eine 15 Jahre jüngere Studentin. Im Juli 1936 bekamen sie eine Tochter, Flora. Am 23. Oktober 1938 wurde Franz Schiller in der Nacht verhaftet. Seine Frau und das Kind hat er nie mehr gesehen.
Schillers Frau war zum Zeitpunkt der Verhaftung ihres Mannes erst 25 Jahre alt. Sie wurde über Nacht mit einer zweijährigen Tochter im Arm ohne ihre wichtigste Stütze im Leben zurückgelassen. In ihrer Verzweiflung schrieb die «Frau eines Volksfeindes» Briefe an Stalin: «Ihnen, dem großen Menschen, dem Genie, erzähle ich in trockenen Worten, die aus dem Herzen geschnitten sind, die Tragödie meiner Familie.»
In den Unterlagen zum Spionage-Fall Nr. 20198 wurde Professor Schiller beschuldigt, an einer Verschwörung der Wolgadeutschen teilgenommen zu haben, da er in seinen Vorlesungen über deutsche Literatur und über Friedrich Schiller die Liebe zur deutschen Kultur und somit zu Nazideutschland propagiert habe.
Trotz Folter hat er nichts gestanden. Während gegen Schiller ermittelt wurde, wurde Jeschow, der oberste Henker des Landes, selbst verhaftet, ebenso wie diejenigen, die den Literaturprofessor gezwungen hatten, sich selbst das Urteil zu unterzeichnen. Es gab weder Beweise für die Verschwörung noch ein Geständnis des Angeklagten, Schiller hatte also Glück, dass er nur die Mindeststrafe erhielt. Am 15. August 1939 beschloss der Sonderrat des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten der UdSSR: «Schiller F.P. wird wegen Beteiligung an einer konterrevolutionären Organisation für FÜNF Jahre in einem Arbeitslager inhaftiert.»
Der Professor wurde nach Kolyma geschickt, wo er in den Minen arbeitete und an derselben Krankheit erkrankte, an der sein Idol starb und an der er selbst sterben würde.
Erst 1948 wurde er als Invalide befreit, durfte aber nicht nach Moskau zurück. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte der Professor in einem Behindertenheim in Krasnojarka bei Omsk. Unter unvorstellbaren Bedingungen arbeitete er dort am Buch seines Lebens, der Schiller-Biografie: Hunger, ständiger Lärm, betrunkene Skandale in einer überfüllten Station, schummriges Licht von einer Petroleumlampe. Heimbewohner und Personal hetzten ihn, weil er ein Deutscher war.
Die Briefe, die er bis zu seinem Tod 1955 von Sibirien nach Moskau schrieb, wurden veröffentlicht. Er schreibt, dass Friedrich Schiller auch in den schwierigsten Jahren immer bei ihm war und ihm half, alle Nöte und Prüfungen zu überstehen.
Schillers Buch über Schiller erschien erst nach dem Tod des Autors.
Schiller über Schiller:
«Freiheitsliebe, Vaterlandsliebe, Humanismus und unerschütterlicher Glaube an die unvermeidliche Ankunft der lichten Zukunft der Menschheit, wie sie in den Gedichten und Dramen Schillers zum Ausdruck kommen, haben immer ein Echo in den Herzen der fortschrittlichen Menschen aller Nationen gefunden. Das freiheitsliebende Pathos seines Werkes ist verständlich und nah an den Massen, die die sozialistische Revolution gemacht haben.»
Es stellt sich die Frage: Hat das freiheitsliebende Pathos Friedrich Schillers dazu beigetragen, den Gulag aufzubauen oder den Gulag zu überleben?
«Freude trinken alle Wesen
An den Brüsten der Natur,
Alle Guten, alle Bösen
Folgen ihrer Rosenspur.»
Seine erste Gedichtsammlung hat Friedrich Schiller 1782 in Sibirien veröffentlicht. Auf dem Umschlag steht es: «Gedruckt in der Druckerei zu Tobolsk». Die Erwähnung der fernen Stadt sollte offensichtlich Württemberg ironisch mit dem wilden Sibirien vergleichen oder das Gefühl des Dichters vermitteln, von seinem schwäbischen Vorgesetzten ins Exil geschickt worden zu sein. Dabei gab es in der Stadt Tobolsk damals überhaupt keine Druckerei. Aber das konnte sich der Dichter vielleicht gut vorstellen. Was er sich definitiv nicht vorstellen konnte, war, dass sein Name innerhalb kurzer Zeit zum Freiheitssymbol für das gesamte lesende Russland werden würde.
Jedenfalls erobert das russische Herz nicht der Autor des «Liedes von der Glocke», sondern Schiller, der Rebell und Freiheitskämpfer. Vor allem das Stück «Die Räuber» hinterließ tiefe Spuren in den Köpfen mehrerer Generationen russischer Leser und Zuschauer.
Dostojewski schreibt im «Tagebuch eines Schriftstellers»: «Im barbarischen Russland ist derselbe Schiller viel nationaler und viel heimatlicher für die russischen Barbaren als damals – in Frankreich, und auch später, in unserem Jahrhundert, in dem Schiller, ein französischer Staatsbürger und «Freund der Menschheit», in Frankreich nur den Literaturprofessoren bekannt war, und nicht einmal allen, und auch denen nur wenig. Aber in unserem Land wurde er […] in die russische Seele aufgenommen, er hinterließ ein Stigma in ihr, er markierte fast eine Periode in der Geschichte unserer Entwicklung».
Tschernyschewski, einer der führenden Revolutionsvordenker: «Schillers Poesie scheint uns gleichsam angeboren. […] Ein Gefühl gerechter Dankbarkeit veranlasst uns zu der Erkenntnis, dass unsere Gesellschaft diesem Deutschen mehr zu verdanken hat als jedem unserer Lyriker außer Puschkin.»
Alexander Herzen, der mit seiner Zeitschrift «Die Glocke» Russland zur Revolution gerufen hatte, nannte in seinen Memoiren «Gedachtes und Erlebtes» seine Studienjahre, in denen er nach hohen Idealen gesucht hatte, die «Schillerzeit».
Herzens Glocke und Schillers Glocke sind krasse Homonyme, gleichnamige Wörter, sie klingen gleich, haben aber völlig unterschiedliche Bedeutungen. Der Schiller des «Liedes von der Glocke» und der Schiller der russischen Jugend, die das Land leidenschaftlich auf die Revolution vorbereitete und die in seinem Schaffen nur das Pathos des Dienstes an der hohen Idee der Befreiung sah – das sind zwei verschiedene Schillers, so weit voneinander entfernt, dass sie nicht einmal Namensvettern sind.
Für seine Glocke nahm Herzen als Epigraph nur die ersten Worte, die auf Schillers Glocke standen: «Vivos voco!» («die Lebenden rufe ich ») «Mortuos plango» und «Fulgura frango» («die Toten beklage ich, die Blitze breche ich») passten nicht ins Konzept. Schillers Glocke sollte mit ihrem Geläut Stürme, Orkane und Gewitter abwehren. Herzens Glocke hingegen rief den Sturm herbei.
«Das Lied von der Glocke» wurde zwar ins Russische übersetzt, wirkte jedoch auf die Leser eher peinlich. Ein «russischer» Schiller konnte solche Worte nicht schreiben: «Wenn sich die Völker selbst befrein, / Da kann die Wohlfahrt nicht gedeihn.»
Diese Kurzenzyklopädie des philisterhaften «deutschen» Lebens konnte ihre Leser unter der «fortgeschrittenen» russischen Intelligenz nicht finden. Der Bestandteil des deutschen Bildungskanons blieb sowohl vor der Revolution als auch in der Sowjetunion so gut wie unbekannt.
Schillers Inszenierungen im russischen Reich vor der Revolution wurden zu einem Akt des Widerstands gegen den Zarismus. Zum Beispiel während der Aufführung von «Wilhelm Tell» in Kiew im Revolutionsherbst 1905. Nach der Bemerkung des Freiheitskämpfers Fürst: «Das Werk ist angefangen!» – rief das Publikum: „Das stimmt!“ Dann sagte Fürst: «Nicht vollendet.» Das Publikum antwortete: «Es wird ein Ende geben!» Die Aufführung endete mit einer Protestkundgebung.
In den ersten Jahren nach der Revolution 1917 wurde Schiller in dieser Lesart weiter aufgeführt, um die „Befreiung“ von der Zarendiktatur zu feiern. Im sowjetischem Bürgerkriegsepos – der Romantrilogie «Der Leidensweg» – erzählt Alexej Tolstoi, wie Soldaten der Roten Armee in einer Kampfpause Schillers „Räuber“ inszenierten. Doch im Laufe der Zeit verwandelte sich die Sowjetrepublik in eine neue Diktatur, schlimmer als die zaristische, und Schillers „Tyrannenkampf“-Stücke verschwanden aus dem Repertoire.
Moskauer Deutsche schenkten Marbach eine Glocke zu Schillers 100. Geburtstags-Jubiläum. Sie sollte die Heimatstadt des Dichters vor historischem Unwetter schützen.
Keine Glocken vermochten Moskau zu schützen. Die missbrauchten Werke Schillers haben geholfen, den Gulag aufzubauen, und Schillers Werke haben geholfen, den Gulag zu überleben.
«Duldet mutig, Millionen!
Duldet für die bessre Welt!
Droben überm Sternenzelt
Wird ein großer Gott belohnen.»
Die Frage der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft war für Schiller eindeutig gelöst. Er hat aus der Erfahrung der Französischen Revolution gesehen, was aus den wunderbarsten Ideen wird, wenn Menschen sich aufmachen, sie zu verwirklichen.
Der französische Konvent beschloss am 26. August 1792, herausragenden ausländischen Persönlichkeiten, die für die Freiheit kämpften, darunter auch Wissenschaftlern und Künstlern, die Staatsbürgerschaft der Republik zu verleihen. Die dem Konvent zur Genehmigung vorgelegte Liste enthielt unter anderen die Namen Kosciuszko, Washington, Pestalozzi. Nach der Bekanntgabe der Liste meldete sich ein Mitglied des Konvents zu Wort und erklärte, dass die Liste unvollständig sei, da sie «Le sieur Gille, Publiciste allemand» nicht enthalte, der sich durch seine Werke die Ehre erworben habe, Bürger der Republik, «Citoyen français», zu werden. Der Vorschlag wurde angenommen, und Schiller wurde ein Diplom ausgestellt, das ihm die Ehrenbürgerschaft der Französischen Republik verlieh. Diese von Danton unterzeichnete Urkunde wurde zusammen mit einem Übermittlungsschreiben des Innenministers Rolland an «den deutschen Publizisten Schill» gesandt.
Die beiden berühmten revolutionären Persönlichkeiten, die Schillers Diplom unterzeichneten, wurden bald als «Feinde der Revolution» verurteilt. Bereits nach einigen Monaten musste Rolland aus Paris flüchten. Als er am 10. November 1793 von der Hinrichtung seiner Frau erfuhr, die in Paris geblieben war, tötete er sich mit seinem Stockdegen. Der Konvent stimmte einstimmig dafür, Danton als einen royalistischen Verschwörer anzuklagen. Er wurde am 5. April 1794 guillotiniert, und als er mit einem Karren am Haus von Robespierre zur Richtstätte vorbeifuhr, rief er seine vielleicht berühmtesten Worte aus: «Robespierre, tu me suis! Ta maison sera rasée! On y sèmera du sel!» «Robespierre, du wirst mir folgen! Dein Haus wird dem Erdboden gleichgemacht! Man wird dort Salz säen!» Und in der Tat folgte ihm Robespierre wenige Wochen später.
«Unser Schuldbuch sei vernichtet!
Ausgesöhnt die ganze Welt!
Brüder – überm Sternenzelt
Richtet Gott, wie wir gerichtet.»
Als die Nachricht vom bevorstehenden Prozess gegen Ludwig XVI. bekannt wurde, beschloss Schiller, nach Paris zu gehen, um als Anwalt des Königs zu fungieren. Er begann zu seiner Verteidigung eine Broschüre zu schreiben, hatte jedoch keine Zeit, diese zu beenden: Der König wurde hingerichtet. Dieser Mord stieß ihn derart ab, dass er keine französischen Zeitungen mehr las: «So ekeln diese elenden Schindersknechte mich an.»
Der große Tyrannenkämpfer, der den Tyrannen vor dem Gericht der Revolution schützen wollte, passte in keiner Weise in das russische Weltbild.
Das sind vielleicht die berühmtesten Worte Dostojewskis: „Wenn mir jemand bewiesen hätte, dass Christus außerhalb der Wahrheit steht, und wenn die Wahrheit tatsächlich außerhalb Christi stünde, so würde ich es vorziehen, bei Christus und nicht bei der Wahrheit zu bleiben.“ Um den Schriftsteller zu paraphrasieren, können wir sagen, dass sich das russische Bewusstsein bei der Wahl zwischen der Wahrheit über Schiller und dem Mythos von Schiller dafür entschieden hat, beim Mythos von Schiller, dem Tyrannenkämpfer, zu bleiben.
Nicht nur in Russland wurden Schillers Name und seine Worte missbraucht. Jeder schuf Friedrich Schiller «nach seinem Bilde». Auch in Deutschland nach seinem Tod. Hat er doch wie im Auftrag des Goebbels-Ministeriums geschrieben: «Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an!» Der Dichter wollte ja die Idee eines Nationalstaates fördern! Der Große deutsche Nationaldichter sei mit uns!
«Laufet Brüder eure Bahn,
Freudig wie ein Held zum Siegen.»
Goebbels nannte Schiller den «Dichter der deutschen Revolution» und den «bewundernswerten Gestalter deutscher Kraft». Im Heft der Zeitschrift «Theater» für das Jahr 1938 lesen wir: «Adolf Hitler hat Schillers Wunschbild zur Wirklichkeit werden lassen.» Der tote Dichter wurde eifrig von der nationaldeutschen Schilleristik vereinnahmt.
Es gab Dutzende von Attentatsversuchen auf Hitler. Der Widerstand gegen den Tyrannen berief sich logischerweise auch auf Schiller. Endlich verbannte Hitler durch einen persönlichen Befehl den «Schweizer Heckenschützen Tell» von den großdeutschen Bühnen. Über Nacht wurde der Nationalheld zum Nationalfeind. Wie unerforschlich sind die Wege der Schilleristik!
Es versteht sich von selbst, dass das Drama «Wilhelm Tell» nie in Stalins Russland auf der Theaterbühne aufgeführt wurde, um keine unnötigen Assoziationen zu wecken.
Leidenschaftliche Weltverbesserer, die zum Kampf um große Worte aufgerufen haben, sind diesen Worten immer wieder zum Opfer gefallen. Die Miranda-Warning der Geschichte lautet: «Anything you say can and will be used against you.»
Wer überzeugt ist, die einzige Wahrheit zu kennen, wird einer anderen solchen einzigen Wahrheit erliegen. Wer für Freiheit kämpft, dem werden andere Freiheitskämpfer die Freiheit nehmen. Wer Patriotismus predigt, wird von einem Patrioten umgebracht.
Wurden große Worte erfunden, um missbraucht zu werden? Liberté, Égalité, Fraternité, Volk, Vaterland, Patriotismus, Revolution, Freiheit, Gott, Nächstenliebe?
Ideen werden zu Hyänen und treiben mit Entsetzen Scherz.
Die Namen von Christus und der Gottesmutter wurden zu Kampfrufen auf vielen Schlachtfeldern der Menschheitsgeschichte. Der Völkermord der Konquistadoren und Kolonisten an amerikanischen Ureinwohnern, diese „christliche Nächstenliebe“ mit Schwert und Kugel, ist allgemein bekannt. Weniger bekannt ist der Völkermord der orthodoxen „Konquistadoren“ in Sibirien an der einheimischen Bevölkerung. Die wahre, ungeschönte Geschichte der Kolonisierung Sibiriens durch den russischen Staat wartet immer noch darauf, geschrieben zu werden. Die «Nächstenliebe» der Christen kostete unzählige Leben sowohl in Europa als auch in der ganzen Welt. Das Gespenst des Kommunismus hat noch mehr Menschen weltweit umgebracht. Die Ideen des Nationalstaates und des Patriotismus brachten unzählige Kriege hervor, und der sinnlose Kampf um Territorien geht auch im 21. Jahrhundert ununterbrochen weiter. Allein im vergangenen Jahrhundert wurden mehr Menschen in Kriegen und Revolutionen getötet, als in ganz Europa zur Zeit der Niederschrift der «Ode an die Freude» lebten.
«Seid umschlungen, Millionen!
Diesen Kuss der ganzen Welt!»
Eine Vorlage für einen Hollywood-Horrorblockbuster, wie Ideen Menschen infizieren und zu Bestien machen, hat bereits Ionesco mit seinen «Nashörnern» geschrieben. Das Menschengeschlecht lebt schon seit Generationen in diesem Albtraum, die Ideen mögen jedes Mal anders heißen, aber das hohe Ziel ist das gleiche – die Menschheit zu befreien, das Vaterland gegen Feinde zu verteidigen, für das Gute gegen das Böse zu kämpfen. Es scheint, dass meine Landsleute für diese Nashorn-Krankheit besonders anfällig sind.
Wenn man über Jahrhunderte hinweg Zar und Vaterland gedient hat, so gehört einem der eigene Körper kaum, im Tausch dafür hat man ein Gefühl von Seelenfülle erhalten, die Gewissheit, ein rechtschaffenes und gottgefälliges Leben zu führen. Das, was Besuchern aus dem Westen in Russland als Despotie und Sklaverei erschien, empfand man in Russland als selbstlose Beteiligung an einem gemeinsamen Kampf, in dem der Zar Vater und General ist, und alle anderen sind seine Kinder und Soldaten. Das fehlende Privatleben wurde von der Süße kompensiert, für das Vaterland und für den einzig gerechten Glauben zu sterben. Die räumliche und zeitliche Ausdehnung des Heiligen Russlands galt als Vorhof für das Seelenheil. Die allgemeine, kaum ins Bewusstsein vorgedrungene Knechtschaft war für den Körper zwar bitter, für den Geist aber lebensspendend. Der Zar weiss es besser, warum wir töten und sterben müssen, und es wurde viel getötet und gestorben, doch im Bewusstsein des Volkes kam kein Funke Zweifel an der Heiligkeit der obersten Gebote auf.
Doch auch die Kindheit einer Nation, die gegen die ganze «ungläubige» Welt kämpft, geht einmal zu Ende. Die Deutschen auf dem russischen Thron riefen die Freiheit aus, zunächst für den Adel (Peter III., geboren als Karl Peter Ulrich von Schleswig-Holstein-Gottorf, verkündete am 18. Februar 1762 das Manifest über die Befreiung des Adels vom obligatorischen Staatsdienst), ein Jahrhundert der Aufklärung später auch für die Allgemeinheit (Aufhebung der Leibeigenschaft 1861). Die Erprobung einer geschenkten, nicht erkämpften Freiheit begann. Der russische Mensch erhielt das Recht auf ein Privatleben, das er nie zuvor kennen gelernt hatte.
Der dienstgewohnten Seele wurde eine neue Frage auferlegt – wofür leben? Die ganz offensichtliche Antwort: Für sich, für die Kinder, für tägliche kleine Verrichtungen, die getan werden müssen, ohne über hohe Ideale nachzudenken, ist für Russen ganz und gar nicht offensichtlich. Über die Seiten der russischen Romane irrten, gejagt vom kyrillischen Alphabet, die sogenannten „überflüssigen Menschen“ hinweg.
Das Privatleben – die Grundlage der westlichen Zivilisation schlechthin – wurde in Russland in Zweifel gezogen. Sich davon die Seele erfüllen zu lassen, erwies sich als ungehörig. Das genetische Gedächtnis verlangte nach gleichwertigem Ersatz für den Dienst an Zaren, Gott und Vaterland. Das Leben als solches, ohne hohe Ideale, „in einem Häuschen mit Storch auf dem Dach“, das Dostojewski zum russischen Symbol der westlichen Seelenlosigkeit gemacht hatte, wurde im vaterländischen Bewusstsein zum Inbegriff des Spießbürgertums.
Das neue hehre Ziel begann sehr schnell am Horizont aufzuscheinen. Den Jahrhunderte währenden heiligen messianischen Kampf, den das orthodoxe Russland gegen seine Feinde führte, gegen einen noch heiligeren und noch messianischeren Kampf einzutauschen: den Kampf für die Befreiung des Volkes und der ganzen Menschheit. Die nach Idealen dürstende russische Seele bekam wieder ein hohes Ziel, eine so wichtige Bestimmung, dass man für sie sein Leben opfern konnte – die Revolution.
Große Worte in Schillers Stücken fielen in Russland wie Samen auf gut gedüngten Boden und brachten letztlich eine reiche blutige Ernte.
Hohe Ideen folgen aufeinander – die Natur verabscheut die Leere. Natura abhorret vacuum.
Für Tolstoi war Pascal einer der wichtigsten Autoren; er zitiert ihn in seinem „Lesekreis“ ständig. Über das Ausmaß der Leere in der menschlichen Seele hat Blaise Pascal geschrieben, dass dieses Vakuum «gottförmig» sei. So groß ist dieses kosmische Loch in jedem von uns, dass es mit nichts außer mit Gott selbst zu füllen sei. Aber was ist, wenn Pascals Gott nur eine weitere schöne große Idee ist?
Nicht die Freude, Tochter aus Elysium, ist die Feder der menschlichen Weltenuhr, sondern der Sog dieses grandiosen Vakuums.
In der irdischen Natur gibt es keine Ideen. Wie außerirdische Kreaturen in Science-Fiction-Movies tauchen sie aus Pascals kosmischer Leere auf und dringen in die menschlichen Seelen ein. Große Ideen leben in Menschen und vermehren sich durch die schönsten Worte, aber sie ernähren sich von Hass, Blut und Tod. Bei der Umsetzung verlieren die wunderbarsten Ideen ihre verhüllenden Worte, und es stellt sich heraus, dass der Kampf um Ideale zu einem Kampf um Macht oder Reichtum wird. Ich fürchte, dass es in Russland keine einzige Idee mehr gibt, nicht einmal die schönste, die nicht verleumdet, missbraucht oder vergewaltigt wurde.
Die Idee jeder Diktatur ist die Unveränderlichkeit der vom Diktator geschaffenen Welt. Das Leben soll stillstehen, keine Veränderungen sollen die regierende Macht stören, geschweige denn bedrohen. Die Machthabenden brauchen keine Idealisten und Umstürzler, sondern hörige Sklaven.
Die Macht schützt sich vor großen Umwälzungsideen und von leidenschaftlichen „Weltverbessern“ so gut sie kann. Der Überlebensinstinkt der bestehenden Ordnung setzt in diesem Kampf alle zur Verfügung stehenden Mittel ein, vor allem Erziehungsinstitute, die Schule. Dort werden jungen Leuten gesellschaftliche Werte und Verhaltensmuster eingeimpft. Besonders wichtig ist der Literaturunterricht. Wenn Freigeister in Büchern leben, muss alles getan werden, um bei Kindern Langeweile und Ekel vor der Literatur hervorzurufen. Vielleicht gilt das nicht nur für die russische Schule, und glücklicherweise gibt es immer Ausnahmen – Thomas Mann schrieb 1924: «Ich kann z.B. nicht sagen, dass Schiller, wie jedermann klagt, mir auf der Schule „verekelt“ worden wäre».
Das Wesen der schulischen Erziehung in meinem Land (und ich fürchte, nicht nur in Russland) ist das Einimpfen von Banalität, Zynismus, Konformismus. Die Schule ertränkt hohe Ideale in der reinen jugendlichen Seele wie Kätzchen, solange sie noch klein sind. Die einzige «große» Idee, die in der russischen Schule zugelassen ist: Man muss das Vaterland und den Zaren lieben und bereit sein, sein Leben für die Mutter-Heimat (lies: das bestehende Regime) zu geben.
Wer kennt die Antwort auf die Frage der Fragen, was Gut und was Böse ist? Was macht eigentlich einen guten Lehrer in einer Diktatur (vielleicht auch nicht nur in einer Diktatur) aus? An sich sollte ein «guter» Lehrer diejenigen Eigenschaften in den Kindern wachrufen, die ihr Weiterkommen im Leben befördern. Er wird sie nicht lehren, gegen den Strom zu schwimmen, wenn doch ganz andere Kenntnisse gefragt sind, Straßenverkehrsregeln in einem ganz konkreten Leben. Wer auf die Gegenfahrbahn gerät, hat einen Unfall zu gewärtigen. Er sollte schleunigst wenden und sich in den Strom der Fahrzeuge einreihen. Willst du etwas in diesem Leben erreichen, ordentlich verdienen, eine Familie versorgen, Kinder haben – so nur mit dem Strom, ohne sich und seine Nächsten für hohe Ideale zu opfern.
Ein «schlechter» Lehrer hingegen wird die Kinder nach gefährlichen Regeln unterrichten: Da ist die Bewahrung der menschlichen Würde oberstes Gebot. Da wird die Literatur mit dem Streben nach hohen Idealen zu Hilfe eilen. Das führt allerdings bestenfalls an den Rand der Gesellschaft, schlimmstenfalls ins Gefängnis oder zum Selbstmord. Im heutigen Russland sind die Gefängnisse wieder gefüllt mit politischen Häftlingen. Unbeugsame Freiheitskämpfer, wie Alexei Navalny, die bereit sind, für ihre Ideale zu sterben, werden ermordet.
Seit mehr als 100 Jahren wird «Wilhelm Tell» auf russischen Theaterbühnen überhaupt nicht aufgeführt. Andere Stücke – «Kabale und Liebe», «Don Carlos», «Die Verschwörung des Fiesco zu Genua» – wurden ab und zu inszeniert, aber nicht «Wilhelm Tell». Auch früher wurde das vielleicht berühmteste Werk Schillers in stark gekürzter Form inszeniert, vor allem der fünfte Aufzug, der wichtigste für das Verständnis der Werkproblematik, wurde von «untauglichem» Material gesäubert.
Damit befindet sich Schiller übrigens in guter Gesellschaft. Unzählige Verfilmungen und Theaterinszenierungen von «Anna Karenina» enden mit dem Tod der Heldin am Bahnhof im Rauch des Dampfzugs. Dabei entfaltet sich die Handlung des Romans über weitere 19 Kapitel, denn Tolstoi erzählt uns dort das Wichtigste. Anna versuchte, ihr Seelenloch mit einer alles verzehrenden Leidenschaft zu füllen, was zu ihrer Selbstzerstörung und der Tragödie ihrer Angehörigen führte. Tolstoi bestraft sie brutal, indem er sie hinrichtet, ja vierteilt, und lässt den eigentlichen Protagonisten des Romans, Konstantin Levin, die «gottförmige» Leere mit der einzig passenden Form ausfüllen, nämlich Tolstois eigener Religion.
Die Weisheit eines Künstlers drückt sich in der Fähigkeit zur Veränderung aus. Schiller-Tyrannenkämpfer der «Räuber» und Schiller-Tyrannenkämpfer des «Wilhelm Tell» haben wenig miteinander zu tun. Der erste kennt die Tyrannei eines rebellierenden Volkes gegen das Individuum noch nicht, der zweite will die Menschheit der Zukunft davor warnen.
Durch das russische Prisma gesehen, handelt «Wilhelm Tell» von der durchgreifenden Obsession der Revolutionäre: dem Zarenmord. Es wurde übersehen, dass sich Schillers Stück mit den Grundlagen eines Rechtsstaats auseinandersetzt.
Die Botschaft des reifen Schiller, sein Testament im letzten veröffentlichten Werk, lautet: Das Volk hat ein Recht auf Verteidigung gegen Tyrannen von außen und auf sozialen Frieden im Innern.
«Die Tyrannei» in Schillers «Wilhelm Tell» wird zum Synonym der «Fremdherrschaft». Napoleons Besatzung war die Hebamme nationaler Gefühle unter den Schweizern, Deutschen und anderen Völkern Europas. Das eigentliche Thema des Stücks ist jedoch nicht der Kampf gegen die Fremdherrschaft, sondern der Versuch zu verstehen, wie, nach welchen Prinzipien die Gesellschaft selbst, befreit von der Tyrannei der Eroberer, strukturiert sein soll.
Auch in einem Rechtsstaat wird es immer Leute geben, die mit bestimmten Gesetzen unzufrieden sind. Sie streiken, protestieren, versuchen durch die Wahlen die Gesetzgeber und damit die «schlechten» Gesetze zu ändern. Aber solange ein «schlechtes Gesetz» ein gültiges Gesetz bleibt, gilt es, dem Gesetz zu folgen. So funktioniert es.
Der Hut des Gesetzgebers und -vollstreckers ist im Drama „Wilhelm Tell“ ein Symbol für Ordnung, Konvention, Regeln, die uns zwar unangenehm sein mögen, doch dem alltäglichen Leben zugrunde liegen und ein Privatleben und ein normales Funktionieren einer Gesellschaft überhaupt erst möglich machen. Wir erweisen diesem Hut zum Beispiel durch Steuerzahlen unsere Reverenz. Der Held des Stücks verstösst gegen das Gesetz, aber offenbar ganz unabsichtlich, er wird sich seiner Verfehlung erst bewusst, als ihn der Vogt Gessler darauf aufmerksam macht.
Tell zu Gessler:
«Verzeiht mir, lieber Herr! Aus Unbedacht,
Nicht aus Verachtung Eurer ist’s geschehn,
Wär ich besonnen, hieß ich nicht der Tell,
Ich bitt um Gnad, es soll nicht mehr begegnen.»
Der Schweizer Nationalheld rechtfertigt sich damit, dass sein Name auf Schwyzerdütsch «Einfältiger, Tor» bedeutet. Er ist bereit, für seine, wenn auch unbewusste Gesetzverletzung die Strafe auf sich zu nehmen, das heisst, freiwillig für die Erhaltung der Ordnung die Bestrafung anzunehmen. Seine Bereitschaft, auf den eigenen Sohn zu schiessen, ist sein freier Entscheid für die Konvention, die Bereitschaft, existierende Regeln zu respektieren. Aus dem unsicheren und gefährlichen Raum des versehentlichen Vertragsbruchs möchte er über den Weg der Busse wieder in den Rahmen des Gesetzes zurückkehren. Freiheit wird hier verstanden als ein bewusstes Sich-Fügen oder Einfügen in Regeln. In diesem Sinn ist Tell, der gehorsam den Befehl ausführt, auf sein eigenes Kind zu schießen, wahrlich ein Freiheitsheld.
Das Thema des Vaters, der die Hand gegen seinen Sohn erhebt, kommt in der Weltkultur bereits vor: Abraham und Isaak. Doch dort ist es Gottes Wort, das den Vater führt, hier ist es das eines Beamten.
Die Kehrseite der Medaille, dieser Unterordnung unter die Ordnung, bedeutet ein Gefangensein, was Dürrenmatt zu seiner tiefgründigen Metapher der Schweiz als Gefängnis bewog. «Jeder Gefangene beweist, indem er sein eigener Wärter ist, seine Freiheit», das ist wohl eine der zutreffendsten Definitionen von Demokratie, die nur als Resultat von Selbstbeschränkung und Selbstkontrolle existieren kann. Eine von innen befolgte und nicht von außen aufoktroyierte Kontrolle.
Der verbohrte und arrogante Befehl Gesslers, Tell solle auf das eigene Kind schießen, wäre vielleicht der geeignetste Moment, sich gegen die herrschende Ordnung aufzulehnen. (An dieser Stelle würde jeder von uns, der Kinder hat, sich widersetzen, wie gesetzeshörig er oder sie auch sein mag.) Aber Tells Ziel ist es gerade, die Regeln aufrechtzuerhalten. Den Machthabenden den Gehorsam zu verweigern, das Gesetz zu brechen, das ist eine Grenze, die der Held Schillers nicht übertreten kann. Gott ist auf seiner Seite, der Pfeil durchbohrt den Apfel, die Richtigkeit seiner die Gesetze befolgenden Lebenseinstellung ist erwiesen. Er hat seine Schuld gesühnt und ist innerhalb des Rahmens der bestehenden Regeln geblieben.
Es ist Gessler, der mit der Konvention bricht. Er hält sein Wort nicht und gibt Befehl, den regeltreuen Schweizer erneut gefangen zu nehmen. Der Vogt, dessen Wort Gesetz ist, bricht sein eigenes Gesetz. Das Verbrechen gegen die Ordnung begeht ein ausländischer Tyrann, dafür soll er bestraft werden. Der Mord an Gessler bedeutet die Befreiung von der fremden Herrschaft und Wiederherstellung der Regeln und der Ordnung. Aus Schillers Sicht ist das also ein gerechter Mord. Dabei bleibt das Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein moralisches Verbrechen. Tell ist sich dessen bewusst und schwört, seine Waffe nicht mehr zu benutzen. Für Schiller ist der ideale Held also Tell ohne seine Armbrust, die zum eigentlichen Tell-Symbol wurde.
Die für das Verständnis des Stücks wichtigste Szene aus dem 5. Aufzug blieb dem russischen Zuschauer verborgen. Ein anderer Tyrannenmörder, der bei seinem «Kollegen» Zuflucht sucht und auf sein Verständnis hofft, wird von Tell entschieden verurteilt und abgewiesen, weil er aus Machtgier ein Vergehen gegen den sozialen Frieden, gegen die bestehende Weltordnung begangen hat.
Schiller hat «Wilhelm Tell» nicht als einen Aufruf zu einem bewaffneten Aufstand gegen die soziale Ordnung geschrieben, sondern als Initiationsmythos der kommenden Menschheit der Vernunft. Nachdem das Volksbewusstsein die Kindheit der Urgewalten durchgemacht hat, betritt es nun das Erwachsenenalter, den Abschnitt eines reiferen Verständnisses der Notwendigkeit von Konventionen, der freiwilligen Unterwerfung unter zwar vielleicht unangenehme, aber doch existentielle Regeln und Gesetze. Der Mythos feiert die freiwillige Unterwerfung unter die Konvention und die Bestrafung ihrer Verneinung.
Das Pathos der Tyrannenbekämpfung richtet sich auf die Befreiung von ausländischen Eroberern. Der soziale Friede innerhalb einer Gesellschaft hingegen soll nach Schiller ausschliesslich auf friedliche Weise verwirklicht werden, und dies ist nur auf einem hohen moralischen und ethischen Entwicklungsniveau ihrer Mitglieder möglich. Schiller entwirft Bilder von solchen idealen Bürgern, die erkennen, dass nur die Freiheit aller und die Achtung des Gesetzes die Grundlage für ein menschenwürdiges Dasein bilden. Nach der Schreckensherrschaft der sozialen Revolution beschwört er wieder dieselben Werte: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, sieht jedoch ein, dass er diese gesellschaftlichen Ideale nur auf der Bühne verwirklichen kann. Das Stück endet mit Schillers „Befreiung“ der Menschheit:
«Rudenz: Und frei erklär ich alle meine Knechte.
Indem die Musik von neuem rasch einfällt, fällt der Vorhang.»
So wird mit dem Federstrich eines Dichters der soziale Frieden auf Erden geschaffen. Das ist aber die falsche Feder für die Weltenuhr und es gibt keinen Vorhang, der fallen könnte.
«Deine Zauber binden wieder,
Was der Mode Schwert getheilt;
Bettler werden Fürstenbrüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.»
Schon im «Wallenstеin» bringt Schiller diesen Gedanken deutlich zum Ausdruck: Alle hehren Ideen enden in schmutzigen Machtspielen, bei denen der Gewinn von heute nicht den Sieg von morgen garantiert. Der Künstler sieht voraus, wie die glorreichen Siege des großen Napoleon, der den Völkern Europas Freiheit bringen wollte, enden werden. Die Napoleonischen Kriege brachten Hunderttausenden den Tod – wofür? Damit Historiker die Ergebnisse von Schlachten zählen können – wie viele wurden getötet, wie viele verwundet, wie viele Kanonen wurden erbeutet? Jetzt, zwei Jahrhunderte später, erwies sich die einzige Bedeutung vom blutigen Austerlitz als die berühmte Szene in Tolstois Roman, in der der verwundete Prinz Andrei den kleinen Napoleon und den riesigen Himmel sieht.
Das Rätsel der menschlichen Natur: Warum kommt das Böse von Menschen, die Gutes tun wollen?
In dem Stück aus der russischen Geschichte «Demetrius», an dem Schiller vor seinem Tod arbeitete und das er nicht vollenden konnte, enthüllt er die Mechanismen, wie der Glaube eines Menschen an seine Auserwähltheit, der Welt Gutes zu bringen, von den Mächten des Bösen genutzt wird.
Helden der menschlichen Geschichte können glauben, dass sie für das Gerechte kämpfen, aber sie werden immer am Eigennutz, an Selbstsucht, Habgier, Intrigen, Neid, Ehrgeiz, Machtgerangel scheitern.
Demetrius denkt, dass er der rechtmäßige Erbe des russischen Throns ist, der Sohn von Iwan dem Schrecklichen, Zarewitsch Dmitri, der auf Geheiß vom Usurpator Boris Godunow ermordet werden sollte, aber auf wundersame Weise gerettet wurde.
Demetrius wird vom Glauben an die Wahrheit seiner Rechte am russischen Thron durchdrungen und ist fest davon überzeugt, dass er auserwählt ist, sein Land vom Tyrannen zu befreien.
«Demetrius. Die schöne Freiheit, die ich [hier gefunden]
Will ich verpflanzen [in mein Vaterland]
Ich will aus Sklaven [freie] Menschen machen,
Ich will nicht herrschen über Sklavenseelen.»
Ein Mustertext für alle russischen Regimegegner, die Unterstützung im Westen suchen.
In seinem letzten Werk wollte Schiller uns, seinen Lesern, auch nach zwei Jahrhunderten vermitteln, dass die Gewissheit, im Besitz der Wahrheit zu sein, immer Selbstbetrug ist. Diejenigen, die glauben, in «höherem Auftrag» grosse Taten zu tun, werden immer von denjenigen missbraucht, die in eigener Sache handeln.
Der Kampf von Demetrius gegen den russischen Zaren wird nur durch die Unterstützung der Kräfte möglich, für die dieser Feldzug kein Befreiungskrieg ist, sondern ein Raubüberfall. Demetrius wird zur Geisel der Szlachta, des polnischen Landadels, der gegen Moskau zieht, um seine Gier zu befriedigen.
Schillers Demetrius zieht in seinen «heiligen» Krieg, um das Gesetz wiederherzustellen und sein Heimatland vom Despoten zu befreien.
Die verwirrte Bevölkerung weiß nicht, welchem Zaren sie gehorchen soll, die Smuta oder Zeit der Wirren beginnt. Schiller lässt Boris Godunow Gift nehmen, so wird Demetrius’ Weg zum Zarenthron für die Theaterhandlung beschleunigt. Der Dramatiker bereitet seinem Helden eine Katastrophe von der anderen Seite vor: Ein Zeuge des Todes von Zarewitsch Dmitri erscheint.
Vom legitimen Thronfolger «in höherem Auftrag» wird nun Demetrius zum Betrüger, der sich als der ermordete Zarewitsch ausgibt. Sein Selbsterhaltungstrieb sagt ihm, was zu tun ist. Er lässt den Zeugen seiner «Nicht-Auserwähltheit» töten und wird somit zu einem gemeinen Mörder «in eigener Sache». Demetrius und sein polnisches Heer besetzen Moskau, aber er selbst ist nun ein unrechtmäßiger Usurpator und sein Ziel ist die Machterhaltung um jeden Preis.
Der Glaube an die eigene Auserwähltheit und an den Besitz der Wahrheit ist immer Selbsttäuschung.
Die polnischen «Befreier» beginnen mit Plünderungen und Raubüberfällen in der russischen Hauptstadt. Demetrius, der ihre Marionette ist, konnte während seines Feldzugs nicht auf sie verzichten, und er kann sie nicht loswerden, nachdem er Zar geworden ist.
Ein Tyrann und Mörder auf dem Thron wurde durch einen noch größeren Tyrannen und Mörder ersetzt, umgeben von tobenden, plündernden Ausländern. Die “Befreiung” vom Tyrannen brachte der Bevölkerung noch größeres Unheil.
Ich frage mich, ob Schiller das russische Sprichwort kannte: «Man kann einem schlechten Zaren nicht den Tod wünschen.» Die Zeitgenossen hassten Nikolaus II. als «Würger der Freiheit», «grausamen Henker», aber zu Stalins Zeiten erinnerte man sich an das zaristische Russland als ein verlorenes Paradies.
Nun, im 21. Jahrhundert, hat die russische Geschichte eine weitere Runde hinter sich und ist wieder an demselben Punkt angelangt. Wieder haben wir einen Usurpator und Kindermörder auf dem Thron, wieder muss die gebeutelte Bevölkerung der Macht huldigen und schweigen. Diese Überlebensstrategie hat Puschkin in seinem historischen Drama «Boris Godunow» (der russische Dichter bearbeitete den gleichen historischen Stoff wie Schiller) in der letzten Zeile präzise formuliert: „Das Volk schweigt“. Die Diktatur will erneut die Zeit anhalten und wehrt sich gegen die Zukunft mit einer erprobten Waffe: mit einem Krieg. In Putins Russland lief jahraus, jahrein Brainwashing nach dem bewährten Rezept: Man nehme große Worte und erschaffe Feinde. Der Überfall auf die Ukraine wurde auch mit dem Verweis auf das «Volk» und die «Heimat» geheiligt. „Wir schützen unsere russische geistige Zivilisation gegen westliche Kriegstreiber, die uns hassen und vernichten wollen, wir retten die Zukunft unserer Kultur und unserer Kinder, wir retten Puschkin, wir müssen unsere Freiheit verteidigen“.
Wieder werden Ideen zu Hyänen und treiben mit Entsetzen Scherz.
Die Macht ruft die Bevölkerung auf, Opfer zu bringen. Die Kinder der Machthabenden gehen dabei nicht an die Front.
Die Opposition stellte sich mit friedlichen Protesten gegen das Regime. Das Resultat: Jetzt gibt es keine Opposition mehr im Land. Verhaftet, ermordet, vertrieben, zum Schweigen gebracht.
Die Gewalt des Regimes wird unausweichlich zur Entstehung einer anderen, radikalen Opposition führen, die bereit ist, zu den Waffen zu greifen. Das Land steht am Rande einer neuen russischen Smuta, der neuen Zeit der Wirre.
Nach vierhundert Jahren steht Russland von gleichen ungelösten Problemen. Wie kämpft man gegen den Usurpator? Was ist in diesem Kampf erlaubt und was nicht?
Schiller scheint die Antwort zu kennen und legt sie dem polnischen König in den Mund:
«König. Die besten Waffen wird dir Russland geben,
Dein bester Schirm ist deines Volkes Herz.
Russland wird nur durch Russland überwunden.»
Jahrhunderte vergehen, aber Russland wird durch niemanden überwunden, auch nicht durch sich selbst.
Ich sehe Franz Schiller, über sein Manuskript gekrümmt, im Schummerlicht einer Petroleumlampe sitzen. Ich frage mich, welches Buch über Friedrich Schiller Franz Schiller heute schreiben würde, und überlege, wie ich meine Schillerrede 2024 beenden soll.
Vielleicht mit den letzten Worten seiner Ode an die Freude?
«Eine heitre Abschiedsstunde!
Süßen Schlaf im Leichentuch!
Brüder – einen sanften Spruch
Aus des Todtenrichters Munde!»
Und gerade wurden in den Nachrichten Bilder aus der Ukraine gezeigt. Eine russische Rakete schlug nachts in ein Treibstofflager ein. Der Treibstoff ergoss sich wie ein brennender Fluss durch eine nahe gelegene Straße mit Holzhäusern. Eine Familie wurde bei lebendigem Leib verbrannt. Zwei junge Eltern und ihre drei Kinder. Buben im Alter von 7 und 4 Jahren und ein Mädchen, ein zehn Monate alter Säugling. Der Vater und der älteste Sohn wurden im Flur gefunden, die Frau und zwei weitere Kinder im Badezimmer. Die Mutter wiegte die Kinder in ihren Armen.
Friedrich Schiller konnte nicht ahnen, dass zwei Jahrhunderte nach seinem Tod ein brutaler Krieg in Europa toben wird.
Friedrich Schiller konnte aber auch nicht ahnen, dass zwei Jahrhunderte nach seinem Tod seine „Ode an die Freude” zur Hymne des vereinten Europas werden würde.
Ja, die besten Ideen der Menschheit werden immer missbraucht und vergewaltigt, aber keine Diktatur, kein Regime, kein Terror könnte den Grundgedanken von Freiheit und Menschenwürde eliminieren, endgültig austilgen, begraben. Diese Ideen werden mit jeder Generation neu auferstehen und zum Kampf für Freiheit und Menschenwürde aufrufen.
Die Feder in der Weltenuhr ist unser Bedürfnis und unser Wille, in Würde zu leben.
Von uns, Europäern des 21. Jahrhundes, hängt ab, ob wir diesen Kampf für Freiheit und Menschenwürde gewinnen werden und ob Schillers heiteres Gedicht, das uns vereint, auch weiter die Zukunft Europas bestimmen wird.
Michail Schischkin über Alexej Nawalny und die russische Opposition
Mit seinen Büchern entlarvt er Putins Propaganda. Wir haben mit dem russischen Schriftsteller Michail Schischkin über Alexej Nawalny und die russische Opposition im Exil gesprochen.
Interview mit Michail Schischkin
Herr Schischkin, Sie sind 1995 in die Schweiz gekommen. Was waren Ihre Eindrücke von diesem Land?
Bei meinem ersten Besuch habe ich das Land wie eine Postkarten-Schweiz erlebt. Hier zu leben, schien mir ein Horror zu sein. Als Autor brauche ich russische Geschichten, russische Spannung. Worüber soll ich in der Schweiz schreiben? Dass ein Tram Verspätung hat? Ich dachte, es ist absolut unmöglich, hier zu leben.
Sie waren wegen Ihrer damaligen Frau in die Schweiz gezogen.
Genau. Ich hatte meine Frau in Moskau kennengelernt. Sie hatte in Zürich Slawistik studiert und wollte mich ins Deutsche übersetzen. So kamen wir zusammen; später haben wir dann in Moskau geheiratet. Irgendwann wurde Franziska schwanger, und sie hatte genug von der russischen Exotik: kein Geld, keine Grossmutter, keine normale Infrastruktur. Also sind wir im Herbst 1995 in die Schweiz gekommen, und kurz darauf kam unser Sohn Konstantin auf die Welt.
Wie fühlten Sie sich dann?
Wie auf einem anderen Planeten. Ich hatte keine Ahnung, wie ich hier Geld verdienen sollte. Wenn du zu Hause bist, siehst du alle unsichtbaren Drähte, die die Welt zusammenhalten. Du weisst, diesen Draht musst du ziehen, und den anderen darfst du auf keinen Fall berühren. Aber wenn man auf einem anderen Planeten ist, sieht man diese Drähte nicht. Man macht einen Fauxpas nach dem anderen. Vor allem drehte sich alles ums Geld.
Womit haben Sie es verdient?
Ich habe angefangen, Russisch zu unterrichten. Aber natürlich gab es mehr russische Lehrer als Schüler in diesem Land. Ich war absolut verzweifelt. Wir lebten in Seuzach, und ich habe den Tag damit verbracht, einen Job zu finden. Einmal fuhr ich von Zürich zurück nach Seuzach und dachte mir: Seit einem halben Jahr versuche ich erfolglos, eine feste Stelle zu finden, ich gebe mein Bestes, aber es nützt nichts – also muss mir ein russischer Gott helfen, und zwar sofort.
Und hat er geholfen?
Mir gegenüber sass ein Herr mit einer Zeitung, die er liegenliess, als er aus dem Zug ausstieg. Ich schlug sie auf und sah gleich das Inserat einer Firma aus Meggen, die Menschen mit Fremdsprachenkenntnissen suchte. Ich habe mich beworben und den Job sofort bekommen und zwei Jahre dort gearbeitet.
Wie war das?
Ich wollte immer, mein ganzes Leben lang, anders sein. In der Schweiz aber wollte ich am Anfang wie alle anderen sein: Ich wollte einen Job haben, und sei es der langweiligste Job der Welt, ich wollte am Abend todmüde in der S-Bahn sitzen. Und so war ich zwei Jahre lang wie alle anderen. Das hat mir dann gereicht. Ich habe also angefangen, an meinem Roman zu arbeiten. Irgendwann haben mich die Kollegen im Büro verpfiffen, weil ich mich immer wieder in der Toilette eingeschlossen und auf meinem Notebook geschrieben habe. Sozusagen gleichzeitig erschien meine erste Publikation in der Schweiz und bei der NZZ – es ging um Lenin und ein Konto, das dieser in der Schweiz eröffnet hatte. Das wiederum führte dazu, dass mich mein Boss zu sich zitierte und fragte: Sind Sie Schischkin, der Schriftsteller? Ich bejahte und wurde sofort entlassen.
Wieso?
Wer braucht einen Schriftsteller, der auf der Toilette etwas schreibt?
Wie ging es weiter?
Ich habe mich selbständig gemacht als Dolmetscher und unter anderem mein Geld im Bundesamt für Flüchtlinge verdient. Ich war oft in Kreuzlingen, um die Interviews von Flüchtlingen zu übersetzen. Für mich war gleich klar: Darüber muss ich schreiben. Ich habe mich immer mit einem Soldaten der Literatur verglichen. Ein Soldat muss einen Eid abgeben: Ich bin bereit, mein Leben zu geben. Dafür bekomme ich Stiefel, Essen, eine Übernachtungsmöglichkeit, Munition – ich muss an nichts denken. Ich habe mir also gesagt, dass ich das, was ich mache, ernst nehme. Und irgendwie war ich mir sicher, dass ich auch in der Schweiz, wo nichts passiert, meine Geschichten finden würde. Als Dolmetscher im Asylbereich war ich im Mittelpunkt der russischen Spannung. Schreckliche russische Geschichten kamen zu mir. Wäre ich in Russland gewesen, hätte ich damit nichts zu tun haben wollen. Russland ist voll von diesen Geschichten, da will man nur noch das Fenster zumachen. So kam «Das Venushaar» zustande, mein zweiter in der Schweiz geschriebener Roman.
Wie hat die Behörde auf Ihren Roman reagiert?
Ich habe nach der Veröffentlichung nie mehr einen Auftrag bekommen. Niemand will einen Schriftsteller als Dolmetscher. Ein Dolmetscher muss unsichtbar sein – ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Seit dieser Zeit bin ich nur noch freiberuflicher Schriftsteller. Mal ging es, weil ich grosse Preise bekam. Mal ging es nicht, und ich musste Sozialhilfe beantragen.
Wie hat sich das angefühlt?
Das war sehr erniedrigend. Zumindest in meinen Augen bin ich ein grosser Schriftsteller. Was ich mache, ist wichtig für die Literatur. Für die Frau auf dem Sozialamt war ich hingegen ein Typ, der nicht arbeiten und einfach Sozialgeld beziehen will. Ich musste Dutzende Bewerbungen schreiben. Schliesslich war ich froh, als ich wieder meine Einnahmen durch die Bücher hatte.
Am Anfang hatten Sie die Postkartenschweiz gesehen. Wie sehen Sie das Land heute?
Als ich in die Schweiz kam, war mir klar, dass dies eine russische kulturelle Wüste ist. In der Wüste kann man nicht leben. Ich musste diese Wüste für mich kolonisieren. Ich habe gelesen, was die Russen hier gemacht haben. Was war mit Bunin, mit Gogol, mit Rachmaninow? So bin ich auf die Idee gekommen, das Buch «Die russische Schweiz» zu schreiben. Das hat mir geholfen, dieses Land für mich lebendig zu machen. Ich habe festgestellt, dass das Land voll von russischer Kultur ist. Ich habe die Schweiz für mich kolonisiert.
Ironischerweise scheinen Sie in der Schweiz aber vor allem russischen Stoff gefunden zu haben.
Ich bin auf die Geschichten der Flüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion gestossen. Ein Schriftsteller ist jemand, der alles um sich herum frisst. Was ist um ihn herum? Leute, vor allem die Familie, Eltern, Kinder, Geschichte, Vergangenheit. Ich glaube auch, dass ein Schriftsteller weggehen muss. Ich habe das immer mit einem Haus ohne Spiegel verglichen. Wer in einem Haus ohne Spiegel lebt, kann nicht verstehen, wer er ist. Deshalb muss man weg.
Wie hat sich das in Ihrer Literatur gezeigt? Sind Sie ein anderer Schriftsteller geworden?
Total. Ich hätte in Russland andere Texte geschrieben. Die Schweiz war für mich sehr wichtig. Der Bruch mit der lebendigen russischen Sprache hat mir geholfen, meine Sprache zu finden. Ich vergleiche die lebendige Sprache immer mit einem Zug, sie verändert sich so schnell. Als Schriftsteller musst du im Zug sein, egal ob du dich als Lokführer fühlst oder ob du Wodka im Speisewagen trinkst oder schwarzfährst. Ich stieg in einer kleinen Station aus, und der Zug fuhr weiter. Sollte ich dem Zug hinterherrennen? Das ging nicht.
Was haben Sie dann gemacht?
Es ist schön, mit der lebendigen Sprache zu arbeiten, aber morgen ist die Sprache, die heute so cool klingt, schon veraltet, verdorrt und faul. Deshalb muss ein Schriftsteller seine eigene Sprache erfinden, eine Sprache, die immer frisch sein wird, auch nach seinem Tod. Dass ich in der Schweiz war und aus dem Zug aussteigen musste, hat mir geholfen, schneller auf diesen Gedanken zu kommen. Ich habe hier meine Sprache erfunden.
Wie hat sich Ihr Bild von Russland verändert – jenseits von der Sprache?
Eigentlich überhaupt nicht. Sie werden über das Land, in dem Sie aufgewachsen und in die Schule gegangen sind, nie etwas Neues erfahren. Ich habe von Russland nie ein neues Bild bekommen. Für mich war schon in den 1990er Jahren alles klar. 1991 gab es nach dem gescheiterten Putsch eine Euphorie, ich hatte so viel Hoffnung, dass Russland nun anders sein und zurück zur Zivilisation und zur Weltkultur finden würde. Was passierte? Die Russen hatten die Möglichkeit, ein neues Haus zu bauen. Stattdessen errichteten sie noch einmal die alte Baracke.
Wann haben Sie gemerkt, dass sich Russland so entwickeln würde?
Das war beim ersten Tschetschenien-Krieg, 1994. Von da an war alles klar. Wir waren wieder in der Diktatur, in einem Update der Sowjetunion.
War es ein Glück, dass Sie Russland 1995 noch aus nichtpolitischen Gründen verlassen konnten?
Wäre ich damals nicht gegangen, hätte ich es später gemacht. Man kann in Russland nicht bleiben, wenn man schöpferisch ist. Man hat als Russe drei Möglichkeiten: Man kann patriotische Lieder singen, man kann schweigen oder emigrieren. Für mich war damals klar: Im 21. Jahrhundert gibt es keine Grenzen mehr, als Schriftsteller muss man reisen und überall leben. Wichtig ist nicht, wo du lebst, sondern was du schreibst. Und bei dieser Meinung bin ich geblieben. Ich verliess Russland freiwillig, das war 1995 kein Exil. Aber heute bin ich ein russischer Emigrant. Denn nachdem ich weggegangen war, wanderte Russland zurück ins Mittelalter.
Könnten Sie zurzeit zurück nach Russland reisen?
Nein, für das, was ich sage, werden Menschen in Russland zu grossen Strafen verurteilt. Wenn ich nach Russland reisen würde und mich so benehmen würde wie in der Sowjetunion, hätte ich keine Probleme: ruhig auf der Datscha sitzen, verbotene Bücher lesen, mit anderen leise über Politik reden. Das wäre auch jetzt möglich. Aber ich bin anders geworden. Ich würde heute eine öffentliche Lesung machen, ich würde da alles sagen, was ich denke – über Putin und den Krieg. Und dies hätte schlimme Folgen für mich und meine Familie.
Werden Ihre Bücher in Russland noch verlegt?
Ich habe meinem Verlag gekündigt. Ich publiziere nicht in einem Verlag, der Z-Autoren wie Prilepin herausgibt. Ab und zu sagen mir Leute, sie würden meine Bücher immer noch in russischen Buchhandlungen sehen. Vielleicht publiziert mich mein alter Verlag also weiter, ich weiss es nicht. Und ich weiss auch nicht, wer das Geld für meine Bücher kriegt.
Wann wurde Ihnen bewusst, dass Sie ein politischer Emigrant sind?
Das war 2014. Mein offener Brief im Frühjahr 2013 war sehr wichtig. Da habe ich mich in aller Klarheit von Putins Russland losgelöst. Davor wurde ich oft von russischen Institutionen eingeladen: als der grosse russische lebende Klassiker. Am Anfang habe ich mich gefreut, aber dann habe ich realisiert, dass wir Autoren missbraucht werden. Man logierte in teuren Hotels, gab Lesungen, aber im Hintergrund hing – bildlich gesprochen – immer das Porträt von Putin. Das wollte ich nicht mehr. Als ich meinen offenen Brief veröffentlichte, fuhren Walzen über mich, von allen Seiten.
Warum von allen Seiten?
Patrioten und Liberale fanden gleichermassen, ich hätte es ja leicht, aus der bequemen Schweiz zu räsonieren. Nach diesem Brief bin ich zu einem Scheissliteraten geworden. Wenn ich einen Text in der NZZ publiziert habe, bekam ich immer einen Brief von der russischen Botschaft im Stil von: «Wie können Sie bloss diesen russophoben Unsinn veröffentlichen?» Vor meinem offenen Brief hat mich die russische Botschaft wie einen General behandelt und ständig eingeladen.
Wann waren Sie das letzte Mal in Russland?
Im Oktober 2014, an einer grossen Buchmesse in Krasnojarsk. Alles war wunderschön, aber nicht ein Wort fiel über den Krieg gegen die Ukraine. Ich glaube, ich war der Einzige, der darüber auf der Bühne gesprochen hat. Dieses Schweigen war so erniedrigend. Die Russen leben immer noch in diesem Schweigen. Ich habe mir gesagt, dass ich nicht mehr zurückgehe.
Fühlen Sie sich gefährdet hier in der Schweiz?
Wir sind im Krieg. Ich fühle mich wie ein Kämpfer in diesem Krieg. Für mich ist das der Krieg der Zivilisation gegen die Barbarei. Früher war es nur gefährlich an der Frontlinie. Heute ist die Frontlinie überall. Ich habe aus Deutschland eine E-Mail bekommen: «Schischkin ist ein Verräter, Tod den Verrätern.» Was soll ich tun? Aufhören, schweigen? Was ist dann der Sinn meines Lebens? Schweigen ist das, was das Regime von den Untertanen verlangt. Puschkin schreibt in der berühmten Schlusszeile von «Boris Godunow»: «Das Volk schweigt.» Nur das Wort kann diesem Schweigen entgegengestellt werden.
Sie empfinden angesichts des Kriegs in der Ukraine eine Scham, in russischer Sprache zu schreiben.
Dieser Krieg hat meine Sprache zur Sprache der Mörder und Kriegsverbrecher gemacht. Ich habe eine Mission. Ich muss der ganzen Welt zeigen, dass Russisch auch Teil der Weltkultur ist, dass das Russische nicht nur etwas von Putin Verseuchtes ist. Ich verteidige die Würde meiner Sprache. Ich versuche der Welt zu erklären: Die russischen Soldaten haben ihre Verbrechen in Butscha nicht begangen, weil sie zu viel Tolstoi und Tschechow gelesen haben. Die Kultur ist der Hauptfeind des russischen Staates. Und gleichzeitig hat die Kultur immer gegen das Regime gekämpft. Das Regime benutzt die Sprache für diesen Krieg. Die Sprache gehört aber mir, nicht Putin.
Hat sich denn die Situation der russischen Sprache verändert? Es war doch schon die Sprache Stalins.
Ich vergleiche die Situation mit derjenigen der russischen Emigration vor hundert Jahren. Die grossen europäischen Städte waren voll von russischen Emigranten. Und die haben laut gesprochen, sie haben sich nicht dafür geschämt. Jetzt, nach dem 24. Februar 2022, hört man kaum noch Russisch in der Strasse. Denn die Russen schämen sich, laut zu sprechen. Vor hundert Jahren haben diese emigrierten Russen zuerst im Bürgerkrieg gekämpft und verloren, sie haben versucht, die russische Kultur und Sprache zu verteidigen. Sie mussten sich nicht schämen. Jetzt haben wir eine andere Situation. Wir Russen im Westen haben gegen die Invasion demonstriert. Ich habe in Zürich auf dem Sechseläutenplatz vor 40 000 Menschen gesprochen. Aber das ändert nichts daran, dass die allermeisten Russen schweigen oder die Invasion in der Ukraine bejubeln. Dieses Gefühl, dass die russische Bevölkerung diesen Krieg unterstützt, das ist so beschämend, das macht den Unterschied.
Was ist Ihre Erklärung dafür?
Es gibt zwischen der westlichen Welt und der russischen Bevölkerung eine Zivilisationslücke. Im Westen haben wir den Schritt vom Stammesbewusstsein zum individuellen Bewusstsein nach der Reformation und in der Aufklärung gemacht. Die Mehrheit in Russland lebt in der Vergangenheit, in dem alten Stammesbewusstsein. Unser Stamm ist immer gut, denken sie, die anderen sind unsere Feinde, sie wollen uns vernichten.
Das heisst, Russland braucht eine Aufklärung.
Genau, aber dies verhindert das Regime in Russland. In der Schule wird einem nicht das kritische Denken beigebracht. Es werden Patrioten erzogen. Wie soll man diesen Menschen die Aufklärung und die Kultur vermitteln, wenn der Staat das verhindert?
Ist die Bevölkerung Opfer des Regimes, oder sind die Russen Mittäter?
Es gibt keine klare Antwort darauf. Jeder, der individuell oder anders denkt, wurde in Russland eliminiert oder musste emigrieren. Und da blieben nur Leute, die schweigen, oder die, die sich mit diesem Stamm identifizieren. Wenn man diese Leute jetzt fragen würde, warum sie diesen Krieg angefangen haben, dann würden sie antworten: «Wir? Wir haben nichts damit zu tun. Das war die Obrigkeit, das war die Macht.» – Es ist wie der Dinosaurier und das Ei. Die Bevölkerung gebärt dieses System und dieses die Bevölkerung.
Mit dem Tod Alexei Nawalnys ist die Opposition in Russland fürs Erste vollends erlahmt.
Das Regime hat ihn – und damit das Symbol für eine friedliche Umwälzung in Russland – ermordet. Daher bin ich sehr pessimistisch geworden. Sicher ist, mit Gewalt wird man in Russland nie eine demokratische Gesellschaft aufbauen können. Mit der Gewalt wird man nur wieder eine weitere Diktatur errichten. Nawalny hat das verstanden.
Sie haben die Mission, im Ausland die russische Sprache zu verteidigen. Aber was können Sie gegen die Zivilisationslücke in Russland tun?
Solange wir dieses Regime haben, ist es kompliziert, an diese Leute zu kommen. Und erst recht kompliziert wird es dadurch, dass wir im Krieg sind. Den Leuten, die mit mir auf dieser Seite der Frontlinie sind, muss ich nichts erklären. Und die Leute hinter der Frontlinie – die manchmal durch Familien geht – werden auf mich sowieso nicht hören. Denn ich bin ein Verräter. Sie sind im Krieg gegen die ganze Welt. Sie verteidigen ihre «Kultur», sie verteidigen ihren Puschkin, es wird ihnen gesagt, dass sie Puschkin verteidigen, indem sie dort die Zivilbevölkerung ermorden.
Als Schriftsteller seien Sie machtlos, sagen Sie. Sind es letztlich auch die Länder, die der Ukraine Waffen liefern?
Wer kann dieses System zum Scheitern bringen? In Deutschland waren es die Alliierten. Wer kann Russland besiegen? Ich hatte vor zwei Jahren die Hoffnung, die Ukraine werde diesen Krieg gewinnen, und das würde zum Sturz des Regimes in Russland führen. Jetzt sehen wir, dass diese Hoffnung gestorben ist. Von einer militärischen Niederlage kann man nicht reden, denn der Westen will diese Niederlage Russlands nicht. Er liefert keine Waffen für den Sieg. Alle wollen jetzt den Krieg einfrieren. Nur Selenski will den Krieg weiterführen. Ob mit oder ohne Selenski wird der Konflikt eingefroren, in diesem Jahr oder im nächsten Jahr oder in fünf Jahren. Das wird nur das Regime in Russland stärken. Denn der Westen fürchtet die militärische Niederlage Russlands, die zu Chaos führen würde, was man gerade bei einer Atommacht nicht will.
Sie haben gesagt, die Frontlinie verlaufe bisweilen mitten durch Familien. Auch Ihr Bruder ist ein Anhänger von Putin, haben Sie einmal geschrieben.
Ich glaube nicht, dass er ein Anhänger von Putin ist. Aber 2014 haben er und seine Familie nach der Krim-Annexion mitgejubelt. Das ist dieses Mantra: Wir Russen sind jetzt wieder stark. Die Identifizierung mit dem Stamm und mit der Stärke des Staats. Genauso war es mit meinem Vater, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg – er war bei der Marine – immer mit diesem Sieg über Nazideutschland identifiziert hat. Er meinte, er habe Osteuropa vom Faschismus befreit. Ich konnte ihm nicht erklären, dass er diesen Leuten einen anderen Faschismus gebracht hat. Und was haben die Russen nach diesem grossen Sieg 1945 bekommen? Nichts, sie waren noch mehr Sklaven als zuvor. Für viele Leute war es darum wichtig, sich mit der Grösse dieses Staates zu identifizieren, so wie Sklaven stolz sind auf den Reichtum ihres Besitzers. Und genau so ist es auch jetzt wieder passiert.
Aber es gibt doch auch in Russlands schweigender Mehrheit einen Teil, der aufgeklärt ist und nicht einfach von dieser Zivilisationslücke abgehängt wurde. Da können Sie die Schuldfrage der Menschen doch nicht vollkommen ausklammern.
Klar, in Russland gibt es viele Menschen, die gegen den Krieg sind. Die versuchten vielleicht am Anfang zu protestieren. Jetzt haben sie Angst und schweigen darum. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es die Nürnberger Prozesse gegen die Kriegsverbrecher. Das brauchen wir auch. Aber wer wird diese Nürnberger Prozesse durchführen? Damals gab es die Alliierten, wer aber soll Russland heute besiegen? Niemand. Werden diese Kriegsverbrecher sich selber ins Gefängnis bringen? Nein. Es wird auch die Aufarbeitung der Verbrechen nicht geben. Für mich persönlich ist es absolut klar: Wer den Krieg unterstützt, ist ein Mittäter. Als der Krieg anfing, haben alle Museumsdirektoren, alle Universitätsrektoren, alle Theater- oder Filmregisseure, alle führenden Kulturschaffenden offiziell mit ihrer Unterschrift unter einem offenen Brief diesen Krieg unterstützt. Diese Leute sind Kriegsverbrecher.
Fühlen Sie sich mittlerweile auch als Schweizer? Sie sind ja eingebürgert worden.
Für mich ist das sehr wichtig. Denn ich lebe in einer demokratischen Gesellschaft. Das gibt mir die Freiheit, am Leben dieses Landes und der Gesellschaft teilzuhaben. In einer Diktatur ist das nicht möglich. Von hier aus habe ich immer gegen das russische Regime gekämpft – vor der Olympiade, vor der Fussball-WM, nach der Krim-Annexion. Ich kam mir vor, als würde ich gegen eine Mauer laufen. Dann kommt der 24. Februar. Das Erste, was ich höre vom Bundesrat: Wir sind neutral, wir werden uns den Sanktionen der EU gegen Russland nicht anschliessen. Ich war so wütend. Also rannte ich weiter gegen die Mauer an und sagte am 25. Februar in der «Arena» des Schweizer Fernsehens: Liebe Schweiz, die Neutralität ist Geschichte, wir können uns diesen Luxus nicht mehr leisten. Wir müssen die Ukraine mit allen möglichen Mitteln unterstützen. So funktioniert Demokratie. Nach ein paar Tagen sagte der Bundespräsident: Ja, wir werden den Boykott übernehmen. Es kam mir wie mein kleiner Sieg gegen den Krieg vor, meine fünf Kopeken, wie die Russen sagen.
Krokodile mit der Freiheitsfahne
DIE MÖWE IN DER SCHLUCHT
Er war gegen politische Revolutionen, aber in der Literatur vollzog er zwei: in der russischen Prosa und auf der Bühne.
Nach dem geschwätzigen Dostojewski und nach Tolstoi, der sich nicht einmal in die längsten Sätze hineinzwängen konnte, verlieh Tschechow der Kurzgeschichte das volle Bürgerrecht im Reich der Literatur. Nur das Wichtigste sollte im Text stehen, alles Überflüssige sollte weggeschnitten werden – als Gärtner wusste er, dass es für eine gute Ernte notwendig ist, überflüssige Triebe und Blüten abzuschneiden.
Die Zurückhaltung, Verschwiegenheit des Autors lässt dem Leser Raum für Zusammenarbeit. Durch dieses Vertrauen erschafft Tschechow seinen Leser. Den passiven Konsumenten verwandelt er in einen Co-Autor, ohne den das „Wunder der Prosa“ unmöglich wird. Vor dem Tod widmete Thomas Mann seinen letzten Text Tschechow. Der Autor monumentaler Wälzer beklagte, dass er Tschechows Kunst des Verschweigens erst so spät entdeckt habe: „Er vertraue, sagte er, daß der Leser die in der Erzählung fehlenden, unterdrückten “subjektiven”, das heißt: bekennenden Elemente, die sittliche Stellungnahme schon selbst ergänzen werde.“
Tschechow ist als Autor nicht Richter über seine Figuren, sondern Zeuge; der Leser ist derjenige, der das Urteil fällt. Die berühmt-berüchtigte Tschechow-Pistole, die am Anfang einer Geschichte oder eines Theaterstücks auftaucht, wird natürlich losgehen, aber der Abzug muss vom Leser-Zuschauer betätigt werden.
Tschechow enthüllte die Verschwörung der Worte: Sie verhindern das Verstehen. Liebende schweigen, um Gefühle nicht mit Worten zu verletzen. Wenn man Liebe beschreibt, darf man das Wort „Liebe“ nicht verwenden. Man muss mit den “falschen” Worten durchbrechen, um wahre Gefühle zu vermitteln. Tschechow hat diese Grundlagen des Schreibens in die Literatur eingebracht.
Über Tschechow wurde gesagt, seinen Texten fehle der tiefere Inhalt, den Tolstoi und Dostojewski haben. Zinaida Gippius urteilte: „Dasein ohne Sein“, und meinte damit, dass es bei Tschechow um den grauen Alltag geht, um das Irdische, aber nicht um das Existentielle.
Das Gegenteil trifft zu: Tschechows Figuren straucheln im Alltag, aber was sie eigentlich quälte, ist das Sein. In Nabokovs Formulierung: „Alle Geschichten Tschechows sind ein ständiges Stolpern, aber die Person, die darin stolpert, ist jemand, der in die Sterne blickt.“
Bei Tschechow dreht sich alles um das Sein, dessen einzige Existenzform der graue Alltag ist. Sein Bluthusten beseitigte die Illusion der eigenen Unsterblichkeit. In allen Werken Tschechows geht es um das Leben in Erwartung des Abschieds. Und wenn seine Charaktere über Unsinn sprechen, dann sind das nonverbale Gespräche über die wichtigsten Dinge, über das menschliche Schicksal, über die Notwendigkeit, die verbleibenden Jahre in Würde zu leben.
Sein neues Verständnis von Prosa führte Tschechow zu einer anderen Kunst, die mit Worten arbeitet – dem Theater.
Shakespeare hätte, nachdem er Die Möwe oder Drei Schwestern durchgeblättert hätte, erklärt, dass der Autor nichts von der dramatischen Kunst verstehe.
Nabokov: „Und ich glaube auch, dass er mit der Kunst der Dramaturgie nicht genügend vertraut war, dass er nicht genügend Stücke studiert hatte, dass er nicht genügend Ansprüche an sich selbst stellte, was einige der technischen Methoden dieses Genres betraf.”
Bunin: „Seine Stücke sind mir immer fast verhasst gewesen.”
Tolstoi: „Tschechows Die Möwe ist Unsinn, wertlos. … Das Beste darin ist der Monolog des Schriftstellers, das sind autobiographische Züge, aber im Drama sind sie hier völlig unnötig.”
Stanislawski: „Zu meiner Schande habe ich das Stück zuerst nicht verstanden.”
Kritiker des Dramatikers Tschechow rühmten die Gabe des Schriftstellers und glaubten dennoch, dass es sich bei den Theaterstücken um seine Kurzgeschichten handelte, die ungeschickt auf die Bühne geschmiert wurden.
Natürlich hätte Tschechow das Stück “richtig“ schreiben können, aber er sah einfach keinen Sinn darin. Tschechow war seiner Zeit voraus, das Theater und das Publikum mussten ihn einholen. Er hatte Glück: Das Moskauer Künstlertheater übertrug sein kreatives Know-how von der Prosa auf die Bühne und öffnete damit den Weg zur Kunst des 20. Jahrhunderts.
Tschechows Dialoge handeln von nichts, die Gespräche der Gehörlosen sind eine unterirdische Passage zum Theater des Absurden. Die drei Schwestern wollen nach Moskau, gehen aber nirgendwo hin, weil sie auf Godot warten. Die Massenkultur wird Tschechows Entdeckung hundert Jahre später wiederkäuen und sie „Tarantino-Dialoge“ nennen.
In Tschechows Prosa wird den Worten alles Wichtige entzogen, es geschieht zwischen den Zeilen – in die Sprache des Theaters übersetzt, fehlt alles Wichtige auf der Bühne, um im Zuschauerraum wieder aufzutauchen. Auf der Bühne – der graue Alltag. Im Zuschauerraum – die Existenz, das Sein.
Wen wundert es, dass Tschechow im 21. Jahrhundert, gemessen an der Zahl der Theaterproduktionen weltweit, nach Shakespeare an zweiter Stelle steht?
Zu Tschechows Zeiten verlieh die Öffentlichkeit Autoren für das Schreiben von Romanen und für den Dienst am Volk den Titel eines „russischen Schriftstellers“. Von ihm wurde erwartet, dass er diesen Verpflichtungen nachkommt.
Etablierte Schriftsteller rieten dem jungen Talent beharrlich, die Kurzgeschichten aufzugeben und sich stattdessen an eine wirklich große Prosa zu setzen. Tschechow beginnt mit 27 einen Roman und quält sich mehrere Jahre damit herum. Lange traut er sich nicht, seine Niederlage einzugestehen. Im Oktober 1888 schrieb er an Maestro Grigorowitsch: „Wenn der Roman schlecht herauskommt, ist mein Fall für immer verloren.“ Schließlich akzeptiert er die Niederlage – als Sieg. Als Tschechow die Idee eines Romans aufgibt, wird er zu sich selbst. Die Welt liest Tschechows Kurzgeschichten und weiß nichts von Grigorowitschs Romanen.
Man wollte Tschechow nicht verzeihen, dass er dem Volk nicht gedient hatte. Nicht nur seine Feinde, sondern auch seine Freunde warfen ihm vor, dass er nirgendwohin „ruft“ oder „führt“. Im März 1890 nannte die Zeitung Russkaja mysl Tschechow „einen Priester des prinzipienlosen Schreibens“. Was Tschechow verletzte, war das mangelnde Verständnis der „fortgeschrittenen Öffentlichkeit“, was und warum er schrieb.
Er lebte in einer Gesellschaft, in der es eine Schande war, gut zu leben, in einer Atmosphäre glühender moralischer Askese. Es braucht Leiden, es braucht Prüfungen. Man muss dem Volk dienen. Die Gesellschaft erhob Anklage gegen Tschechow, und er musste in einer Sprache antworten, die für die „fortschrittliche Intelligenz“ verständlich war. Er ging ans Ende der Welt zu den Ausgestoßenen. „Sachalin ist ein Ort des unerträglichen Leidens, zu dem der Mensch fähig ist“, wird er später schreiben.
Und dann: „Die verklärten Sechziger haben nichts für die Kranken und Gefangenen getan und damit gegen das Hauptgebot der christlichen Zivilisation verstoßen. […] Nicht die Aufseher sind schuld, sondern wir alle, aber es ist uns egal, es interessiert uns nicht.“ Diese Reise ist eine Deklaration, wie sie sich für einen russischen Schriftsteller gehört: die Kunst weicht einem Schuldgefühl gegenüber all dem Leid und den Benachteiligten. Die Sünde eines „wohlgenährten und sauberen“ Lebens muss gesühnt werden.
Er wird nichts Neues über Russland erfahren, und was er gesehen hat, wird in seiner Prosa und seinen Theaterstücken kaum Spuren hinterlassen. Die wichtigste Konsequenz für seine Arbeit ist, dass er anfängt, Blut zu husten. Sachalin ist kein Buch zum Lesen. Und schon gar nicht das Buch eines Schriftstellers – es ist die Erfüllung eines Gelübdes. Eine Antwort auf öffentliche Anschuldigungen. Ein Freispruch für sich selbst.
Der Alltag, der das Sein nicht aufkeimen lässt, ist Russland.
Es ist offensichtlich, dass Tschechow seine Gedanken durch die Worte des Doktor Astrow zum Ausdruck brachte: „Im Allgemeinen liebe ich das Leben, aber ich kann unser Leben nicht ertragen, unser Spießerleben, und ich verachte es mit der ganzen Kraft meiner Seele.“
Für die Hoffnung in der russischen Literatur waren in der Regel ungebildete Bauern, „Turgenjew-Mädchen“ und die revolutionäre Intelligenz verantwortlich. Durch Tschechow kam der Glaube an das Volk, die russische Frau und die Revolution ins Stolpern.
Von früher Kindheit an wusste er, wie das russische Leben aufgebaut war – auf Lügen, Grobheit und Gewalt. Tschechow macht sich keine Illusionen über das „russische Volk“, das von den Intellektuellen und Revolutionären, die sich für seine Befreiung opferten, vergöttert wurde: „Die Unverschämtheit und Trägheit der Starken, die Unwissenheit und der bestialische Zustand der Schwachen, schreckliche Armut, Unterdrückung, Degeneration, Trunkenheit, Heuchelei, Betrug überall.“
Tatjana Larina (aus Puschkins Eugen Onegin), „Turgenjew-Mädchen“, Sonetschka Marmeladowa (aus Dostojewskijs Schuld und Sühne) riechen nicht. Tschechows Frauen rochen nach russischem Leben. Er war der erste in der russischen Literatur, der es wagte, das romantische Bild der Frau zu zerstören, indem er sie fast zynisch vom Podest warf: Anna am Hals, Wolodja der Große und Wolodja der Kleine, Der Anfall. Lew Schestow nannte ihn wegen seines realistischen Blicks auf die Menschen „ein gnadenloses Talent“.
Tschechow verachtete sowohl die Macht als auch die Sklaven gleichermaßen. „Russland ist ein Land von abscheulichen Staatssklaven. Wir sind von Unterwürfigkeit und Heuchelei durchtränkt. Unsere Selbstgefälligkeit und Eitelkeit sind europäisch, aber unsere Entwicklung und unser Handeln sind asiatisch.“ Seine medizinische Diagnose: Das Land ist an Sklaverei in ihrer schlimmsten Form erkrankt – an unbewusster Sklaverei. Sklaverei ist wie Haut – es gibt keine andere, wir wurden darin geboren, wir leben in ihr.
Für Tschechow ist das Schlimmste an den Menschen ihre unschuldige, kindliche Unfähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Wundervolle junge Menschen wollen Russland und die Menschheit vom Despotismus befreien, sie wollen den Menschen Freiheit und Güte bringen – und sie werfen Bomben. So wie in Ich will schlafen ein müdes junges Kindermädchen ein Kind erwürgt, so wird Russland, während es eine glückliche, strahlende Zukunft aufbaut, später Millionen seiner Kinder im Gulag erwürgen.
Die 1892 erschienene Erzählung Krankenzimmer Nr. 6 machte einen bedrückenden Eindruck. Wahrscheinlich fühlte sich jeder Leser in einer endlosen Zelle eingesperrt. Nikolai Leskows Verdikt: „Krankenzimmer Nr. 6 ist Russland, das ist Rus‘!“ Leskow starb 1895. Die Erzählung In der Schlucht wurde 1899 veröffentlicht. Zweifellos hätte Leskow nach der Lektüre dieses Textes seine Aussage präzisiert.
In der Schlucht kennen die Menschen den Unterschied zwischen Gut und Böse, Wahrheit und Unwahrheit, Verbrecher und Polizei, Verwandten und Feinden nicht. Dort leiden sie nicht an Gewissensbissen, sie gehen in die Kirche, aber sie kennen kein Mitgefühl. Die Schwachen müssen erledigt werden. Es gibt keine Nächsten, oder besser gesagt, die Nächsten sind die eigentlichen Feinde, und um unter Feinden zu überleben, ist alles gerechtfertigt. So ist die Welt in der russischen Schlucht aufgebaut – nach dem Recht des Stärkeren. Das Leitmotiv der Geschichte lautet: „Alle sind von der Unwahrheit durchdrungen“. Das Dorf Uklejewo ist ein Symbol für Tschechows Russland. Nur Tschechows?
In der Schlucht leben Menschen, die noch nicht menschlich geworden sind, die nicht sein sollten, aber sie sind, das Land, das nicht sein sollte, aber es ist, das Böse, das nicht existieren sollte, aber es existiert. Russland ist in der Schlucht. Niemand braucht jemanden. Wenn jemand sie bemitleidet, die keine Menschlichkeit gelernt haben, dann ist es nur der Autor.
Wie kommt es zur Erleuchtung? Welcher Apfel muss gegessen werden, um aus dem Paradies der Unwissenheit über Gut und Böse herauszufallen?
Gurow in Die Dame mit dem Hündchen erkennt plötzlich, dass alle um ihn herum grobe und spießige Barbaren sind, dass sein Leben erniedrigend ist und sein Selbstwertgefühl beschädigt. Die Liebe ließ ihn aufwachen.
Das ganze russische Leben, von morgens bis abends, ist eine Demütigung der Menschenwürde. Aber was ist zu tun? Wie kann man in der russischen Schlucht leben und dabei sein Selbstwertgefühl bewahren? Und wie kann man dem Bösen widerstehen?
Die Antwort der “fortschrittlichen” russischen Intelligenz: das gute Volk von der schlechten Regierung befreien. Um eine demokratische Gesellschaft aufzubauen, haben sie Russland „an die Axt gerufen“. Im Kirschgarten klappern die Äxte. Dieselben Äxte werden in ein paar Jahren die neuen Eigentümer und Datscha-Besitzer abschlachten.
Tschechow hält diejenigen, die glauben, dass das Volk gut und die Regierung böse ist, für blind. Menschen, die in der Unwahrheit leben und nicht wissen, wie sie anders leben sollen, werden dies unter jeder Regierung tun. Wenn man einem Sklaven die Freiheit gibt, wird er ein Aufseher über andere Sklaven sein wollen. Laut Tschechow muss man ihm die Möglichkeit geben, sich aus der Sklaverei in sich selbst zu befreien, „den Sklaven tropfenweise aus sich herauszupressen”.
Er war frei von der Tyrannei der vorgefertigten Ideen und allgemein anerkannten Dogmen. Tschechow war angewidert von dem revolutionären Bewusstsein, der vereinfachenden Unterteilung der Welt in Freunde und Feinde: Wir und die, Gut und Böse. Aus Tschechows Brief an Suworin: „Die weite Welt ist gut. Nur eines ist nicht gut: wir. Wie wenig Gerechtigkeit und Demut wir haben”.
Tschechow beendet die Erzählung Lichter mit den Worten: „Man kann nichts auf dieser Welt verstehen.“ Dieses Eingeständnis des Unverständnisses, der Unkenntnis der Wahrheit ist eigentlich eine Kampfansage. Der Schriftsteller stellt sich denjenigen entgegen, die behaupten, die einzige Wahrheit zu kennen.
Er verteidigte das Recht, die Wahrheit nicht zu kennen, er verteidigte die Freiheit des Individuums, wandte sich gegen das totalitäre Bewusstsein, das sich sowohl in der patriarchalisch gesinnten Bevölkerung als auch bei der Intelligenz zusammenbraute. Tschechow hasste die engstirnige, böswillige Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, rebellierte gegen die Diktatur der “fortschrittlichen” Intelligenz, die Vorstellungen von Gut und Böse aufzwang: Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns.
Tschechow akzeptiert keine Parteinahme, er akzeptiert es nicht, wenn ein Mensch sich in einer gemeinsamen Idee auflöst, wenn er um einer Idee willen aufhört, er selbst zu sein. Er sah, wie junge, wunderbare Menschen von den schönsten Ideen besessen und zu fanatischen Mördern werden.
Junge Menschen seiner Generation fanden eine höhere Wahrheit darin, ihrem eigenen Staat den Krieg zu erklären. Bei der Explosion im Winterpalast im Februar 1880 gab es viele zufällige Opfer. Tschechow war 20 Jahre alt. Im Exekutivkomitee von „Narodnaja Wolja“ („Volkswillen“) waren seine Gleichaltrigen. Ihr Traum war eine demokratische Gesellschaftsordnung, die Achtung der Menschenrechte und ein Rechtsstaat. Ihr Traum wird der Traum russischer Jungen und Mädchen im 21. Jahrhundert bleiben und er ist noch nicht einmal annähernd in Erfüllung gegangen.
Die Gesellschaft stand auf der Seite der Terroristen. Die Revolutionäre wurden im Gerichtssaal enthusiastisch begrüßt. Für Tschechow gibt es keinen Zweifel: Sich mit einer Bombe gegen das Böse zu erheben, bedeutet, selbst böse zu werden.
Die Antwort des Schriftstellers an seine Generation und an alle, die in Russland für das Gute und gegen das Böse kämpfen wollen, ist Die Geschichte eines unbekannten Mannes. Tschechow schrieb ein Werk, in dem die Hauptfigur ein Terrorist ist, die Handlung besteht in der Vorbereitung eines Terroranschlags. Ziel des Ich-Erzählers ist es, einen hohen zaristischen Beamten zu eliminieren. Zu diesem Zweck tritt er als Lakai im Haus des Sohnes seines Feindes in den Dienst. Durchdrungen vom Leben der Menschen um ihn herum beginnt er, ihnen zu helfen, rettet das Kind einer Frau in schwierigen Verhältnissen, zeigt menschliche Gefühle gegenüber seinen Feinden. Schließlich weigert er sich, zu töten. Und er weigert sich im Namen eines großen, schönen Ziels zu opfern. Er beginnt, sein Leben und das Leben seiner Mitmenschen zu sehen und zu schätzen. Das Menschsein, das Mitgefühl für seinen Nächsten, seine eigene Würde sind wichtiger als “Ideen” und die Bereitschaft, den Tod über andere und sich selbst zu bringen.
Heroische Selbstaufopferung im religiösen Wahn statt mühsamer Alltagsbewältigung – das ist es, was Tschechow verabscheute.
Weder Christus noch die “russische Idee” noch die Revolution können ein Land retten, das am Rande des Abgrunds steht. Tschechow sah nur eine rettende Brücke in die Zukunft. Die Zivilisation. Kultur. Das Erwachen der Menschenwürde.
„In Elektrizität und Dampf steckt mehr Liebe zu den Menschen als darin, kein Fleisch zu essen und keinen Widerstand gegen das Böse zu leisten …“, schrieb er nach einem Besuch bei Tolstoi.
Tschechows Rezept besteht darin, einfach ein anständiger Mensch zu sein und Gärten anzulegen. Er legte Gärten an, gründete Schulen, Bibliotheken, baute Krankenhäuser. Er fühlte sich wie ein kultureller Kolonisator unter Wilden: Er musste jeden Ziegelstein, jeden Nagel kontrollieren – alles wurde gestohlen.
Für Tschechow sind das Predigen und die Leidenschaft zur Selbstaufopferung schrecklich, aber das andere Extrem ist nicht weniger schrecklich – der Abstieg in ein sinnloses kleinbürgerliches Dasein. Er hasste gute Menschen, die unfähig waren, Gutes zu tun.
Tschechow schrieb in sein Notizbuch: „Ein Moslem gräbt für das Heil seiner Seele einen Brunnen. Es wäre gut, wenn jeder von uns eine Schule, einen Brunnen oder etwas Ähnliches hinterlassen würde, damit das Leben nicht spurlos in die Ewigkeit vergeht.”
Tschechow wollte an die Evolution glauben, daran, dass demokratische Strukturen die Macht der Gewalt auf friedliche Weise ersetzen würden. „Sie werden sehen”, redete er seinen Gesprächspartnern zu, „bald werden wir eine Verfassung haben, ohne Verfassung können wir nicht mehr weitermachen”.
Je näher er sich seinem Tod fühlte, desto mehr wollte er glauben, dass in Russland endlich alles gut werden würde. Seine letzte Erzählung Die Braut endet mit einem beschwingten Schlusswort. Die Heldin verlässt ihr Zuhause: „Vor ihr lag ein neues Leben, weit, geräumig, und dieses Leben, noch unklar, voller Geheimnisse, faszinierte und lockte sie. Sie ging nach oben, um Koffer zu packen, und am nächsten Morgen verabschiedete sie sich von ihrer Familie und verließ lebendig und fröhlich die Stadt – wie sie glaubte, für immer.“
Was dieses Mädchen wirklich erwartete – außerhalb des Buches – konnte sich Tschechow nicht einmal vorstellen.
Russland ist Tschechow nicht gefolgt. Seine Möwe blieb am Theatervorhang hängen und konnte nicht aus der Schlucht entkommen.
Nach Tschechows Tod vergingen nur wenige Jahre, und die berühmte Mole von Jalta, wo einst die Dame mit dem Hündchen spazieren ging, wurde zum Schauplatz von Massenhinrichtungen.
Tschechow kannte sein Land und sah seine Zukunft voraus – aus einem Brief: „Unter der Flagge der Wissenschaft, der Kunst und des unterdrückten Freidenkens werden in Russland solche Kröten und Krokodile herrschen, wie sie selbst Spanien in den Tagen der Inquisition nicht kannte. Ihr werdet sehen!”
Wir haben es gesehen.
Tschechows Helden träumten von einem Leben, das in hundert Jahren kommen würde.
An dem Tag, an dem eine russische Rakete in das Wohnhaus Nr. 134 in der Dobrowolski-Allee in Odessa einschlug, wurde in vielen Theatern in Russland Tschechow aufgeführt. Zehn Menschen starben, darunter drei Kinder. Zwei von ihnen waren noch nicht einmal ein Jahr alt. Die Säuglinge starben mit ihren Müttern. Als die verstümmelten Leichen unter den Trümmern hervorgeholt wurden, erklangen von der Bühne eines Moskauer Theaters die Worte aus Onkel Wanja: „Diejenigen, die hundert, zweihundert Jahre nach uns leben und uns dafür verachten werden, dass wir unser Leben so dumm und geschmacklos gelebt haben – die werden vielleicht einen Weg finden, glücklich zu sein…”.
Warum braucht Russlands Politik immer einen Krieg, Herr Schischkin?
Michail Schischkin ist einer der bedeutendsten Autoren Russlands. Er sagt: Russland kann nur von jemandem geführt werden, der Kriege gewinnt.
24.04.2024
Michail Schischkin: “Warum wir, Russen, töten hier?”
Ein Film von Swissinfo, 7.03.2024
You can select English subtitles in the setting menu.
„Wir werden Zeugen des Zusammenbruchs des letzten Imperiums“
Von Frank Herold
Herr Schischkin, was war Ihre Reaktion, als Sie vom Tod Nawalnys erfuhren?
Wut. Wut und Hass. Ein Land, das seine besten Söhne auf diese Weise vernichtet, ist unerträglich. Dieses Regime, das sich Russische Föderation nennt, das Tod und Unheil über die ganze Welt und seine eigene Bevölkerung bringt, sollte einfach nicht existieren.
Was bedeutet dieser Tod Ihrer Meinung nach für die russische Opposition und für die russische Gesellschaft insgesamt?
Diktatur bedeutet, dass das Volk bei jedem Wort des Führers jubelt. Das Regime sah in dem Mann, den es zum Schweigen bringen wollte, indem es ihn für mehr als 20 Jahre inhaftierte, eine Bedrohung. Sie versuchten, ihn zu vergiften – erfolglos. Jetzt haben sie ihn exekutiert.
Alexej Nawalny hat uns allen geholfen: Er gab uns Hoffnung durch seine Existenz, durch seine Bereitschaft, nicht aufzugeben und bis zum Ende durchzuhalten. Jetzt sind wir seine Hoffnung. Jetzt ist es an uns, eine Hoffnung an Russland am Leben zu erhalten.
Sie leben seit vielen Jahren in der Schweiz, sind aber mit Russland immer eng verbunden geblieben. Sie haben die bedeutendsten russischen Literaturpreise gewonnen, ihre Bücher waren Bestseller. Eines davon durfte dort nicht erscheinen, es trägt den Titel Mein Russland. Darin findet sich der Satz: „Es schmerzt, Russe zu sein.“ Können Sie Ihren Schmerz beschreiben?
Körperlicher Schmerz lässt sich leichter beschreiben. Jeder hat ja seine eigene Erfahrung. Aber wie kann man das Schamgefühl für seine Heimat, für seine Sprache, für seine Kultur beschreiben? Vielleicht macht gerade die deutsche Geschichte das verständlicher. Thomas Mann hat dieses Gefühl formuliert, das er für seine Landsleute empfindet: „Leiden an Deutschland“. Ich leide an meinem Land, das der Menschheit so viel geben könnte, aber es bringt der Welt jetzt nur Schrecken, Zerstörung und Blutvergießen.
Der große russische Dichter Alexander Puschkin hat vor 200 Jahren das Drama Boris Godunow geschrieben. Der letzte Satz darin, eine Regieanweisung, lautet: „Das Volk schweigt.“ Ist das auch heute noch die kürzeste Beschreibung der russischen Verhältnisse?
Die russische Führung trichtert der Bevölkerung ein prähistorisches Weltbild ein: Wir, Russen, seien per Definition gut, andere seien unsere Feinde und wollen uns vernichten. Unser russisches Lebensziel sei es, uns für unser Volk, für unser Vaterland zu opfern. Nichts bleibt für diese Propaganda ungenutzt. Giftpropaganda strömt aus dem Zombiekasten Fernsehen: „Die ukrainischen Nazis vernichten russische Kinder, unsere Sprache, unsere Kultur, unseren Puschkin – wir müssen unsere Werte, unsere russische Zivilisation gegen die Gay-Faschisten verteidigen.“ Das kollektive russische Bewusstsein kennt keinen Begriff von der persönlichen Verantwortung für die Wahl zwischen Gut und Böse. Der Stammesführer alias Zar oder Präsident übernimmt die Verantwortung für alles. Diejenigen, die den Mut haben, dagegen zu protestieren, werden als „ausländische Agenten“ angeprangert, landen im Gefängnis oder müssen emigrieren.
Es scheint fast so, als hätten Sie die Hoffnung auf Veränderung verloren.
Der Hauptfeind jeder Diktatur ist die Zeit. Jedes Regime, das bisher in Russland herrschte, kämpfte gegen die Zeit, gegen gesellschaftliche Entwicklung, gegen den menschlichen Fortschritt. Auch heute macht der Kreml alles, um die Zivilisationslücke zwischen der modernen Welt und der russischen Bevölkerung zu vertiefen. Mit allen Mitteln will man die wichtigste Revolution der Menschheit in Russland verhindern: den Übergang vom kollektiven zum individuellen Bewusstsein. So staunt die Welt und muss zusehen, wie der Wunschtraum jedes russischen Zaren in Erfüllung geht: Das Volk schweigt und macht alles mit.
Putin wird 72 Jahre alt. Selbst wenn die Gerüchte über seinen Gesundheitszustand nicht stimmen: Was kommt nach ihm?
Manche von Oppositionellen betriebenen Kanäle des Online-Dienstes Telegram behaupten sogar, Putin sei seit Oktober 2023 tot, im Fernsehen werde sein Doppelgänger gezeigt, und die Macht ginge zu Nikolai Patruschew (einen ehemaligen KGB-General und Sekretär von Putins Nationalem Sicherheitsrat, Anm. d. Red.) über. Was man davon halten soll: Na ja, in einer Diktatur ist nicht nur das Leben des Diktators ein Geheimnis, sondern auch sein Tod.
Jetzt begeben Sie sich aber auf die Ebene von Verschwörungstheorien.
Es gibt keine Beweise dafür, dass Putin tot ist. Andererseits gibt es auch keine Beweise dafür, dass er lebt. Der frühere Putin hatte Angst vor jeder Berührung wie vor Feuer, der jetzige umarmt den Erstbesten auf der Straße. Für mich steht jedoch außer Zweifel, dass der Sekretär des Sicherheitsrates die Macht übernimmt. Der berüchtigte Hardliner Patruschew verdrängt allmählich Putin am Bildschirm.
Übrigens, politische Trends sind in Russland an Kleinigkeiten zu erkennen. Eishockey und Judo, die Lieblingssportarten Putins, liegen nicht mehr im Trend. Patruschew bevorzugt Volleyball und hat bereits deutlich gemacht, dass es jetzt die Sportart Nummer eins in Russland ist. Für die Entwicklung des Volleyballsports werden in diesem und im nächsten Jahr besonders viele Mittel bereitgestellt. Für ein westliches Ohr mag das anekdotisch klingen, aber die ganze russische Geschichte ist eine blutige Anekdote.
Aber noch einmal: Welche Szenarien sind aus Ihrer Sicht für die Zukunft Russlands denkbar?
Offensichtlich deutet sich folgendes Szenario an: Da die Hoffnung auf den Sieg an der Front gleich null ist, wird die Bevölkerung auf den langjährigen Kriegszustand eingestimmt. Patruschew erklärt in seinen Ansprachen, die Russen müssen mit einem langen Krieg gegen den Westen rechnen, da die „Angelsachsen“ einen „Proxy-Krieg“ gegen Russland führen. Ihm zufolge wird dieser Krieg auch nach dem Ende der „heißen Phase des Konflikts in der Ukraine“ nicht enden. „Der Feind ist wiederholt mit Feuer und Schwert in unser Land gekommen“, sagte Patruschew mit patriotischem Elan.
Da der äußere Feind nicht zu besiegen ist, werden die inneren Feinde bekämpft. Die „liberale“ Opposition im Land wurde bereits beseitigt, jetzt ist die patriotische Opposition an der Reihe. Nehmen Sie die Verurteilung des Ukraine-Hassers Igor Strelkow-Girkin zu mehrjähriger Lagerhaft. Der „Verteidigungsminister“ der Separatisten im Donbass nach der Abspaltung 2014 war festgenommen worden, weil er der russischen Regierung und Präsident Wladimir Putin persönlich vorwarf, im Krieg gegen die Ukraine nicht hart genug vorzugehen. Im Juli 2023 wurde er festgenommen und später zu vier Jahren Lagerhaft verurteilt … Es ist eine Ironie der Geschichte: Die politische Karriere des legendären Anführers des „Russischen Frühlings“ endete mit einem Strafverfahren und einer Gefängnisstrafe. Nun ist der Ukraine-Hasser Igor Strelkow-Girkin, der Mörder und Kriegsverbrecher, der vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag für den Abschuss des niederländischen Passierflugzeuges MH17 verurteilt wurde, ein politischer Gefangener des Regimes.
Die Dampfwalze der Repressalien ist schwer zu stoppen, da werden alle was abbekommen. Wenn das oppositionelle Feld auch schon geräumt ist, muss das Millionenheer der Ordnungshüter weiterhin seine Relevanz unter Beweis stellen und sich Boni und Beförderungen verdienen. Das bedeutet, dass die Reihen der inneren „Feinde“ unweigerlich weiterwachsen werden.
Was erwarten Sie?
Als nächster Schritt wird der Internet-Raum in Russland vor den Präsidentschaftswahlen „bereinigt“. Wer zweifelt daran, dass Putin mit Enthusiasmus wiedergewählt wird? Ich stelle mir vor, danach kommt es zu dem Regierungswechsel. Der Landwirtschaftsminister Dmitri Patruschew, „zufälligerweise“ der Sohn der grauen Eminenz, wird zum Premierminister ernannt, und es könnte wie vor einem Vierteljahrhundert mit dem Trick bei der Ernennung Putins zum Premierminister durch Boris Jelzin laufen. Damals waren hinter den Kulissen die nötigen Absprachen getroffen worden, um Jelzin und seine Familie finanziell und juristisch abzusichern. Wenn es wieder so läuft, wird Putin, der amtierende „Präsident“, die historischen Worte sagen: „Ich bin müde, ich gehe.“ Er wird den rechtmäßigen Nachfolger, alles läuft ja in Russland nach der Verfassung, zum neuen „Präsidenten“ erklären. Das Land und seine gebeutelte Bevölkerung werden einen neuen Zaren erhalten. Ob, wie und wann das alles verwirklicht wird, werden wir sehen. Vielleicht in Kürze, vielleicht wird es noch etwas dauern.
Lassen Sie uns noch weiter in die Zukunft blicken. Können wir entgegen Ihrem Pessimismus nicht doch hoffen auf die Zeit nach Putin? Oder müssen wir einen Kampf der Diadochen um die Macht in Russland fürchten?
Noch nie ist ein historischer Bruch in der russischen Geschichte „ungefährlich“ über die Bühne gegangen. Der Auslöser könnte die Unabhängigkeitserklärung Tschetscheniens sein. Das wird passieren, sobald Moskau den Geldhahn zudreht. Diese Republik im Nordkaukasus ist faktisch bereits ein unabhängiger Staat mit eigener Armee, und Gesetze der Russischen Föderation gelten da nicht. Fällt Tschetschenien ab, beginnt ein Dominoeffekt. Wir werden Zeugen des Zusammenbruchs des letzten Imperiums sein.
Russland meldet mitten im Krieg Stabilität und ein beträchtliches Wirtschaftswachstum. In Deutschland rutschen wir in eine Rezession. Warum sollen wir an Sanktionen festhalten, wenn die Schmerzen für Deutschland größer sind als für den Aggressor?
Die russische Propaganda meldet Wirtschaftserfolge? No comment. Ich sehe nur tägliche Hiobsbotschaften aus Russland. Zum Beispiel steht der Passagierluftverkehr kurz vor einem Kollaps, da die meisten aus dem Ausland importierten Flugzeuge reparaturbedürftig sind. Wegen der Sanktionen ist das problematisch. Klar, dass die Sanktionen beiden Seiten schaden. Wir sind im Krieg, und den gewinnt derjenige, der dem Feind mehr Schaden zufügt.
Putin geht offensichtlich davon aus, dass der Westen nicht bereit ist für die neue Realität, die Krieg heißt. Hat er damit nicht das entscheidende Argument auf seiner Seite?
Was oft nicht gesehen wird: Der Krieg begann ja bereits vor zehn Jahren mit der russischen Annexion der Krim und den Kämpfen im Donbass. Dass die danach verhängten Sanktionen für alle schmerzhaft sein werden, war von Anfang an klar. Der Unterschied bestand darin, dass die Bevölkerung Russlands durch die Propaganda bereits damals mental zum Krieg bereit war und die Menschen im Westen nicht. Putins Rechnung scheint aufzugehen: Eher wird die westliche Bevölkerung, die durch wirtschaftliche Wirren und die Möglichkeiten eines Krieges aufgeschreckt ist, ihre Regierungen neu wählen und die Putin-Feinde durch Putin-Versteher ersetzen, als dass die Russen wegen wirtschaftlichen Zerfalls und steigender Preise von Lebensmitteln auf die Straßen gehen. Die Menschen im Westen müssen entscheiden, an welcher Seite sie in diesem Krieg zwischen der Zivilisation und der Barbarei stehen.
Von Politikern im Westen hört man häufig das Argument, Kriege würden nur durch Verhandlungen beendet. Abgesehen davon, dass es zahlreiche Gegenbeispiele gibt: Welche Chance sehen Sie überhaupt in einem Dialog mit Putin?
Allmählich verwandelt sich Selenskyj in westlichen Medien von einem Helden in einen Spielverderber, da er auf keinen Fall Friedensverhandlungen mit Putin führen will.
Wir sehen, dass die westlichen Politiker Angst vor einer Niederlage Russlands in diesem Krieg haben: Dies könnte ja zum Chaos in einem Land mit Atomwaffen führen. Der Kontrollverlust über das Nuklear-Arsenal wäre ein Albtraum für die Welt. Deshalb fehlen auch die nötigen Waffenlieferungen an die Ukraine. Der Wahlkampf in den USA mit dem guten Start für Trump lässt ahnen, dass die Unterstützung der Ukraine weiter schwinden wird, und man muss kein Prophet sein, um zu sehen, dass die EU kein Ersatz sein wird.
Der aktuelle Status quo ist sowohl für den Westen als auch für den Kreml akzeptabel, nur nicht für die Ukraine. Nun wird der ukrainische Präsident zu Verhandlungen durch seine Partner aus den demokratischen Staaten gedrängt. Selenskyj weigert sich, mit Putin zu sprechen, er wird jedoch sicher mit dem nächsten russischen Präsidenten Friedensverhandlungen aufnehmen.
In der Ukraine gibt es derzeit eine Kampagne, die russische Kultur zu verbannen. Der Schriftstellerverband distanziert sich von Michail Bulgakow, der in Kiew geboren wurde. Sein Jahrhundertroman Der Meister und Margarita gehört zur Weltliteratur. In der Ukraine werden gegenwärtig russische Bücher und Filme verboten, Puschkin-Denkmäler geschleift, Straßen umbenannt, die nach russischen Künstlern benannt sind. Was geht in Ihnen als Autor vor, wenn Sie davon hören?
Ich kann diesen Hass gegen alles Russische nachvollziehen. Und ich bin mir bewusst, dass die Puschkin-Denkmäler nicht abgerissen werden, weil er schlecht geschrieben hat, sondern weil sein Name durch das Regime missbraucht wird: Seine überall aufgestellten Büsten werden als Symbole der Kolonialmacht gedeutet.
Zwischen Russen und Ukrainern hat sich durch Putins Aggression eine Kluft gebildet, die mit Blut, Tod und Schmerz gefüllt ist. Mit jedem Tag, mit jeder Rakete, die auf ukrainische Städte fällt, mit jedem getöteten Kind wird dieser Abgrund größer, und er wird weiter wachsen. Wie kann man ihn überwinden? Ich bin sicher, dass der Krieg früher oder später zu Ende sein wird und wir Brücken über diesen Abgrund bauen müssen. Vielleicht wird das nicht von uns, sondern von der nächsten Generation oder sogar der übernächsten geschehen müssen. Die ersten Brückenbauer werden Menschen der Kultur sein – Schriftsteller, Musiker, Künstler. Deshalb ist es so wichtig, die Kultur jetzt für diese Zukunft zu bewahren. Gegen den Hass gibt es nur eine Arznei: die Kultur. Die Kunst, die Musik, das Wort.
Jetzt sind wir seine Hoffnung
Diese Kerze brachte ein wenig Licht in Putins Düsternis. Nun wurde sie ausgelöscht.
Das Wort dafür in den offiziellen Verlautbarungen ist «gestorben». Zwischen «gestorben» und «ermordet» liegt ein Unterschied von der Grösse eines ganzen Landes.
Mein Land und das von Alexei Nawalny gibt es nicht mehr. Ein Russland, das seine besten Söhne auf diese Weise vernichtet, kann keine terre des hommes, keine Erde der Menschen sein. Dieser Staat, der sich Russische Föderation nennt, der Tod und Unheil über die ganze Welt und seine eigene Bevölkerung bringt, sollte einfach nicht existieren.
Alexei Nawalny musste im Russland der Gegenwart zwangsläufig sein Leben verlieren. Diktatur bedeutet, dass das Volk schweigt und bei jedem Wort des Führers jubelt. Das Regime sah in dem Mann, den es zum Schweigen bringen wollte, indem es ihn für mehr als 20 Jahre inhaftierte, eine Bedrohung für sich selbst. Sie versuchten, ihn zu vergiften – erfolglos. Jetzt haben sie ihn auf andere Weise exekutiert. Offiziell gibt es in Russland keine Todesstrafe. Doch sie existiert, hier ist sie, und das ist erst der Anfang. Dieser verbrecherischen Macht ist es egal, wen sie tötet: Ukrainer, ihre eigenen, für die «Fleischstürme» mobilisierten jungen Männer oder politische Gefangene. Das «rote Rad», von dem Alexander Solschenizyn schrieb, ist weitergerollt.
Jetzt, nach zwei Jahren blutigen Gemetzels in der Ukraine und nachdem die Opposition in Russland vollends vernichtet worden ist, scheint nicht einmal mehr vorstellbar, was vor wenigen Jahren zumindest noch eine denkbare Option war: dass Nawalny am Präsidentschaftswahlkampf hätte teilnehmen und auf Wahlveranstaltungen im ganzen Land sprechen können.
Was für ein Präsident wäre er gewesen? Ich weiss es nicht. Er hätte exzellent sein können oder ein Fiasko. Es hätte nur einen Weg gegeben, das zu testen: freie Wahlen, bei denen er gewinnen würde. Aber freie Wahlen erfordern freie Bürgerinnen. Demokratie beginnt mit der Menschenwürde. Und wie viel Menschenwürde fühlt die Mehrheit der russischen Bevölkerung in sich?
Ich werde nie vergessen, wie bei einer Wahlveranstaltung in einer russischen Provinzstadt nach Nawalnys Rede jemand auf ihn zukam und sagte: «Alexei, mir gefällt, was Sie sagen und wie Sie das tun, ich mag Sie. Aber werden Sie erst einmal Präsident, dann werde ich für Sie stimmen.»
Jeder hat sich gefragt – und wird es nun umso mehr tun –, warum Nawalny nach Russland zurückgekehrt ist, wohl wissend, dass er dort inhaftiert werden würde, nachdem er wegen eines Giftanschlags in Deutschland behandelt worden war. Ich sage «wohl wissend», denn ja, er wusste es. Er war ein Kämpfer. Er wusste, dass er den ganzen Weg gehen musste. Aber er wollte nicht ein Opfer um des Opfers willen bringen, er wollte nicht zur Schlachtbank gehen, er wollte gewinnen. Er glaubte daran, dass er siegen würde, und er steckte alle mit diesem Glauben an – sowohl in seinem Umfeld als auch im ganzen Land und darüber hinaus.
In Russland sind diejenigen, die das Regime stürzten, immer zuerst seine Gefangenen gewesen. So war es in der Revolution von 1917, und so war es mit dem Ende der Sowjetmacht. Das sowjetische Regime, das unzerstörbar schien, fiel unter den Büchern von Solschenizyn, einem ehemaligen Häftling. Gefängniserfahrung ist für einen russischen Politiker immer von Vorteil: Wer im Gefängnis war, ist näher an der einheimischen «Wählermasse», deren ganzes Leben von der «Gefängniskultur» durchdrungen ist.
Nawalnys politisches Kalkül hat sich als falsch erwiesen. Sein Opfer hat die meisten Russen nicht beeindruckt, sie sind putintreu geblieben und taten das, was vom Regime verlangt wird. Ich bin sicher, er wäre ein guter Präsident für das Land gewesen, aber wo findet er ein Russland, in dem er hätte Präsident werden können? Ein solches Russland gibt es gegenwärtig nicht.
Alexei hat das Land, dem er sein Leben gewidmet hat, nicht wirklich gekannt. Zum Politiker wurde er nach dem Zusammenbruch der UdSSR, in jener kurzen historischen Periode, als die Freiheit nach Russland kam, das öffentliche und politische Leben begann, Parteien und eine freie Presse entstanden. Für ihn war dies sein Land, ein Land, in dem alles möglich war. Nawalny war seinem Typ nach ein westlicher Politiker: einer, der weiss, dass man um Wählerstimmen kämpfen muss, dass man eine öffentliche Person und ein offener Mensch sein muss, dass man für seine Worte verantwortlich ist und Rechenschaft abzulegen hat.
Aber die russische Politik funktioniert nicht so. In Russland muss man um die Macht nicht bei Wahlen kämpfen, da diese ohnehin manipuliert werden; man muss dorthin gehen, wo die wahre Macht ist.
Schon lange gilt es international als geflügeltes Wort: Der politische Kampf in Russland ist ein Kampf der Bulldoggen unter dem Teppich. Nawalny konnte und wollte nicht zu diesen Bulldoggen gehören. Er glaubte, dass die Menschen in Russland ihm folgen würden. Das war ein idealistischer, ein schöner, in diesem Land aber auch sehr naiver Glaube.
Das aktive, freie politische Leben, in das sich Alexei in den 1990er-Jahren gestürzt hat, war nur ein Plätschern auf der Oberfläche des russischen Ozeans. Oder eines riesigen russischen Sumpfs – je nachdem, welche Metapher einem mehr zusagt.
Er beurteilte die Menschen nach sich selbst. Er ging davon aus, dass, wenn für ihn die Rechte des Einzelnen, seine Freiheit und seine Würde die wichtigsten Werte des Lebens waren, dies auch für andere das Wichtigste sei. Er glaubte, die Menschen überzeugen, inspirieren und in eine Zukunft führen zu können. Und Tausende, Zehntausende von jungen Leuten folgten ihm tatsächlich. Aber das Land ging in die entgegengesetzte Richtung.
Der Traum von Putins Regime ist die Wiederbelebung der UdSSR. Das Land wird von denjenigen regiert, die ihre Karriere und ihr Leben im sowjetischen KGB aufgebaut haben. Ihr Traum – die Wiedergeburt des Landes ihrer Jugend – wird gerade vor unseren Augen verwirklicht. In diesem Land legen die Bürger auf dem Schafott gehorsam den Kopf hin und seufzen: Der Zar weiss, warum wir nun sterben, und wir müssen das tun.
In diesem Land ist kein Platz für Nawalny oder für junge Menschen, die sich ihr Leben nicht in einem Gulag, sondern in Freiheit aufbauen wollen.
Wenn Alexei gewusst hätte, was nach seiner Verhaftung passieren würde; wenn er gewusst hätte, dass die Opposition komplett verlieren, das Regime einen verabscheuungswürdigen Krieg gegen die Ukraine beginnen und die Mehrheit der Bevölkerung diese Abscheulichkeit unterstützen würde – hätte er dann diesen Schritt noch einmal gewagt? Wäre er nach Russland zurückgekehrt, um ins Gefängnis zu gehen und sich umbringen zu lassen? Ich weiss es nicht. Aber ich vermute: Ja, das hätte er getan. Denn es gab, gibt und wird immer Menschen geben, die einem Ziel folgen, das ihnen wichtiger ist als das eigene Leben.
Alexei Nawalny hat uns allen geholfen. Er gab uns allen Hoffnung durch seine Existenz, durch seine Bereitschaft, nicht aufzugeben und bis zum Ende durchzuhalten. Jetzt sind wir seine Hoffnung.
Schuld ohne Sühne
“Süddeutsche Zeitung”, 12.11.2023
“Das Schweigen der Russen ist ganz außergewöhnlich: Sie schweigen nur von dem, was sie lebhaft interessiert.”
Germaine de Staël, Zehn Jahre Exil
Im Herbst 2014 flog ich zur Buchmesse nach Krasnojarsk. Ein großes Treffen zur Feier der Literatur. Alles sah genauso aus wie in Frankfurt. So soll es ja im 21. Jahrhundert auch sein: Die Weltkultur fühlt sich in Sibirien ganz wie zu Hause.
Bei meinen öffentlichen Auftritten in Europa drehten sich damals alle Fragen und Gespräche um den Krieg. Auf der Buchmesse in Russland sprach man über Gott und die Welt, nur nicht über den Krieg. Alle interessierten sich sehr für einen neu erschienenen Reiseführer durch das antike Rom. Ich war wohl der einzige, der sich auf dem Podium zu der eingetretenen Katastrophe äußerte.
Es war ein erniedrigendes Schweigen. Erniedrigend für alle, Autoren wie Leser. Für mich brachte es das Fass zum Überlaufen. Ich wollte in diese Erniedrigung nicht mehr zurückkehren.
Mit den Jahren des Krieges wurde das Schweigen ohrenbetäubend, nach dem 24. Februar ist es unerträglich geworden.
Dabei rollt die Wortlawine unaufhaltsam weiter: Man veranstaltet „Apfel- und Buchfestivals“, präsentiert neue Reiseführer durch das antike Rom, bringt dicke Literaturzeitschriften heraus, die so tun als sei alles paletti, bietet Kurse zu „Theorie und Praxis der literarischen Meisterschaft“ und Workshops für junge Autoren an – zu so brandaktuellen Themen wie „Handlungsaufbau“ oder „Konflikt, Held, Stil“. Eine Lawine des Schweigens, ein stummer Chor. Ein einziger großer Schweige-Meisterkurs für die russische Kultur.
Laut über Belangloses reden heißt, mit voller Wucht schweigen.
Ein Schutzschweigen? Die russische Literatur hat nicht vor dem Gulag geschützt, aber sie hat geholfen, im Land des Gulags zu überleben. Jetzt eilt sie wieder zu Hilfe.
Ein Facebook-Zitat einer bekannten russischen Autorin, die im Land öffentlich vor ihren Lesern auftritt:
„Das Publikum ist dankbar, liebevoll, aufmerksam. Und noch etwas: Vor einem Jahr stieß jedes Wort, ja jeder Ton über das Geschehen um uns auf stürmische Dankbarkeit. Danke, vielen Dank, dass du sprichst! In letzter Zeit ist es umgekehrt: Danke, dass du nicht sprichst! Wir wissen ja schon Bescheid. Wir haben verstanden. Und sind müde. Je weiter weg von dem, was uns so oder so umgibt, desto besser. Wir wollen uns ablenken und durchatmen, wenigstens kurz.“
Schweigen als Überlebensmodus, als Luft zum Atmen.
Die Zeit und die historischen Umstände wirken sich auf die Geschmacksrezeptoren aus. In meiner Jugend verhinderte die russische Klassik, dass ich in der sowjetischen Lüge ersoff. Heute stehen im Regal noch immer dieselben Bücher, die Reime lockern ihre Umarmung nicht, die Buchstaben haben sich nicht zerstreut; doch die Wörter bedeuten jetzt etwas ganz anderes, sie schmecken anders. Ich versuche, die geliebten Dichter des Goldenen Zeitalters wieder zu lesen, doch sie sind alle gefüllt mit patriotischer Kotze.
Wir tragen unweigerlich die Spuren des Landes in uns, in dem wir aufwuchsen. Wo immer wir geboren sind und groß wurden, von Moskau bis Magadan, wir sind Kinder des tausendjährigen Imperiums. Selbst wenn wir es hassen, haben wir seine Luft geatmet. Und wenn wir vom russischen „Imperial-“ oder „Kolonialcharakter“ sprechen, klingt das schmeichelhaft für diesen blutigen Sumpf, weil es uns auf eine Stufe mit dem britischen Weltreich stellt. Man muss sich bewusst machen, dass Russland auch im 21. Jahrhundert noch nach dem Gesetz der Goldenen Horde lebt: An der Spitze der Pyramide steht der Khan, unten seine Sklaven, ohne Recht auf Stimme und Eigentum. Dieses Gesellschaftsmodell hat nur einen Sinn und eine Ideologie: Die Macht selbst und den Kampf um sie. Seine notwendige und hinreichende Existenzbedingung ist die Gewalt.
Diese Lebensform eines ganzen großen Landes lässt sich so wenig per Dekret abschaffen wie seine Sprache.
Die gefängnisartigen Verhältnisse haben im Laufe der Generationen das entsprechende Verhalten hervorgebracht. Wer unter Wölfen ist, muss mit ihnen heulen. Das fand seinen Ausdruck auch in der Sprache. Sie wurde in den Dienst des russischen Lebens gestellt, um es im permanenten, endlosen Krieg gegen die ganze Welt und sich selbst zu unterstützen. Wo alle nach den Gesetzen des Lagers leben, ist der Zweck der Sprache der Krieg aller gegen alle. Wo die Starken unbedingt auf die Schwachen einprügeln müssen, dient die Sprache dazu, das mit Worten zu tun. Erniedrigen, beleidigen, den Blechnapf wegnehmen, herabwürdigen. Sprache als Form der Persönlichkeitsmissachtung. Als Mittel zur Vernichtung der Menschenwürde. Kein anderes „Imperium“ kennt eine verbale Waffe wie es der russische Mat ist. In dieser brutalen Vulgärsprache, die die Essenz des russischen Daseins ausdrückt, reden Staatsmacht und Bevölkerung schon seit tausend Jahren. Die Sprache der russischen Literatur aber ist eine fremde Schwellung auf dem Körper der Sklavenpyramiden-Sprache. Sie bildete sich im 18. Jahrhundert, als Siedler aus dem Westen exotische Begriffe mitbrachten: Liberté, Égalité, Fraternité.
Die russische Staatsmacht ähnelt, wie längst bemerkt worden ist, dem antiken König Midas: Wie alles, was dieser berührte, zu Gold wurde, so verwandelt sich alles, was jene anfasst, in Dreck und Blut. Und die Machthaber langen mit ihren Fingern überall hin. Sie wollen Tolstoi, Rachmaninow und Brodsky für sich nutzen. Sie verneigen sich vor den Verstorbenen, weil sie wissen, dass diese nicht antworten können, und glauben, dass so ein Abglanz der Klassiker auf sie fallen wird, auf das Putin-Regime, auf ihre „militärische Spezialoperation“.
Ich bin sicher, Tolstoi hätte diesen banditischen Pseudostaat aufgefordert, sich zu verp… und verlangt, im Literaturunterricht statt seines Porträts über allen Schultafeln seine Worte aufzuhängen: „Patriotismus ist Sklaverei“. Rachmaninow hätte sofort Wohltätigkeitskonzerte für verwundete ukrainische Kinder gegeben. Brodsky hätte als Buße für sein schändliches Spottgedicht „Auf die Unabhängigkeit der Ukraine“ weltweit Vorträge gehalten, um Geld für die ukrainischen Streitkräfte zu sammeln.
Dostojewski hingegen mit seinem russisch-orthodoxen „Allmenschentum“ wäre, so fürchte ich, Moderator beim patriotisch-religiösen Fernsehkanal „Zargrad“.
Nach dem 24. Februar protestierten nur Einzelne öffentlich. Wo sind sie heute, diese verzweifelten, wunderbaren Menschen, die auf die Straße gingen, um mit ihrer Person die Würde ihres Volkes und ihres Landes zu verteidigen? Entweder im Gefängnis oder geflohen. Das Volk blieb stumm. Schweigen ist die Überlebensstrategie seit Generationen. Die westlichen Russlandexperten führten das auf Angst zurück.
Dann kam die Mobilmachung, und die Welt sah mit Erstaunen, wie Hunderttausende von Russen gehorsam in den Krieg zogen, um Ukrainer zu töten und sich selbst töten zu lassen. Das hat mit einer Überlebensstrategie nichts mehr zu tun. Es reicht tiefer und ist schlimmer.
„Meinst du, die Russen wollen Krieg?“ Frag die Mobilisierten, die rebellieren, weil es ihnen an Waffen fehlt, „um die Ukros plattzumachen“.
Russlands Bevölkerung ist mit Stammesbewusstsein infiziert. Diese Kinderkrankheit der Menschheit wird durch Aufklärung geheilt. In der modernen Zivilisation tritt das Individuum an die Stelle des Stammes, die Persönlichkeit ist das Fundament der Gesellschaft. Für die wichtigste Entscheidung im Leben – was gut und was böse ist – bin ich selbst verantwortlich. Und wenn mein Land, mein Volk Böses tun, stelle ich mich gegen sie.
Das Stammesbewusstsein hat nicht einmal einen Begriff von der persönlichen Verantwortung für die Wahl zwischen Gut und Böse. Mutter Heimat ruft! Die russischen Regime haben seit jeher versucht, im Land die Mentalität eines von Feinden umgebenen Stammes zu fördern – von „Autokratie, Orthodoxie, Volkstum“ über „Ruhm der KPdSU“ bis zu „Die Krim ist unser“.
Russlands politisches Leben kennt nur zwei Jahreszeiten: Ordnung und Wirren. Die Generationen alte Volksweisheit besagt: Herrscht Ordnung, so ist der Zar echt, gibt es Wirren, so ist er es nicht.
Einen Sieger wählt man nicht. Gewalt ist die einzige Quelle russischer Legitimität. Als Verlierer des Tschetschenienkriegs bist du Boris der Säufer. Als Gewinner bist du Zar im Kreml. Du hast die Krim angeschlossen: „Es gibt Putin, also gibt es Russland“. Du wirst mit den Nazis in Kiew nicht fertig: Ein Zwerg im Bunker am kilometerlangen Tisch.
Auf Russlands Territorium ist die historische Zeit stehengeblieben. Das Land findet nicht aus der Vergangenheit in die Gegenwart, die Kalenderumstellung hat da nicht geholfen.
Dass Kiew nicht eingenommen wurde, dass der Sieg im Ukrainekrieg aussteht, ist ein klares Zeichen: Der Zar ist nicht echt.
Als Prigoschins Panzer erst 400, dann 300, dann 200 Kilometer vor Moskau standen, hielt das Land den Atem an. Die Wagner-Söldner wurden im „befreiten“ Rostow mit Blumen und Eiskrem empfangen. Prigoschin hatte, was es brauchte, um sich zum neuen Zaren auszurufen: Gewalt, der sich niemand auch nur entgegenzustellen versuchte. Er war Fleisch vom Fleische Russlands: Er verströmte den Gefängnisgeruch, den die russische Nase gewohnt ist, und aus seinem Mund ergoss sich der vertraute Jargon. Vor allem aber hatte er als einziger von Putins „Generalen“ überhaupt einen Sieg vorzuweisen, wenigstens einen kleinen.
Russland ist bereit für einen neuen Zaren, aber es steht noch kein neuer Zar für Russland bereit.
Historisch betrachtet war es für Deutschland besser, dass Stauffenberg Hitler nicht in die Luft gejagt hat. Die Entnazifizierung wurde nicht von Gestapo-Offizieren durchgeführt, sondern von den Besatzungsmächten.
Abrams-Panzer werden in Moskau nicht einfahren.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hängten die Amerikaner in deutschen Städten Plakate mit Bildern und Berichten auf. Darauf stand: „Das ist eure Schuld, die Schuld eurer Stadt!“ In den Städten der tiefen russischen Provinz wird es keine NATO-Kommandaturen geben, die Plakate mit Bildern ermordeter ukrainischer Kinder aufhängen. Nürnberg ist auf der russischen Landkarte nicht zu finden. Eine nationale Buße wird es nicht geben. Die Post-Putins werden in Butscha, Mariupol, Prag, Budapest, Vilnius und Tbilisi nicht auf die Knie fallen. Ein Zar tut das nicht.
Also wird es auch keinen Marshallplan geben. Dafür einen Handshake mit dem Kremlherrscher, der als erster dem Westen die Kontrolle über das eingerostete Atomwaffenarsenal zusichert.
Nach einer Wahlkampfkundgebung von Aleksej Nawalny sagte ihm einmal jemand: „Wissen Sie, mir gefällt, was Sie sagen, und ich mag Sie. Aber werden Sie erstmal Präsident. Dann stimme ich auch für Sie.“
Wer in Russland die Demokratie einführen will, muss erst Zar werden. Doch wer Zar wird, ist eben Zar. Der Schauspieler spielt die Rolle, aber er kann sie nicht ändern.
Was die Kultur betrifft, ist die Russische Föderation auf absehbare Zeit zu einer radioaktiv verseuchten Zone geworden.
Die Universitätsrektoren, Museums- und Bibliotheksdirektoren, Theater- und Filmregisseure, die die „militärische Spezialoperation“ offen unterstützten, haben sich zu Kriegsverbrechern gemacht. Aber sie brauchen nichts zu befürchten. Eine Lustration wird es nicht geben und an eine Bestrafung beim Letzten Gericht glauben sie nicht. Natürlich wollten sie ihre Museen, Bibliotheken, Theater schützen, indem sie ihre Unterstützung für den Krieg bekundeten. „Küss dem Schurken die Hand und dann spuck aus“, wie es in Puschkins „Hauptmannstochter“ heißt. Doch wer sich selbst verrät, um sein Theater zu schützen, kann dann in diesem Theater als Regisseur nicht mehr tun, wozu er berufen ist. Mit Verrat schützt man weder sich noch sein Theater.
Kultur ist eine Existenzform der Menschenwürde.
Von Dreck und Schweiß kann man sich reinigen, aber wie reinigt man sich vom Schweigen? Wo verläuft die Trennlinie zwischen Schutzschweigen und Niedertracht?
Für den radioaktiven Zerfall von Strontium beträgt die Halbwertzeit 28 Jahre, bei Cäsium sind es 30. Wie lang ist die Halbwertzeit für Niedertracht?
Putins Krieg gegen die Ukraine trifft auch Russland. Die Machthaber richten die Kultur zugrunde. Sie richten das Land zugrunde. Das Volk schweigt, legt aus alter Gewohnheit den Kopf auf den Richtblock und seufzt, dass der Zar es schon wissen wird. Dem Schweigen lässt sich nur das Wort entgegensetzen. Das freie Wort ist schon ein Akt des Widerstands. In Russland kann man entweder patriotische Lieder singen oder schweigen. Oder emigrieren. Emigration ist ein Akt des Widerstands.
Doch selbst das freie russische Wort, das sich dem Gefängnisstaat widersetzt, hat seine Luft geatmet. Man muss sich die mit den Ausdünstungen von Sklavengenerationen gesättigte Luft aus den Lungen pressen. Man muss sich von seinem inneren Afterimperium befreien. Worte sind ein untrügliches Instrument zur Freund-Feind-Erkennung. Überkommene Ausdrücke wie „Na Ukraine“ oder „Pribaltika“ negieren schon als solche die Unabhängigkeit der Ukraine oder des Baltikums. Wendungen wie „die große russische Literatur“ atmen den Geist des Imperiums. Man muss dieses Imperium aus sich herauswürgen wie Wortschleim.
Kann die russische Kultur exterritorial bestehen? Anders als die Emigration vergangener Jahrhunderte können wir High-Tech nutzen. Ich muss immer daran denken, wie verloren, wie abgeschnitten von den Zentren der russischen Emigration – Berlin, Paris – sich wohl ein Literaturzirkel im chinesischen Harbin gefühlt hat, wo viele Russen nach dem Oktoberumsturz Zuflucht fanden. Heute kann man irgendwo in Afrika im Zug sitzen, und wenn es dort WLAN gibt, ist man sofort im Zentrum der russischen Kultur. Vielleicht liegt hier die Chance auf ein „schönes Russland der Zukunft“ – ein Land mit Tschechow und Rachmaninow, aber ohne Putin oder Prigoschin. Dieses Land liegt in der virtuellen Welt. Und womöglich kann es offline überhaupt gar nicht existieren.
Mein Russland, das ist ein Land, das seine Unabhängigkeit vom Stiefel des Machthabers erklärt hat.
Man braucht für dieses Land weder Legalisierung noch Pass. Das Atmen eines Menschen, der durch die russische Kultur lebt, ist Legitimierung genug. Die Hauptstadt der russischen Kultur ist dort, wo wir sind – ihre Träger, ihre Konsumenten, ihre Schöpfer. Überall auf der Welt.
Aber wie lange kann eine Sprache in der Emigration leben? Wir haben die Erfahrung des Exodus nach 1917: Die Kinder der Emigranten sprachen noch Russisch, die Enkel nicht mehr. Wir haben unsere eigene Erfahrung: Unsere Kinder sprechen noch Russisch mit uns, aber werden es die Enkel tun?
Der russischen Emigration fehlt die Basis, die es den Juden ermöglicht hat, sich durch Jahrtausende zu erhalten. Die Juden haben eine Sprache und einen Gott. Die Russen nur eine Sprache.
Werden also die Russisten an den Universitäten künftig die Literatur an einer toten Sprache erforschen, wie die Latinisten?
Die Bevölkerung unserer historischen Heimat wird immer die heimische Rede hervorbringen, wie der Zaubertopf den Brei, und niemand wird ihr zurufen: „Töpfchen steh!“ Der Blutkreislauf der Sprache wird auch künftig von Russland aus aufgefrischt werden. Brodsky, Sasha Sokolov und Wladimir Scharow sind alle aus der sowjetischen Jauche gekommen. Die Sprache sucht sich ihre Dichter, so wie der Fluss sein Bett.
Wofür braucht es die russische Kultur?
Der russischen Literatur kann nur ein Text ihre Würde wiedergeben. Ein Sühnetext. Und schreiben kann ihn kein Emigrant, sondern nur jemand, der in der Ukraine im Schützengraben saß und sich Fragen stellte? Wer bin ich? Was mache ich hier? Wozu dieser Krieg? Warum sind wir Russen die Faschisten?
Ob dieser Text jemals geschrieben wird? Das weiß Gott.
Der russische Uroboros
Aus dem Russischen von Andreas Tretner
N: Du sagst, ein neuer Anfang in Russland sei unmöglich, denn dafür müsste es erst einmal an ein Ende gelangen. Doch etwas spricht dafür, dass eine andere Weltordnung als das Gefängnis auch in Russland möglich sein muss: nämlich weil dies der Lauf der Dinge ist, ein Naturgesetz, so wie jeder Fluss am Ende im Ozean landet. Die Menschheit entwickelt sich auf dem Wege der Humanisierung. Anfangs haben sie einem schwächlichen Neugeborenen den Schädel eingedrückt, den Alten nichts mehr zu essen gegeben, das war die Norm. Aber die wandelt sich. Erst musste der Schwache vor dem Stärkeren zurücktreten, heute muss der Starke dem Schwächeren den Vortritt lassen. Die Willkür des Diktators macht dem Rechtsstaat Platz. In einer Welt, in der deine Rechte von wirksamen Gesetzen geschützt werden, lebt es sich leichter und angenehmer als da, wo sie dich jeden Moment nackt machen und in den Knast stecken können. Die ganze Menschheit entwickelt sich dorthin, warum soll Russland da eine Ausnahme machen?
Ы: Der Große Streit unter den Russen, den Nikolai Gogol und Wissarion Belinski einst angezettelt haben, wurde am 24. Februar 2022 ad acta gelegt. Beide Seiten haben verloren. Weder konnte der Glaube an Gott die toten Seelen wiederbeleben, noch haben die Errungenschaften der europäischen Zivilisation, Bildung und Kultur, »Russland erretten« können. Es war ja in dem Streit gerade darum gegangen, wie die Norm zu verändern sei, damit die Totgeborenen zu Menschen, die Knechte zu freien Bürgern werden. Die gesellschaftliche Norm zeigt an, welches Mindestmaß an Niedertracht eine Gesellschaft zum Leben braucht. Niedertracht ist überall in der Welt. Aber in Russland zahlt einen höheren Preis, wer auf sie verzichten will. Gogol suchte mit seiner Nation, dem nicht auserwählten Volk, einen Bund zu schließen: »Man muss den Menschen daran erinnern, dass er kein materielles Stück Vieh ist, sondern Angehöriger einer hohen, himmlischen Nation. Solange er nicht halbwegs das Leben eines Himmelsbürgers führt, wird auch seine irdische Staatszugehörigkeit keine Fortschritte machen.«1 Die toten Seelen sollten in Christus lebendig werden, ganz wie Tschitschikow in Band 3, wenn er sich zuletzt in sibirischer Zwangsarbeit die russische Himmelsbürgerschaft verdient – »erlitten« – haben würde.2 Tschitschikow aber begehrte auf gegen seinen Urheber und legte Feuer an seine russische Blockhütte, nämlich an das Manuskript, in dem er wohnte.
Belinski seinerseits hatte in seinem ewigen Oppositions-Blog geschrieben, Russland sehe seine Rettung »im Fortschreiten der Zivilisation, der Aufklärung und der Menschlichkeit. Es braucht keine Predigten (es hat ihrer genug gehört!), keine Gebete (es hat ihrer genug heruntergeleiert!), sondern das Wiedererwachen des Gefühls der Menschenwürde im Volk, das so viele Jahrhunderte hindurch in Schmutz und Unrat verlorengegangen war – es braucht Rechte und Gesetze, die nicht den Lehren der Kirche entsprechen, sondern dem gesunden Menschenverstand und der Gerechtigkeit, und die möglichst streng gehandhabt werden. Stattdessen bietet Russland den abscheulichen Anblick eines Landes, wo es […] nicht nur keinerlei Garantien für die Unantastbarkeit der Person, der Ehre und des Eigentums gibt, sondern nicht einmal eine Polizeiordnung, nur riesige Korporationen von beamteten Dieben und Räubern!«3
Ein Superschwergewichtskampf, ausgetragen von der russischen Literatur: innere Neugeburt durch Christus vs. Umbau der Gesellschaft. Fjodor Dostojewski hat sich zeit seines Lebens sozusagen am dritten Band der Toten Seelen versucht. Ergebnis seines Mühens: viel heiße Luft und jede Menge Sprengstoff. Das Land ist nicht etwa Aljoscha Karamasow ins Kloster gefolgt, sondern den Dämonen in den revolutionären Terror. Als die Autoren des Almanachs Wechi [Wegzeichen]4 das weiße Handtuch in den Ring warfen, war ein blutiger Brei eingerührt, den wir bis heute auszulöffeln haben.
Jedenfalls kam keine der beiden Ideen zum Tragen: Weder konnte Jesus Christus den Russen zur Himmelsbürgerschaft verhelfen, noch haben Volksbildung, Internet und offene Grenzen zu mehr Zivilisation, Aufklärung und Humanität geführt. Heute besteht die Anleihe, die die Russen bei der europäischen Zivilisation genommen haben, nur noch aus zwei Buchstaben: dem V und dem Z.
N: Allgemeingültige Normen fallen ja nicht vom Himmel, sie werden von Menschen gemacht und geändert. Und dass die Mächtigen zu bestimmen haben, was wahr ist, haben nicht immer alle Russen so gesehen. Der Mensch ändert sich selber auch, er setzt sich seine Lebensregeln neu und bringt dadurch die Gesellschaft dazu, sich zu wandeln. Im August 1968 waren es eine Handvoll Leute, die sich auf den Roten Platz stellten und wussten, dass sie unterliegen würden, mit ihrem Opfer nichts erreichten, und doch hat diese Tat etwas in uns allen verändert.5 Oder denke daran, wie dich in einem späteren August, du warst ein junger Lehrer und gerade in den Ferien auf der Datscha, die Kunde vom Putsch ereilte. Wie du nach Moskau fuhrst zum Weißen Haus, dort waren Tausende und Abertausende auf den Barrikaden. Dort trafst du deine Schüler aus der 9b, deren Klassenlehrer du warst. Damals hast du noch gedacht, du wärst vielleicht doch kein ganz schlechter Lehrer, wenn du ihnen etwas mehr beigebracht hast als nur das Plusquamperfekt. Sie und du, ihr habt das Land vor euren Augen verändert. Und genauso ändert heute derjenige die Weltlage, der mit einem Schild »Nein zum Krieg« auf die Straße geht, um anschließend im Knast zu landen. »Die sieben Leute auf dem Roten Platz sind mindestens sieben Gründe, weshalb wir die Russen niemals werden hassen können«, schrieb seinerzeit eine Prager Zeitung. Jeder, der heute gegen den Krieg demonstriert, ist ein Grund mehr dafür. Es sind Einzelne, aber jemand muss immer den Anfang machen.
Ы: Weißt du noch, wie unsere Grundschullehrerin die Fabel von der Eiche und dem Schilfrohr vortrug? Für uns war’s ein Märchen, für sie gelebte Erfahrung. Die Welt ist fassungslos, dass eine Regierung ihre »Wählerschaft « zum Töten und Verrecken in die Ukraine treibt, und »das Volk bleibt stumm«.6 Wo sind die Millionen auf Russlands Straßen? Wo die Streiks? Sind die Russen tatsächlich eine »Nation von Sklaven«?7 Die Millionen in der übrigen Welt, die gegen diesen Krieg bereits demonstriert haben, können nicht nachvollziehen, dass das Verstummen eine Überlebensstrategie über Generationen hin war und ist. Aber du weißt, wie das geht. In den 1930er Jahren ist unser Großvater zum Kulakenfreund erklärt worden, weil er protestierte, als man seine Kuh für die Kolchose einkassierte. Andere schwiegen und überlebten, er wurde verhaftet und ging im Gulag vor die Hunde. Während Mama in ihrer Schule 1982 der Oberstufe einen Wyssozki-Abend auszurichten erlaubte, obwohl sie von allen Seiten gewarnt worden war, doch lieber »stumm zu bleiben« – man hat sie, die Direktorin, mit einem ordentlichen Skandal von der Schule geschmissen, sie hat das nicht verwunden, der Krebs nahm von ihr Besitz. Solche Geschichten hat es in jeder Familie gegeben.
Ist einer nicht bereit, sich dreinzuschicken und stumm zu bleiben, wird die Macht ihn vernichten. So war es hier immer, von Anfang an, als Fürstin Olga »warägischer Zunge«8 den Genozid an den Derewljanen anzettelte und Alexander Newski im Namen seines Khans aufständischen Nowgorodianern die Augen ausstechen ließ, beides Heilige für die Russen, nebenbei gesagt. Und so ging das fort von einer Station zur nächsten, über Iwan den Schrecklichen zu Jossif Wissarionowitsch, den Vergeltungsaktionen in Tschetschenien und bis hin zum heutigen Genozid an den Ukrainern, die es gewagt haben, ein russisches Kriegsschiff zu verhöhnen. Russlands Geschichte zeigt, wie das Gesetz der natürlichen Auslese funktioniert: Der aktivste, aufgeklärte Teil der Bevölkerung wurde von Staats wegen eliminiert, sofern er nicht ins Exil ging. Bei der Gründung des Russischen Staates hatten Usurpatoren die Finger im Spiel, setzten sie gegen die Einheimischen durch. Die Waräger fingen damit an, die Horde machte so weiter. Herrscher und Volk sind einander fremd. Und der Fremde ist immer der Feind, den zu schonen sich verbietet. Dieses Selektionsexperiment an der russischen Bevölkerung währt seit Jahrhunderten. Eichen wurden ausgerissen, das Schilfrohr pflanzte sich fort. So setzten sich über Generationen hinweg jene Eigenschaften durch, die zum Leben in der Zone.ru am nötigsten waren. Russlands vitale Kräfte und Überlebensinstinkte kulminierten in der Kunst, sich auf die Zunge zu beißen.
N: Das Land hat aber auch die Freiheit gekannt. Es hat Erfahrungen im Kampf für die Demokratie, auch Siege kamen dabei vor. Im Frühling 1917, nach einer wahrhaft vom Volk getragenen Revolution, war Russland das freieste Land der Welt. Die Leute erhielten Rechte, von denen andere Völker nicht zu träumen wagten. Frauenrechte zum Beispiel, wie sie die Schweizerinnen erst ein halbes Jahrhundert später errangen. Auch in den 1990ern – das ist schon unsere eigene Erfahrung – herrschte Freiheit in Russland.
Es stimmt einfach nicht, dass die Russen für die Demokratie noch nicht reif seien. Alle Diktaturen haben letztlich nur den einen Feind: das freie Wort. Es hat am Ende jedes Mal triumphiert. Auch im Duell zwischen dem Dichter und dem Zaren hatte Letzterer nicht die Spur einer Chance.9 Die Russen sind keine Sklaven von Geburt, man hat sie dazu gemacht. Man kann jedes Volk pervertieren – denk nur an die Deutschen. Der Hitlerstaat hatte Zyklon B zur Gesetzesnorm erhoben. Heute ist dort die Verfolgung des Antisemitismus die Norm. Der Staat kann seine Bürger missbrauchen, und er kann sie erziehen. Antisemitismus gibt es überall, den Unterschied macht, ob man ihn ahndet oder fördert.
Systematisch hat die russische Macht ihre Untergebenen, eine Generation nach der anderen, abgehalftert – Menschen wurden zu »Orks« gemacht. Darin bestand die einzig erkennbare Staatspolitik der letzten zwanzig Jahre, die Propaganda hat dafür gesorgt. Vor unseren Augen wurde die Norm in dieser Zeit verrückt, Denunziationen zu Hunderttausenden waren die Folge. In Russland hängt alles vom Staat ab. Russen werden zu Orks, wenn der Staat es so will, oder sie werden zu besseren Schweizern. Eine Nation von Sklaven gibt es nicht. Denk an die Millionen Emigranten, die nicht nur keine Mühe haben, sich in demokratische Normen einzuleben, sondern »mit Herz und Talent«,10 das in Russland lange brachgelegen hat, in einer offenen Gesellschaft zu Anerkennung und Erfolg kommen. Nähme man sie alle zusammen, ergäbe sich das ersehnte »herrliche Russland der Zukunft«11 wie von allein.
Ы: Propaganda fruchtet nur da, wo der Boden bereitet ist. Den meisten Russen ist es schlecht ergangen in der pseudodemokratischen Marktwirtschaft. Generationen hindurch waren die Leute um den Ertrag ihrer Arbeit betrogen worden, bekamen den Prunk des Imperiums dafür. Wurden gegängelt, durften weder für sich denken noch entscheiden. Es glich der Stumpfheit eines lang gedienten Soldaten. Aus den Reihen der Armee entlassen, musste er auf einmal für sein Leben selbst Verantwortung tragen, den eigenen Weg finden. Die Leute sehnten sich zurück nach der alten Übersichtlichkeit, nach Ordnung, Obrigkeit. Als das Land sich nach dem langen Darben der Sowjetzeit zum ersten Mal überfressen hatte, packte es die Melancholie. Genauer gesagt, die berühmte russische toska. Die Leute sehnten sich nach einem klaren Weltbild, nach Grenzen, Frontlinien zwischen dem Eignen und dem Fremden, nach einem, der weiß, wo es langgeht, dem Genossen Kommandeur, dem Großen Sieg, der ruhmvollen Heimat. Von dieser Art Sehnsucht geht ein saurer Geruch aus, so wie es aus Soldatenstiefeln riecht. Ja, zwei Versuche hat es gegeben, das Vaterland zu lüften, um frei darin atmen zu können. In deren Folge ist die Luft noch knapper geworden. 1917 hielt die Freiheit nur Monate, in den 1990ern mit Ach und Krach ein paar Jahre. Jedes Mal, wenn versucht wird, freie Wahlen, eine Verfassung, ein Parlament einzuführen, geht das Land in Anarchie und Banditentum unter und taucht in einem totalitären Imperium wieder auf. Die russische Geschichte hat sich in ihren Schwanz verbissen, würgt und schluckt. Gogol hatte uns alle in eine geflügelte Troika-Kutsche gesetzt, die in die Zukunft fliegen sollte.12 Aber diese seine Zukunft war, bei Lichte besehen, unsere monströse Vergangenheit, das von Leichen übersäte 20. Jahrhundert. Heute würde er Russland wohl mit einer Untergrundbahn vergleichen, die seit hundert Jahren durch die Tunnel rast, im Pendelverkehr zwischen den Endbahnhöfen »Ordnung der Diktatur« und »Chaos der Demokratie«. Nur die ramponierten Stationsschilder werden manchmal ausgewechselt. Einst fuhren wir vom »Zarenreich« in die »1917er Anarchie«, retour ins »Stalinregime« und von da in die »Wilden Neunziger«. Jetzt geht es wieder in die andere Richtung, bis zum Bahnhof »Spezialoperation Z«. Wie die Fahrt dann weitergeht, kann man sich ausmalen.
N: Das heißt aber doch, beim nächsten Mal könnte die Frischluftkur länger währen. Vierzig Jahre in der Wüste, multipliziert mit den langen russischen Wintern … Militärische Siege haben das Regime stets gefestigt, Niederlagen haben sein Ende beschleunigt. Bedenke, womit der Japankrieg endete, der Erste Weltkrieg, Afghanistan! Womit wird die »Spezialoperation« enden?
Ы: Der Zweite Weltkrieg in Europa endete nicht mit Hitlers Selbstmord, sondern mit der vollständigen und endgültigen Zerschlagung des deutschen Staats- und Militärapparats. Der Spatz ist ein Vogel, Russland ist unser Vaterland, der Tod des Mannes, dem ein Köfferchen mit seinen Fäkalien hinterhergetragen wird, ist unausweichlich.13 Eine Deputinisierung wird sich nicht vermeiden lassen, aber durchführen wird sie ein neuer Putin. Und sie wird nicht zum Frieden führen, nur zur »Atempause nach dem ruhmlosen Brest«.14 Neue Putins werden sich durch neue Siege legitimieren müssen. Erleidet das Volk eine Niederlage, so weiß man, es ist der falsche König. Stalin hat man für den Sieg die Millionen von Opfern verziehen. Gorbatschow hingegen hat Afghanistan verspielt und den Kalten Krieg mit dem Westen – dieser Fake Zar! Und seit die Himars-Raketen fliegen, ist auch Putins durch die Krim gewonnene Legitimität dahin.
Das Casting für den nächsten echten Zaren läuft schon. Und auch der wird sein Recht auf den Thron auf die einzige Art zu beweisen haben, die unser Vaterland zulässt: dem Sieg über den Feind, gleich unter welchen Opfern erzielt. Nicht Putin führt Krieg mit der Ukraine und der Welt, es ist das ganze russische Machtsystem, das sich nach jedem Debakel, jedem Zusammenbruch regeneriert. Im Reservat der russischen Geschichte treibt der alte Drache sein Unwesen, es wechseln nur die Avatare: der Ulus der Goldenen Horde oder das Reich der Moskowiter, das Imperium der Romanows, die UdSSR unter Stalin oder die »gelenkte Demokratie«. In der Euphorie vom August 1991 hatte man zum letzten Mal geglaubt, das »Untier plump, bellend aus hundert Mäulern«15 sei in der Vergangenheit versunken. Doch der Zug nahm wieder Fahrt auf, hielt nicht an der Station Destalinisierung, schwänzte den Nürnberger Prozess gegen die KPdSU; das Land ließ sich nicht impfen gegen das Gewesene – und so war nicht das Neue, sondern die Wiederkehr des Alten eine Frage der Zeit. Der Leichnam war nicht beerdigt worden, das gab ihm die Möglichkeit, wiederzuerwachen. Der Ulus häutete sich ein neues Mal. Dieses System kommt ohne Krieg und Feinde nicht aus. Also führt unser Land gegen den Rest der Welt wieder Krieg, der hört nie auf.
N: Trotzdem leuchtet mir die These »Nach Putin kommt Putin« nicht ein. So geht Geschichte doch nicht. Nach Zar Nikolai kam kein Zar Nikolai, nach Stalin kein Stalin.
Ы: Diktaturen erzeugen Untertanen. Untertanen ermöglichen Diktaturen. Das ist wie Dinosaurier und Ei. Wie soll da ein neuer Anfang entstehen?
N: Deutschland hat den Neuanfang zustande gebracht, warum sollte Russland das nicht können? Russland hat eine Stunde Null dringend nötig. Klar, die Deutschen haben sich damals auch herauszureden versucht: Hitler war ein verrückter Verbrecher, aber wir haben von alledem nichts gewusst! Wir, das deutsche Volk, sind genauso Opfer wie alle anderen Völker auch. Roosevelt hat es auf den Punkt gebracht: »Man muss dem ganzen deutschen Volk klar vor Augen halten, dass die ganze Nation an einer unrechtmäßigen Verschwörung gegen die Sitten der modernen Zivilisation teilgenommen hat.«16 Also nicht genug, dass man sie »auf Exkursion« in die KZs schickte, man ließ sie die Toten begraben, Massengräber exhumieren, hängte Plakate mit grässlichen Fotografien von Leichenbergen in den Städten auf – »Diese Stadt ist schuldig! Ihr seid schuldig!« stand darunter. Genauso sollte die Bevölkerung Russlands zur Exhumierung verpflichtet werden, ihre Schuldigkeit vor Augen gehalten bekommen. Jeder Kriegsverbrecher sollte eine gerechte Bestrafung erfahren. Weder die NATO noch die Ukraine werden unser Land wirksam entnazifizieren, das müssen die Russen selber tun. Wir müssen Russland eigenhändig von diesen Abszessen befreien. Ohne Reue und nationales Schuldbekenntnis ist ein neuer, demokratischer Anfang undenkbar. Um sich »von den Knien erheben«17 zu können, muss unser Land erst einmal auf die Knie gehen und Reue zeigen. Mit jedem Tag, mit jedem zerstörten Leben in der Ukraine wird es schmerzlicher, Russe zu sein. Scham und Bitternis. Im Namen meines Volkes, meines Landes und in meinem eigenen Namen werden monströse Verbrechen verübt.
Ы: Eine kollektive Verantwortung führte zur Dezimation wie bei den alten Römern. Eine Kollektivschuld hatten wir auch schon: die Bourgeoisie als Klasse, die Juden als Volk. Jeder soll für die konkreten Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden, die er persönlich begangen hat, oder für die persönliche Unterlassung, die das Verbrechen begünstigt hat. Letztlich sollte jeder seinen persönlichen Prozess bekommen, der seine ureigene Schuld abrechnet. Ich spreche nicht vom Jüngsten Gericht – so etwas gibt es nicht –, sondern von einem Gericht auf Erden. Doch wird es so weit kommen?
N: Man kann unschuldig sein und trotzdem Verantwortung für das Geschehene fühlen. Um Vergebung bitten. Und sei es für sich selbst, weil man doch Russe ist. Aber im Namen meines Volks, meines Landes bei den Ukrainern um Vergebung bitten – wie soll das gehen, wenn meine Landsleute immer noch nicht wissen, was sie tun? Ich bitte für mich um Vergebung im Wissen, dass das, was mein Land anrichtet, nicht zu vergeben ist. Mein Vater ist als Achtzehnjähriger in den Krieg gezogen, um den Tod seines großen Bruders zu rächen. Sein ganzes späteres Leben hat er die Deutschen und alles Deutsche gehasst. Ich habe versucht, ihm etwas über die große deutsche Literatur zu erzählen und die deutsche Sprache, die ich so liebe, die Mühe war vergebens. Was sollen wir den Ukrainern sagen, die ihre von russischen Soldaten getöteten Angehörigen verloren haben und ihre von Grad- und Kalibr-Raketen zerstörten Häuser – wie toll doch die russische Literatur ist, wie wunderbar die Sprache?
Ы: Und wer von denen wird überhaupt Reue zeigen? Wären nicht die flächendeckenden Bombardements gewesen, die Ersetzung der nazistischen Behörden durch die Verwaltungsmacht der Alliierten, die Angst vor Bestrafung – wer von den Deutschen hätte etwas bereut? Wäre Russland fähig, in Irpen, Butscha, Kiew, Prag, Budapest, Vilnius und Taschkent niederzuknien? Was wir zu hören bekommen, wird sein: Ja, Putin war wahnsinnig und ein Verbrecher, aber wir, die einfachen russischen Menschen, wussten es nicht besser, haben gedacht, wir würden die Ukraine vom Faschismus befreien, wir sind genauso Opfer des Putin-Regimes. So bleibt alles beim Alten. Die hauptsächliche Ausrede wird sein: Es betrifft die Obrigkeit, wir haben da nichts zu melden. Gemäß den alten russischen Grundregeln: sich Zeit lassen beim Ausführen eines Befehls, der sowieso bald widerrufen wird; sich möglichst fernhalten von den Vorgesetzten, näher zur Küche hin. Die Verantwortung liegt einzig bei denen da oben, nicht bei dir, Punktum. Aber nicht Putin war’s, der in der Ukraine gemordet, gefoltert, vergewaltigt hat, nicht er hat das Z an sein Wohnungsfenster gemalt, nicht er den Kleinen im Kindergarten dieses Liedlein eingebläut: «Onkel Wowa,18 wir sind an deiner Seite! » Putin ist ein Symptom, die Krankheit ist er nicht.
N: Anerkennung der Schuld wäre der erste Schritt zu einem neuen Anfang. Den haben viele gemacht. Nach Adam Michnik bemisst sich Heimatliebe am Schamgefühl für die im Namen deines Volkes begangenen Untaten. In Russland ist der Anteil derer, die bereit wären, die Schuld einzugestehen und wiedergutzumachen, verschwindend gering, und sie haben an ihrer Unterlegenheit zu kauen. Aber davor muss man keine Angst haben. Auch Tolstoi war einmal unterlegen, Rachmaninow, Malewitsch, die Sieben auf dem Roten Platz 1968 … Man ist in ehrenvoller Gesellschaft.
Richtig ist: Demokratie lässt sich nicht etablieren ohne eine »kritische Masse« an verantwortungsvollen Staatsbürgern, ohne eine reife Zivilgesellschaft. Veränderungen im Land hätten Massenproteste zur Voraussetzung. Dem steht »die Herde« entgegen. Diejenigen, die dem Krieg, Blutrausch und Staatsterror ein Ende setzen wollen und dafür auf die Straße gehen würden, sind vorwiegend in den Städten zuhause. Aber bekanntlich wird Geschichte nicht von der Gesamtbevölkerung geschrieben, sondern von einer Avantgarde der Wagemutigen, die die Massen anführt. So eine kritische Masse könnte in Moskau oder Sankt Petersburg durchaus zusammenkommen. Passierscheine in die russische Zukunft werden in den Hauptstädten, der alten und der neuen, ausgestellt, geschichtsträchtige Ereignisse geschahen immer nur dort. Und sowieso ist allen politischen Umstürzen gemein, dass man nie vorher weiß, welches der Funke ist, aus dem die Flamme schlägt.
Ы: Russland ist ein großes Straflager mit der ihm gemäßen Anschauung von Welt und Ordnung. Jeder Vierte hat gesessen. Die Übrigen sind unter »Knackis« aufgewachsen. Und was der Knast nicht geschafft hat, das tut die Armee. Der Knastjargon, die kriminelle Subkultur, der entsprechende »Moral«-Kodex haben nicht nur Einfluss auf die russländische Gesellschaft von heute – sie sind ihr Fundament, ihre reale Verfassung, auch wenn sie nirgends geschrieben steht. Das Recht des Stärkeren ist das Einzige, was zählt. Danach hat das Land immer gelebt und tut es bis heute. Die Wahlen in Russland könnten noch so frei sein, ein Havel zum Beispiel hätte hier keine Chance.
N: Doch es gibt auch ein anderes Russland. Es hieß immer, Peter der Große hätte das Fenster nach Europa aufgetan,19 in Wirklichkeit schlug er ein Loch in den Boden der alten Arche. Dort strömten Menschen herein, Ideen und Begriffe, die mit dem Ulus nicht kompatibel waren: Menschenwürde, Respekt vor dem Individuum und seinen Rechten, Öffentlichkeit, Literatur. Binnen weniger Generationen haben diese Begriffe Nation und Gesellschaft auf eine tiefgreifende Weise revolutioniert. Heraus kam ein siamesisches Zwillingspaar: ein Körper, doch zwei Köpfe, die einander nicht mehr verstanden. Seither existieren gewissermaßen zwei Völker in Russland nebeneinander her, beide Russisch sprechend, doch mit konträrer Mentalität. Der eine Kopf pflegt als Weltbild die Heilige Rus, Insel in einem Meer von Feinden, weshalb der Landesvater im Kreml sein Volk vor dem Ärgsten bewahren muss. Der andere Kopf ist randvoll mit europäischer Bildung, liberalen Ideen und hängt der Vorstellung an, Russland sei Teil einer allgemeinmenschlichen Zivilisation. Dieser Kopf ist nicht gewillt, in einer patriarchalen Diktatur zu leben, er fordert seine Rechte und Freiheiten ein. Zwei Köpfe und ein Rumpf, sie müssen miteinander auskommen, müssen eine gemeinsame Sprache finden, um sich zu verständigen. Früher oder später bedürfen sie einer Übereinkunft, sie werden sich ändern müssen, um zu überleben.
Ы: Jawohl, dieses Land leidet unter Schizophrenie. Zwei Russland, und jedes hält sich für das wahre. Sie teilen Sprache, Territorium und Geschichte, mehr haben sie nicht miteinander gemein. Und auch die Geschichte spaltet sie eher, die Sprache ebenso, neuerdings leben sie auch noch in getrennten Räumen. Ein endloser Bürgerkrieg, in dem ein wahres Russland gegen das andere wahre Russland beständig den Kürzeren zieht. Gerade wieder. And the winner takes it all. Zwei wahre Russländer kann es eben nicht geben. Eines ist falsch, ist Usurpator. Du weißt, welches. Man sollte endlich stark genug sein, die Niederlage einzugestehen.
N: Wer ist das: man? Wer hat etwas einzugestehen? Die Protestierenden? Zehn-, wenn nicht Hunderttausende von Leuten, die nie für Putin gestimmt haben, zu Protestmeetings kamen, sich in Polizeiwagen abtransportieren ließen! Und diese Proteste waren immer friedlich, was wichtig ist. Die Veränderungen müssen gewaltlos bleiben. Wir müssen aus dem ewigen roten Rad herausfinden.20 Nur ein friedlicher Protest kann das Gewaltparadigma außer Kraft setzen. Wohin das Faustrecht führt, weiß Russland selbst am besten.
Ы: Friedliche Proteste sind ungeeignet für »das Land, aus Birkenbast geflochten «.21 Erzähl den »Kosmonauten«22 etwas von verfassungsmäßigen Rechten, und du kriegst eins übergebraten. Oder bestenfalls – ab in den Polizeiwagen. Im schlimmeren Fall, und das kommt vor, zieht dir ein »Patriot« sein Eisenrohr über den Schädel, oder du kriegst den Feldspaten eines »Vaterlandsverteidigers« ab. Das ist wieder dieser Teufelskreis: Nur friedlicher Protest hat Sinn, doch gegenüber der Gewalt ist er machtlos. Wir haben es in Belarus gesehen, in Moskau und Sankt Petersburg. Zu den Waffen greifen hieße andererseits, ins »rote Rad« wieder einzusteigen. Bleibt wohl nur die Emigration. Der russische Exodus ist voll im Gang. Millionenfach. Soll der neue Anfang am anderen Ufer stattfinden? Auch eine Art von: »Die Grenzen Russlands enden nirgendwo«.23
N: Es geht ums Überleben der russischen Kultur an sich. Wo die russische Sprache herkommt, gibt es Kultur derzeit nur in zensierter Form, also gar nicht, es sei denn im Untergrund. Kunst kann nach dem Prinzip »Leck mich, küss die Hand«24 nicht existieren; wenn einer, um sein Theater zu retten, dem Diktator die Hand oder einen anderen Körperteil küsst, kann er dort hinterher nicht mehr leisten, wozu er berufen ist. In Hitlers Deutschland waren zuletzt auch nur noch Propaganda und Amüsement übrig; Kultur ist ja doch etwas anderes. Ein Künstler, der in Russland bleibt, kann entweder patriotische Lieder singen, oder er verstummt. Emigration ist auch Widerstand. Sie gibt einen starken Impuls – Energie, die bis dahin aufgestaut war. Rachmaninows Sinfonische Tänze gingen daraus hervor, Chagalls Glasmalereien, Bunins Dunkle Alleen, Nabokovs Gabe und Schmeljows Sommer des Herrn. Diese Leute sind nie zurückgekehrt, aber ihre Werke kamen zurück, die russische Kultur. Sie wird auch diesmal irgendwann wiederkommen.
Ы: Aber wird die russische Kultur denn »in der Fremde« überleben? Wie lange kann das gut gehen? Wir haben die Erfahrung der ersten Emigration; wir wissen das, was sie damals von sich noch nicht wussten. Der Bolschewismus, so glaubten sie, würde in kürzester Zeit an ein Ende kommen, dann würden sie in eine freie Heimat zurückkehren. Dieser Gedanke war ihnen eine gewisse Hilfe. Dass diese Rückkehr nicht stattfand, wissen wir heute. Sie konnten nicht absehen, dass die zweite Generation sich noch irgendwie russisch fühlen würde, die dritte nicht mehr. Wir wissen das. Und werden nun miterleben, wie uns die russische Sprache allmählich abhanden kommt, so wie das bei Nabokov war – wenn der Leser in Russland wegfällt; in solcher Entfremdung kann die Literatur höchstens noch ein, zwei Generationen überdauern, dann war es das. Wenn du gelesen werden willst, wechsle ins Englische, Deutsche, Französische. Es ist viel darüber spekuliert worden, wie das Ende der Welt aussehen würde – das Weltende für die russische Kultur lässt sich vorstellen. In der Emigration, bei Facebook oder was danach kommt, geht das Leben noch ein bisschen weiter, bis wir dann abgetreten sind.
N: Vergiss nicht, dass die Zeiten heute andere sind. Wir sind Emigranten des 21. Jahrhunderts. Wir haben Hightech, das hatten die damals nicht. Wenn du vor hundert Jahren nach Argentinien ausgewandert bist oder nach Harbin, selbst nach Serbien, fühltest du dich komplett abgeschnitten von den Metropolen der russischen Emigrantenkultur, Paris, Berlin oder New York. Heute pflegen wir den Internetkontakt, wo immer wir sind, und bilden einen neuen, freien globalen russischen Kulturraum, dem »des Baders Hände«25 nichts anhaben können. Wir sind verlinkt. Die Hauptstadt der russischen Kultur ist da, wo wir sind, ihre Protagonisten, Produzenten und Konsumenten, rund um die Welt. Einst erhoben sich die amerikanischen Kolonien gegen das Imperium und errangen ihre Unabhängigkeit. Die russische kulturelle Diaspora in der modernen Welt ist längst bereit, gegen ihr Mordor aufzubegehren. Nur um Himmels willen keine »Vereinigten Staaten«, keine Republik der russischen Kultur, alles, was in russischer Sprache eine Staatlichkeit beschreibt, riecht faul aus dem Mund. Es geht um eine Deklaration der Unabhängigkeit vom russischen Stiefel. Das wäre der Anfang eines neuen Russland, und es gibt ihn schon – nicht geografisch gesehen, es hat mit Menschen zu tun. Ein Russland ohne Staat.
Ы: Der Krieg geht an keinem vorbei. Auch die russische Kultur steht unter Beschuss, von allen Seiten. Der Hauptstoß kommt natürlich aus dem Mutterland, wo alles erdrückt und plattgemacht wird. Und was soll man sagen, wenn man den Abriss eines Puschkin-Denkmals in der Ukraine mitansehen muss? Man kann nichts dazu sagen, nur hoffen, dass vielleicht ein ukrainischer Dichter einer kommenden Generation seine Stimme zu Puschkins Verteidigung erhebt. Auch in der Emigration wird alles Russische ins Visier genommen. Nicht mit Präzisionswaffen, sondern in der Fläche. Vor hundert Jahren hat man sich auf Europas Straßen nicht schämen müssen, Russisch zu sprechen. Zwar hatten die Russen ihren Bürgerkrieg verloren, aber immerhin hatten sie sich gewehrt. Heute sind alle Russen stigmatisiert – die »guten« wie die »bösen«. Die »guten« deswegen, weil sie alles haben kommen sehen und nichts getan, es zu verhindern. Unser Vaterland hat das Russische zur Sprache von Mördern, von Kriegsverbrechern gemacht, zur Sprache eines faschistoiden Regimes. Der Schandfleck bedeckt das ganze Land. Russland wird heute nicht mit seiner Literatur und Musik in Verbindung gebracht, sondern mit der Bombardierung von Kindern. Jeder auf Russisch geschriebene Text lässt sich mit den Leichen auf den Straßen von Butscha illustrieren.
N: Die russische Kultur hat jetzt endlich einen Sinn gefunden, ihre Aufgabe ist es, zu überleben, und das Überleben hängt davon ab, diesen Krieg zu gewinnen, wir müssen den Anderen helfen zu widerstehen und gemeinsam siegen. Der eigene Staat, dieser besessene Serienmörder, will uns die Sprache nehmen, wie er uns vorher freie Wahlen, das freie Leben genommen hat, die Möglichkeit, dieses Land als das eigene zu empfinden. Jetzt gilt es, der Welt zu beweisen, dass das Russische eine Sprache ist, derer man sich nicht schämen muss. Das Überleben der russischen Kultur hängt ab vom Sieg der Ukraine. Wir müssen Hilfe leisten, wo immer wir können. Buße tun mit dem, was geht, dafür, dass wir Russen sind. Und solange die Ukraine diesen Krieg nicht gewonnen hat, haben wir Russen kein moralisches Recht auf Puschkin, Tolstoi, Tschaikowski und Rachmaninow. Jeder normale Mensch ist heute auf Seiten der Ukrainer, das hat mit Pass und Sprache nichts zu tun. Wer heute Slawa Ukrajini! ruft – jeder sollte es tun –, tut damit den Glauben an eine menschliche Zukunft kund. Es lebe die Ukraine! Ruhm ihren Verteidigern, ewiges Gedenken den Gefallenen. Das Imperium muss fallen.
Ы: Wer soll da glauben? Die Millionen, die schweigen oder mitbrüllen? Ein Russe kann aus dem Imperium emigrieren, nicht aber das Imperium aus dem Russen. Auch die russische Literatur ist mit der Tinte aus dem imperialen Tintenfass geschrieben, ein anderes war nicht da. Darüber zum Beispiel, was Puschkin Den Verleumdern Russlands ins Stammbuch meinte schreiben zu müssen, möchte man lieber nicht reden, oder über Dostojewskis stereotype Figurenentwürfe von »Jidden« und »elenden Polacken«. Auch für Tolstoi war alles Westliche siech, alles Russische liebenswert. Er war ernstlich überzeugt, dass der Russe die europäische Kultur nicht braucht, weil er unter seiner Pelzmütze mit den Ohrenklappen selbst den nötigen Gottesglauben hat und alle Tugenden, all das Herrliche, was er die Anderen erst noch lehren muss.
Die Russen haben keinerlei Immunität gegen das Virus des Patriotismus, das alle Tyrannen in ihren Laboren anzuzüchten pflegen. Der gewöhnlichste Mensch, wenn er an die Grenzen des Reiches denkt, wird zum Nashorn wie in Ionescos Stück. Jetzt sind diese Nashörner in riesigen Herden unterwegs und trampeln nieder, wer oder was ihnen in den Weg kommt, in den Städten Russlands ebenso wie im Internet und in der »russischen Gegenwartsliteratur«. Wo das Vaterland aufhört und das Regime anfängt, davon hat das russische Bewusstsein bis heute keine klare Vorstellung, es wuchert darüber hinweg. Tschikatilos Kinder hatten ihren Vater auch lieb.26
N: Immer gab es auch Leute, die genau wussten, wofür man sein Vaterland lieben sollte und wofür tunlichst nicht. Als die Polen sich »für eure und unsere Freiheit«27 erhoben und russische Truppen die Aufständischen niedermetzelten, fand Bakunin klare Worte für den Patriotismus eines anderen, des wahren Russland: »Ohne mich zu bekümmern, was Andere denken und sagen, die vom Standpunkt eines engen, eitlen Patriotismus zu befinden gewohnt sind, habe ich als Russe offen und entschieden gegen die Existenz des russischen Imperiums als solches protestiert und tue es bis heute. Diesem Imperium wünsche ich alle nur erdenklichen Demütigungen und Niederlagen, weil ich überzeugt bin, dass sein Ruhm und seine Erfolge dem Glück und der Freiheit all jener Völker, russischer wie nichtrussischer, die es heute zwingt und knechtet, allezeit im Wege waren und fürderhin sein werden.«28
Ы: Das ist aber kein Stoff für den Literaturunterricht an russischen Schulen. Die Schriftsteller bilden eine Art Sonderformation im russischen Heer. Da kann einer noch so begabt sein – er dichtet: »Ich will – meine Feder ins Waffenverzeichnis!«29
N: »Kein Wort des Hasses gegen die Russen wurde laut. Das Gefühl, das alle Ukrainer, vom jüngsten bis zum ältesten, diesen Feinden gegenüber hegten, war stärker als der Hass. Sie sagten sich, dass diese russischen Hunde keine Menschen seien, und ein solcher Abscheu und Ekel, ein solches Erstaunen über die sinnlose Grausamkeit dieser Kreaturen ergriff sie, dass der Wunsch sie auszutilgen, wie man Wölfe, Ratten und giftige Spinnen austilgt, ebenso natürlich erschien wie der Trieb der Selbsterhaltung.«30 Das ist Tolstoi! Was er damals über die Tschetschenen schrieb, würde er heute von den Ukrainern sagen. Faschistische Regime haben ihr Tun zu allen Zeiten mit großen Namen zu bemänteln versucht – mit Goethe und Nietzsche die einen, mit Tolstoi und Brodsky die Anderen. Nichts Neues unter der Sonne. Tote sind wehrlos. Wenn Brodsky wüsste, wie sie ihn vereinnahmen,31 er würde sich im Grab umdrehen. Nicht zu reden von Tolstoi: Der hättte ihnen gehörig was erzählt. Um das zu wissen, genügt der eine Satz von ihm: »Patriotismus ist Sklaverei.« Kultur ist das Einzige, was diesem Moloch entgegenstand. Echte Kunst, wahre Kultur bestreitet die Allmacht des Ulus kraft ihrer puren Existenz. Und letztlich geht alles, was es in Russland an Kultur gibt und Bezug zur Weltkultur hat, auf das zurück, was einst durch Gastarbeiter vom Rhein hereingetragen worden ist. Bestellt waren Kanoniere, doch es kamen Menschen und brachten ihren kulturellen Kontext mit, in dem wir seit Generationen leben, ungeachtet aller Versuche seitens der Macht, ihn abzuwürgen. Dem Stummsein widersteht das Wort. Nur darum gilt der Spruch, demzufolge ein Dichter in Russland mehr als ein Dichter sei.32 Darum auch hat der Staat die Kultur stets missbraucht, sie als Maske benutzt, als »menschliches Gesicht«. Darum hat Stalin Schostakowitsch nötig gehabt. Das gegenwärtige Regime verzichtet auf diese Maske, ihm genügt die Band «Ljube».33
Der Weg nach Butscha führt nicht über die russische Literatur, sondern über deren Verfolgung, über die Ausmerzung von Büchern aus Bibliotheken, über Giftschränke, Schmutzkampagnen gegen Pasternak und Solschenizyn, die Erschießung von Gumiljow und Babel, die Namensschilder an den Zehen von Mandelstam und Charms. Der Weg zu diesem Krieg führt nicht über die russische Literatur, sondern über Jahrhunderte verzweifelten und am Ende jedes Mal erfolglosen Widerstands gegen das verbrecherische Wirken des eigenen Staates. Und dieser Widerstand wird weitergehen, allen Niederlagen zum Trotz.
Ы: Und die Niederlagen werden sich fortsetzen. Kultur kann gegen den Stiefel wenig ausrichten. Zumal sie jetzt auch noch unter das Kriegsrecht fällt.
N: Schmerz und Hass werden in den Seelen noch lange wohnen. Und wieder sind es Kunst, Literatur, Kultur, die das Trauma überwinden helfen. Der Diktator wird früher oder später sein nichtswürdiges Leben aushauchen, die Kultur wird ihn überleben – so war es immer, so wird es auch nach Putin sein oder dem, der womöglich nach ihm kommt und den Krieg fortsetzt. Die Literatur muss nicht von Putin handeln, sie muss nicht den Krieg erklären. Der lässt sich sowieso nicht erklären: wie einer einem Volk befehlen kann, ein anderes zu morden. Nein, Literatur ist das, was dem Krieg entgegensteht. Sie handelt vom Bedürfnis des Menschen zu lieben, nicht zu hassen. Die Ukraine wird siegen. Es wird der Sieg der Weltkultur über den russischen Faschismus sein.
Ы: Die Ukraine wird nach dem Sieg eine Zukunft haben, aber ob Russland eine hat? Die ganze Welt wird mithelfen, die Ukraine wieder aufzubauen, während in Russland, von Moskau bis zu den Rändern, nichts als Trümmer in Köpfen und Herzen bleiben. Eine neue Smuta,34 Zeit der Wirren, klopft mit dem Stiefel an die Tür. Aber gesetzt den Fall, es träte ein Wunder ein, und ein neues historisches Möglichkeitsfenster täte sich auf. Ein neues Russland hätte mit freien Wahlen zu beginnen. Wer soll die abhalten? Doch nicht dieselben hunderttausend verschüchterten Lehrerinnen, die an der Fälschung der vorigen ach so freien und ehrlichen Wahlen teilhatten? Und wen wird unser leidgeprüftes Volk dann wohl wählen: die ausländischen Agenten in der Emigration oder doch lieber die Verteidiger der russischen Erde? Und wer geht die Reformen an? Wer ermittelt gegen die Kriegsverbrecher, wer strengt die Prozesse an? Der ganze Apparat – Polizei, Militär, Richter, Beamte – hätte wegen Beteiligung am Krieg auf der Anklagebank zu sitzen. Sollen die sich selber verknacken? Einen König kann man ablösen, Regierung und Parlament kann man auseinanderjagen, aber wie ersetzt man eine Bevölkerung? Wir haben keine andere anzubieten. So wird der radioaktive Halbzerfall des Imperiums sich beschleunigen. Wenn erst Tschetschenien sich abgesetzt hat, werden Weitere durch das Loch im Stacheldraht flüchten. Die Russische Föderation wird sich in Nichts auflösen, von der Karte verschwinden.
N: Ja, der Zerfall des Imperiums wird voranschreiten. Moskau kann es sich nicht mehr leisten, Tschetschenien mit Geld zu überhäufen, und die Tschetschenen werden in die Unabhängigkeit abwandern, andere Regionen und Nationalrepubliken werden folgen. Die Russische Föderation hat sich erledigt. Aber diese Zentrifugalkräfte der Völker und Regionen sind nicht unbedingt destruktiv, sie bewirken Reinigung und Heilung. Der Kollaps des letzten Imperiums ist ein schmerzhafter, aber notwendiger Schritt, ohne den eine demokratische Gesellschaft auf diesem von Größenwahn kontaminierten Territorium nicht zu errichten wäre. Das Bewusstsein der Nation muss lernen, dass es verschiedene Länder mit Russisch als Amtssprache geben kann, dass ein Leben »ohne Zar im Kopf«35 möglich ist. Das Imperium gehört aus dem russischen Gehirnkasten entfernt wie ein bösartiges Geschwür. Erst nach dieser Operation kann man zu Reformen übergehen und das »herrliche Russland der Zukunft« in den neu entstehenden Staaten errichten.
Ы: Die Grammatik der russischen Geschichte kennt nur eine Zeitform: die Zukunft in der Vergangenheit. Glaubst du im Ernst, dass in diesen Gebieten, nur weil sie sich von Moskau losgelöst haben, sogleich demokratisch orientierte Gesellschaften entstehen? Das Putinsche Selbstbedienungsregime hat die demokratische Idee in der Bevölkerung nachhaltig diskreditiert. Dermokratie nennen sie es.36 »Ihr seht doch, wohin uns das gebracht hat!« Wir vergessen, dass diese ganzen wunderbaren Begriffe ja die längste Zeit auf dem Papier standen: Republik, Verfassung, Wahlen. Man muss sich nur die Artikel über staatsbürgerliche Rechte und Freiheiten im Stalinschen Grundgesetz anschauen oder im Putinschen – alles prima! Nein, auf eine »Verfassung« würde das Land sich diesmal gar nicht erst einlassen. Wahrscheinlicher ist, dass ein Machtkampf entbrennt. Neue Gebilde werden auf der Landkarte entstehen, das gewiss – am ehesten aber wohl neue Sultanate, gemixt mit Artefakten wie dem Donbass. Auch in Jugoslawien damals fing umgehend das Gemetzel an, mitsamt den ethnischen Säuberungen. Gewalt wird das Land ein neues Mal um Jahrhunderte zurückwerfen. Im Chaos leben – das will doch keiner. Also wird man sich beizeiten wieder nach der eisernen Hand sehnen, die Ordnung und Stabilität verspricht. So eine fände sich rasch. Selbst wenn es zu freien Wahlen käme – man wählte sich einen neuen Diktator.
Diktaturen entstehen nicht, wenn ein Diktator anklopft; sie entstehen aus dem Ordnungsbedürfnis der Menschen. Das genetische Gedächtnis der Russen käut es wieder: Jede noch so grausige Macht ist besser als keine. Totalitarismus lässt sich nicht ausrufen, hier zieht eine ganze Gesellschaft am Strang. Das Volk in Putins Russland hat darauf verzichtet, die Regierenden und ihr Vorgehen zu kontrollieren, denn diese Kontrolle war ihm bis dahin nie in die Hand gegeben, man wusste gar nicht, was man wie hätte kontrollieren können, das gab das historische Gedächtnis nicht her. So eine Bevölkerung, die auf einen guten Zaren hofft, kannst du nicht im Handumdrehen zum demokratischen Elektorat ausbilden. Übrigens wird auch der Westen dem vielköpfigen Drachen in neuer Staffage bald wieder die Hand reichen, weil er den Atomschrott zu kontrollieren verspricht. So wird die russische Geschichte ihren Schwanz noch ein Stück tiefer verschlingen. Apotheke, Nacht, Laterne.37 Das Untier plump, bellend aus hundert Mäulern.
N: Ja, Russland ist eine gigantische Eiterbeule, aber sie wird platzen. Revolutionen geschehen, weil der Mensch sie braucht, um sich als Mensch zu fühlen. Es braucht im Leben diese Momente, wo du die endlosen Demütigungen nicht mehr erträgst und auf die Straße gehst. Gekämpft werden muss, auch wo kein Sieg möglich erscheint. An jenem Augusttag 1968 an der alten Richtstatt auf dem Roten Platz ging es auch nicht um den Sieg, sondern um die Verteidigung der Ehre. Wer jetzt rausgeht, um gegen den Krieg zu protestieren, setzt sein Leben aufs Spiel; er tut es, weil er keine andere Möglichkeit sieht, seine Würde zu bewahren. Marija Ponomarenko, eine von Tausenden politischen Gefangenen, schrieb aus der Haft: »Wir stehen an der Schwelle zu Veränderungen und haben eine gigantische Arbeit vor uns. Höchste Zeit zusammenzufinden, an sich und an den Sieg zu glauben. Auf bald in einem herrlichen Russland, das (noch) in der Zukunft liegt.«
Jede Generation bekommt ihre Gelegenheiten, auf den Geschmack der Freiheit zu kommen. Zukunft braucht Jugend. Um frei zu atmen, ohne an Putins Brechmitteln zu ersticken, gehen sie friedlich protestieren oder auch auf die Barrikaden. Hier hast du noch ein Argument: Am Ende sind die Jungen den Alten über. Keine Diktatur, und mag sie noch so viel Polizei und Sicherheitskräfte haben, kann Zukunft unterbinden. Nach allen Gesetzen der politischen Biologie bricht das grüne Gras durch den Asphalt.
Ы: Ach ja. Schon vor mehr als einem Jahrhundert sind wunderbare junge Menschen auf die Straßen der russländischen Städte gegangen – gegen Autokratie und Rechtlosigkeit, für Demokratie, für die große Zukunft. Wenn sie gewusst hätten, wohin dieser Kampf führt, wenn sie in die Zukunft hätten blicken können und den Bürgerkrieg, die Erschießung von Geiseln, den Gulag hätten sehen können, wenn sie gewusst hätten, dass sie dereinst einmal die Zeit der verfluchten Autokratie als glückliche Phase erinnern würden – hätten sie dann trotzdem protestiert oder nicht? Menschen meiden Revolutionen wie die Pest. Ein neues »Russland, im Blut gewaschen«,38 Gruben voller Leichen? Die Russen haben sich eine stabile Immunität gegen alle Revolutionen erworben. Eine Volksweisheit, die sich kein Schriftsteller ausdenken kann, besagt: Man soll dem schlechten Zaren nicht den Tod wünschen.
N: Das hast du alles schon mal gesagt.
Ы: Und du sagst auch immer dasselbe. Überhaupt alles, was sich über unser Land sagen lässt, ist schon viele Male gesagt worden. Wir gehen im Kreis. Ein gewisser Möbius hat die russischen Diskurse zur Schleife verklebt. Mit der Zeit ist sie so klebrig geworden, dass die Ideen daran festkleben wie Fliegen. Über Russland sollte man heute besser schweigen. An einen neuen Anfang ist in Russland nicht zu denken, denn dafür müsste es erst einmal an ein Ende gelangen.
Januar 2023
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1 Aus einem Briefentwurf Gogols an Belinski von Anfang August 1847. – Alle Fußnoten vom Übersetzer.
2 Tschitschikow ist der Held in Gogols Roman Tote Seelen (1842), geplant in drei Bänden, von denen nur der erste erschien. Das Manuskript des zweiten hat der Autor kurz vor seinem Tod verbrannt.
3 Aus einem Brief Belinskis an Gogol vom 15. Juli 1847. Übersetzt von Hilde Angarowa.
4 Eine Sammlung philosophischer Essays zur Rolle der Intelligenzija in der russischen Geschichte, erschienen 1909.
5 Am 25. August 1968 demonstrierte eine siebenköpfige Dissidentengruppe gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei.
6 Autorkommentar am Schluss der Tragödie Boris Godunow (1831) von Alexander Puschkin; dort jedoch als Widerstandshandlung zu verstehen.
7 Sprichwörtlich gewordene Reflexion des Journalisten Wolgin in Nikolai Tschernyschewskis Roman Prolog (1871).
8 Aus der Lebensgeschichte der Großfürstin Olga (16. Jahrhundert). Erste Regentin der Kiewer Rus im 10. Jahrhundert.
9 Spielt an auf das Verhältnis zwischen Zar Nikolaus I. und Alexander Puschkin.
10 »Der Teufel muss es gewollt haben, dass ich mit Herz und Talent in Russland auf die Welt gekommen bin«, schrieb Puschkin im letzten Lebensjahr an seine Frau.
11 Eine Formel Alexander Nawalnys und der liberalen Opposition.
12 Apotheose in den Toten Seelen.
13 Bezieht sich auf das Motto von Vladimir Nabokovs Roman Die Gabe (1938): »Die Eiche ist ein Baum. Die Rose ist eine Blume. Der Hirsch ist ein Tier. Der Spatz ist ein Vogel. Russland ist unser Vaterland. Der Tod ist unvermeidlich« (übersetzt von Annelore Engel-Braunschmidt), das wiederum auf Beispielsätzen einer Schulgrammatik aus dem 19. Jahrhundert fußt.
14 Formulierung aus Vladimir Majakowskis Poem Wladimir Iljitsch Lenin (1924); Brest meint hier den Friedensvertrag von Brest-Litowsk 1918, mit dem der Erste Weltkrieg für Sowjetrussland endete.
15 Ein der Reise von Petersburg nach Moskau (Alexander Radischtschew, 1790) vorangestelltes Motto, Fénelons Abenteuern des Telemach entlehnt. Übersetzt von Günter Dalitz.
16 Brief an Henry Morgenthau vom 26. August 1944.
17 Ein geflügeltes Wort in Jelzins Antrittsrede als Staatspräsident 1991, mehrfach aufgegriffen von Putin, z. B. in der Münchner Rede 2007.
18 Koseform für Wladimir.
19 Bezieht sich auf die Gründung Sankt Petersburgs, das der venezianische Reisende
Francesco Algarotti als »Fenster nach Europa« bezeichnet hatte; Puschkin machte
das Bild in dem Gedicht Der eherne Reiter (1837) populär.
20 Das rote Rad, mehrbändiges Romanprojekt Alexander Solschenizyns zur russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, steht hier für die sich verselbständigende revolutionäre Gewalt.
21 »Und das Land, aus Birkenbast geflochten, | | Lockt nicht mehr, es barfuß zu durchstreifen.« Aus Sergej Jessenins Gedicht Kein Bedauern … (1921), übersetzt von Eric Boerner.
22 Gängige Bezeichnung für vollausgerüstete Bereitschaftspolizei.
23 Eine Äußerung Putins gegenüber russischen Schulkindern 2016.
24 Spielt an auf eine Episode in Puschkins Hauptmannstochter.
25 »Die Macht ist widerlich, so wie des Baders Hände.« Ein Mandelstam-Vers aus Ariost (1935), übersetzt von Rainer Kirsch.
26 Tschikatilo war ein Serienmörder in der Sowjetunion der 1970er / 80er Jahre.
27 Der von den sowjetischen Dissidenten wie später von der Solidarność-Bewegung gebrauchte Slogan geht auf den Aufstand der Warschauer Kadetten im November 1830 und deren Solidarisierung mit den russischen Dekabristen zurück.
28 Aus einer Rede zum Kongress der Internationalen Freiheits- und Friedensliga in Genf 1867. Bakunin nimmt darin Bezug auf den polnischen Januaraufstand 1863.
29 Vladimir Majakowski, Nach Hause (1926), übersetzt von Hugo Huppert.
30 Aus Lew Tolstois Erzählung Hadschi Murat (1906), übersetzt von August Scholz. »Tschetschenen« ersetzt durch »Ukrainer« von M. S.
31 Brodskys Pasquille Auf die Unabhängigkeit der Ukraine (1991) wurde nach der Inbesitznahme der Krim 2014 durch russische Staatsmedien kanonisiert.
32 Titelvers eines Gedichts von Jewgeni Jewtuschenko (1965).
33 Moskauer Popgruppe mit patriotischem Liedgut, gilt als Putins Lieblingsband.
34 Agonische Phase in Russlands Geschichte um 1600, ausgelöst durch ungesicherte Thronfolge und Dynastiewechsel.
35 Volkstümliches Idiom im Russischen mit der Bedeutung: sinnloses, verantwortungsloses Handeln.
36 Der’mo, russisch für Scheiße.
37 Aus einem Totentanz-Gedicht von Alexander Blok (1912).
38 Roman von Artjom Wesjoly (1924).
Die Mächtigen entscheiden, was wahr ist
Putin herrscht über die russische Geschichte. Der Horror des Ukraine-Krieges zeigt, das darf nicht so bleiben.
Von Michail Schischkin
Ich bin in einem Land mit einer unberechenbaren Vergangenheit aufgewachsen. Da sind die Schulbücher wie Wetterhähne – sie zeigen an, in welche Richtung der historische Wind gerade weht. Stalin zum Beispiel: Einmal war er «das grösste Genie aller Zeiten und Völker», dann ein Tyrann, der die Sowjetunion in einen Gulag verwandelte und Millionen von Menschen umbringen liess. Heute ist er zum «effektiven Manager» geworden. An welches Stalin-Bild sollen Kinder glauben? Ist die Lehre von der Geschichte Glaube oder Wissenschaft? Oder einfach nur ein politisches Instrument?
Die Vergangenheit ist ein Werkzeug für die Zukunft, deshalb betreiben Politiker mithilfe von Historikern gerne deren Manipulation. Geschichte kann der Kitt sein, der eine Nation zusammenhält und Kriege rechtfertigt. Willfährige Historiker redigieren die Geschichte so, dass sie für die Politik von Vorteil ist. Der «gute Zweck» rechtfertigt die Fälschung von Quellen oder deren einseitige Auswahl.
Die Liebe zum Vaterland scheint die Hebamme der Geschichtsfälschung zu sein. Patriotische Gefühle füllen das Tintenfass der Historiker, die sich um die Gestaltung einer glorreichen Vergangenheit bemühen. Die patriotische Geschichtsfälschung erfolgt stets nach denselben naiven, aber effektiven Mustern: Das eigene Volk wird zum ersten und einzigen Volk erklärt, das seit der Antike auf diesem Territorium lebt, die Existenz anderer Völker oder gar Staaten ebenda wird geleugnet oder totgeschwiegen. Ein Teil des von anderen Völkern oder Staaten bewohnten Nachbarlandes wird als illegal besetzt erklärt und die Rückgabe an den eigentlichen «historischen Eigentümer» gefordert. Offensichtliche Leistungen und Erfolge, die durch kulturelle und technische Anleihen bei anderen erzielt wurden, werden zu Ergebnissen ausschliesslich eigener Bemühungen erklärt. Es werden Feindbilder geschaffen: Nationen und Staaten, die als Rivalen gelten, werden zu heimtückischen, aggressiven Feinden stilisiert, gleichzeitig ist das eigene Volk mit allen Tugenden ausgestattet. Dabei werden unter den echten Quellen, wie etwa Erinnerungen, nur jene Passagen verwendet, die eine bestimmte Interpretation der Ereignisse untermauern.
Seit ihrer Entstehung hatte die russische historische Wissenschaft den Interessen eines von oben gelenkten Staatspatriotismus zu dienen. Die zentrale Frage «Wer sind wir, und woher kommen wir?» war nicht Ausgangspunkt von Geschichtsforschung, sondern Glaubensfrage und Loyalitätserklärung.
Die erste wissenschaftliche historische Debatte in Russland setzte den Ton und das Niveau für eine Polemik, die Jahrhunderte andauern sollte. Im 18. Jahrhundert, als deutsche Gelehrte sich im Land niederliessen, verteidigte der Historiker Gerhard Friedrich Müller in Sankt Petersburg eine Dissertation über die Waräger in der Rus und die durch sie erfolgte Staatsgründung. Der erste russische Gelehrte, Michail Lomonossow, dessen Namen die wichtigste Universität des Landes trägt, verhehlte nicht, dass er weniger gegen die wissenschaftliche Theorie Müllers argumentierte als vielmehr gegen die Verletzung patriotischer Gefühle – «wie es sich für einen treuen Sohn des Vaterlandes gehört».
Gegen die deutschen Opponenten Gerhard Friedrich Müller und Gottlieb Siegfried Bayer, die nach Russland gekommen waren, um an der neu gegründeten Akademie der Wissenschaften zu arbeiten, wurden rein politische Argumente ins Feld geführt. So stellte sich Lomonossow gegen den Historiker Bayer, der für die «normannische Theorie» eintrat, also dafür, dass die Gründung der Kiewer Rus, des mittelalterlichen Vorläufers der heutigen Staaten Russland, Weissrussland und Ukraine, auf skandinavische Einwanderer zurückgeht. Auch beschuldigte er Bayer, Zweifel daran zu streuen, dass der Apostel Andreas tatsächlich nach Russland gereist war, um das Evangelium zu verbreiten. Das war darum unerträglich, weil Peter I. einen Orden zu Ehren Andreas’ des Erstberufenen gestiftet hatte! Und wie konnte Müller es wagen, zu behaupten, dass der ehrwürdige mittelalterliche Chronist Nestor, von der orthodoxen Kirche heiliggesprochen, sich in einer Reihe von Fällen geirrt habe? Das Ergebnis der Streitigkeiten war, dass Müller der Professorentitel aberkannt wurde und seine «Dissertation» unveröffentlicht blieb, weil seine wissenschaftlichen Forschungen zu antipatriotischen Ergebnissen geführt hatten. Damit waren die Grundlagen der wissenschaftlichen Diskussion «à la russe» gelegt. Seit dieser Zeit werden alle historischen Fakten primär aus einem patriotischen Blickwinkel betrachtet. In Russland ist Wissenschaft mehr als Wissenschaft. Oder auch weniger.
Die Geschichte gehört zu den ersten Opfern jeder Diktatur. In Putins Reden und Aufsätzen wird die ohnehin schwierige russisch-ukrainische Vergangenheit brutal vergewaltigt und verzerrt. Seine Hof-Historiker lieferten dem Diktator haarsträubende historische Begründungen für den Krieg gegen die Ukraine.
Dabei wird die Geschichtsfälschung selbstverständlich als Kampf gegen die «Geschichtsfälschung» getarnt. Im September 2020 richtete der Untersuchungsausschuss der Russischen Föderation (um es krass zu sagen, Putins «Gestapo») eine Abteilung zur Bekämpfung der Geschichtsfälschung ein. Memorial, die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete russische Organisation für historische Aufklärung und Aufarbeitung politischer Gewaltherrschaft, wurde zerschlagen, ihre Mitglieder wurden verhaftet oder sind seither auf der Flucht. Darüber hinaus wurde der russische Geschichtswettbewerb für Jugendliche eingestellt. In Moskau begannen die «Letzte Adresse»-Tafeln zum Gedenken an die Opfer politischer Répression unter der Sowjetherrschaft von den Fassaden der Gebäude zu verschwinden.
Die Geschichte wird in Russland wieder einmal nach dem Gusto der Macht umgeschrieben – was einzig und allein aufleuchten soll, sind der militärische Ruhm und die grossen Siege. Die «ruhmreiche Rückübernahme» der Krim steht schon als Kapitel in den Schulgeschichtsbüchern. Das nächste Kapitel sollte wohl so lauten: Wie der verlorene Sohn kriecht die Ukraine auf Knien zurück in die Umarmung der russischen Welt.
Wie zu Zeiten meiner Kindheit feiern die russischen Lehrbücher heute die Rote Armee für die «Befreiung» der baltischen Staaten von Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg. Die Kinder in Lettland, Estland und Litauen lesen in ihren Schulbüchern jedoch von der feindlichen Okkupation ihrer Heimat durch die Sowjetunion. Wie viele Wahrheiten kann es in der Geschichtsschreibung geben? Welche von ihnen ist die «wahrste»? Wer schreibt die «wahre» Geschichte? Wer entscheidet letztlich, was «wahr» ist?
Dass die Geschichte von den Siegern geschrieben wird, ist bekannt. Und so wird denn geschrieben und umgeschrieben, denn es kommen immer wieder neue Sieger. Die Geschichte umzuschreiben, war zu allen Zeiten und in allen Ländern eine der Lieblingsbeschäftigungen der Herrscher. Ägyptische Pharaonen und römische Kaiser betrieben dieses Geschäft. Die Tradition ist also seit langem etabliert, und ihr Grundprinzip ist unverändert geblieben: die Gegenwart als Ergebnis einer glorreichen Vergangenheit zu zeigen.
Geschichte wird von Menschen gemacht und geschrieben, und sie unterliegt der Interpretation. So wenig es die eine Geschichte gibt, so sehr gehört Mut dazu, sich der «Wahrheit der Sieger» zu widersetzen. Die Organisation Memorial und ihre Mitarbeiter hatten den Mut, Putins diktatorischem Regime zu widerstehen. Sie gingen dieses Risiko bewusst ein. Einen Monat vor seinem Tod sagte Boris Nemzow in einem Interview: «Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob er bereit ist, Risiken einzugehen, oder nicht. Ich kann nur für mich sprechen. Ich bin froh, dass ich die Wahrheit sagen kann, dass ich mir selbst treu sein kann und nicht katzbuckeln muss vor den erbärmlichen, diebischen Staatsorganen. Die Freiheit ist ein teures Gut.»
Die Leute von Memorial sind so gesehen keine Opfer. Sie wählten bewusst die Freiheit. Sooft sie die Gelegenheit hatten, sich korrumpieren zu lassen – stets trafen sie selbst ihre Wahl, auch wenn sie damit Gefängnis oder Verfolgung wählten. Sie sind wahrhaft freie Menschen, und ihre Freiheit ist ein teures Gut.
Nun wurde in der Schweiz als Zeichen der Solidarität der Verein Memorial Schweiz gegründet. Schweizer Historiker unterstützen ihre Kollegen bei deren Arbeit gegen die Auslöschung der Erinnerung an die Verbrechen des Sowjetregimes und gegen die Geschichtsfälschungen, zu denen die russischen Behörden bereit sind, um die Aggression gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Es gilt, nicht nur die Wege zur historischen Wahrheit offenzuhalten und die Erinnerung an die Opfer der politischen Repressionen totalitärer Regime weiter zu pflegen, sondern auch Memorial als Menschenrechtsorganisation weiter zu fördern. Geplant sind Ausstellungen, Geschichtswettbewerbe, Veröffentlichungen.
Und es soll nicht nur um den europäischen Osten gehen. Auch die Schweiz steht vor der Entscheidung: Soll die strikte Neutralität für die um ihre Freiheit und Existenz gegen Russland ringende Ukraine aufgeweicht werden, so dass indirekte oder direkte Waffenlieferungen möglich werden, die das Ende dieses Krieges beschleunigen helfen?
Geschichte ist nicht einfach Geschichte. Geschichte wird heute von uns allen, von jeder und jedem gemacht. Für Memorial Schweiz gibt es viel zu tun.
“Heimat erwartet Euch!”
“Friedenszeitung”, Nr.44, März, 2023
Im Frühjahr 2014 konnte die Welt Bilder aus der Krim sehen: Jubelnde Menschen auf den Strassen feierten „die Rückkehr nach Hause“. Glückliche Gesichter voller Hoffnung. Leuchtende Augen. Das erinnerte mich an die Bilder aus einem Dokumentarfilm aus dem Jahre 1945.
Das Schweizerische Staatsfilmarchiv, die Cinémathèque suisse in Lausanne, bewahrt dokumentarisches Filmmaterial über russische Internierte während des Zweiten Weltkriegs auf. Aufnahmen vom Sommer 1945. Sehr kurz, zehn Minuten. Die russische Sprache, russische Gesichter vor der Kulisse der Alpen.
Die letzten Aufnahmen des Films über die russischen Internierten in der Schweiz wurden am Bahnhof St. Margrethen gedreht. Ein Abschiedstreffen auf Schweizer Gebiet, vor dem Einsteigen in den Zug. Hunderte von ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen sitzen an einem Hang in der Nähe der Bahngleise. Es sieht seltsam aus, denn alle sind in amerikanische Uniformen gekleidet, haben feste Ami-Boots an den Füssen und Ami-Mützen auf dem Kopf. Sie schauen auf eine provisorische Tribüne, geschmückt mit roten Fahnen und einem riesigen Stalin-Bild.
Der Redner, ein Major des NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten und Vorläuferorganisation des KGB), brüllt Siegesparolen, schwört auf das Vaterland ein. „Kameraden! Jetzt geht ihr nach Hause in die Sowjetunion!“ Alle applaudieren, rufen „Hurra!“ „Wir haben gewonnen, weil der weiseste der weisesten Führer die Sowjetunion zum Sieg geführt hat …“ Wieder „Hurra!“, alle springen auf, endloser Beifallssturm. Jubelnde Menschen feiern „die Rückkehr nach Hause“. Glückliche Gesichter voller Hoffnung. Leuchtende Augen.
1945 kehrten sie ins Land des Gulags zurück. 2014 führte „der Weg nach Hause“ in die putinsche Diktatur.
Während des Krieges flüchteten russische Kriegsgefangene aus Deutschland über den Rhein und den Bodensee in die Schweiz. Wie viele von ihnen starben, bevor sie das Schweizer Ufer erreichten, wird niemand je erfahren. Im Winter 1942 wurden mehrere erfrorene Leichen von sowjetischen Kriegsgefangenen von Einheimischen abgeholt und auf dem örtlichen Friedhof begraben.
Aber lebend an Land zu kommen, bedeutete auch keine Rettung. Die Schweizer Grenze war dicht. Die Grenzschutzbeamten hatten den Befehl, Flüchtlinge zurückzuschicken. Es ist bekannt, dass Schweizer Soldaten und Offiziere bei Nichteinhaltung dieses Befehls bestraft wurden.
Die Zahl der aus Deutschland fliehenden sowjetischen Kriegsgefangenen nahm zu, und die Schweizer Behörden begannen, sie in Internierungslagern zu sammeln. Die ersten offiziellen Angaben beziehen sich auf den September 1942: 36 ehemalige sowjetische Offiziere und Soldaten baten in der Schweiz um Asyl. Mit den Briten und Amerikanern war die Situation einfacher, aber die Sowjetunion hat das Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen nicht unterzeichnet – auch deshalb, weil für gefangene Sowjetbürger in ihrer Heimat der Grundsatz galt: „Wir haben keine Gefangenen, nur Deserteure.“ Ausserdem gab es keine diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und der Sowjetunion. Dennoch zeigte die Schweiz guten Willen und begann, sowjetische Kriegsgefangene aufzunehmen. Damit rettete sie Hunderten, ja Tausenden von Russen, die dann in der Schweiz landeten, das Leben.
Die erste Gruppe ehemaliger russischer Kriegsgefangener wurde im Dezember 1942 in das Lager Andelfingen im Kanton Zürich gebracht. Am 1. August 1944 befanden sich bereits 900 russische Internierte in der Schweiz, und ihre Zahl stieg stetig an. Nach einer dreiwöchigen Quarantäne wurden die Menschen in über die ganze Schweiz verstreute Lager gebracht.
Meist wurden die Internierten in Kasernen untergebracht, in denen früher die zur Militärausbildung einberufenen Schweizer wohnten. Gewöhnliche Kriegsgefangene wurden zum Arbeiten eingesetzt: Sie reparierten Strassen, gruben Entwässerungsgräben und halfen auf Bauernhöfen. Sie verdienten 2 Franken am Tag, was den Tarifen für Schweizer Saisonarbeiter entsprach. Die Lager wurden ständig von den Schweizer Behörden inspiziert, darunter Parlamentarier und Vertreter des Roten Kreuzes. Alle Internierten wurden einer obligatorischen ärztlichen Untersuchung unterzogen. Die an Tuberkulose Erkrankten schickte man zur Behandlung in eine Klinik und ein Sanatorium in Leysin, hoch über dem Genfer See in den Bergen.
Die Offiziere wurden getrennt von den gewöhnlichen Kriegsgefangenen in Hotels untergebracht und von der Arbeit freigestellt. Im Kurort Bains de l’Alliaz in den Bergen oberhalb von Montreux zum Beispiel waren 34 sowjetische Offiziere in einem örtlichen Hotel einquartiert. Sie beklagten sich über die Isolation und die Langeweile, weshalb sie im Juni 1944 in einen anderen Ferienort, nach Arosa, verlegt wurden. Der andere Teil der sowjetischen Offiziere wurde in einem Lager in La Neuveville untergebracht, das ebenfalls wie ein Hotel eingerichtet war.
Der ehemalige Schweizer Offizier Max Gygax beschrieb seine Begegnung mit zwei Russen: „So hatte ich im Frühling 1945 als Oberleutnant Gelegenheit, mich zweier russischer Offiziere anzunehmen, die aus deutscher Gefangenschaft in die Schweiz geflüchtet waren. Mein Auftrag lautete, die beiden wenigstens ansatzweise mit schweizerischen Lebensformen und Demokratie bekannt zu machen. Da ich die russische Sprache nicht beherrschte, wurde mir ein Dolmetscher zugeteilt.“
Max Gygax schreibt in seinen Memoiren im Jahrbuch des Oberargaus 2003 über seine russischen Bekannten: „Oberst Iwan Sidortschuk, Kommandeur einer Artillerie-Division, und Kompanie-Chef Oberleutnant Alexander Michailow waren in der Kesselschlacht von Woronesch mit grossen Teilen ihrer Armeegruppe gefangen genommen und nach wechselvollen Transporten in ein deutsches Gefangenenlager gesteckt worden. In der Nähe von Stuttgart kamen sie zum Arbeitseinsatz in einen Steinbruch. Über diese Zeit erzählten sie nur ungern, denn die dort erlittenen Demütigungen nagten auch nach der Flucht in die Schweiz noch an ihnen. Mehr als die miserable Verpflegung beklagten sie die völlig rechtlose und verächtliche Stellung gegenüber der Zivilbevölkerung, wurden sie doch auf ihrem täglichen Marsch zur Arbeit sogar von Kindern bespuckt und mit Schmutz beworfen. … Die ersten zwei Tage unseres Beisammenseins in Langenthal dienten dem gegenseitigen Kennenlernen. Beide Russen waren in sich gekehrt und voll Misstrauen. Vor allem begriffen sie anfänglich nicht, dass sie es nicht mehr mit Deutschen zu tun hatten, da wir doch das ihnen so verhasste Idiom sprachen. Der Bann der schweigsamen Zurückhaltung löste sich dann ganz unverhofft in unserem Materialmagazin, wo gerade die Kompaniewaffen retabliert wurden. Geradewegs steuerten sie auf unsere Maschinenpistolen zu, die in Reih und Glied am Nagel hingen, und erklärten strahlend: „Kennen wir auch!“ Es war nämlich ein finnisches Modell und ihnen daher aus nahe liegenden Gründen vertraut. Wir packten die Gelegenheit beim Schopf und veranstalteten gleich vor dem Materialmagazin ein Karabinerwettschiessen mit dem Lienhard-Einsatzlauf. Der Sieg fiel an unseren hervorragend schiessenden Feldwebel, die Russen figurierten unter „ferner liefen“.“ Auf diese eigenartige Weise entstand ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Schweizer und den beiden Russen.
„Unser Einvernehmen wurde sozusagen herzlich; nicht nur stellten sie plötzlich Fragen über Fragen und erzählten auch über ihr privates und das Leben im Krieg. Wie gross ihr Interesse an unseren Einrichtungen war, geht z.B. daraus hervor, dass Sidortschuk eines Tages fast zwei Stunden auf dem Bahnhof Langenthal stehen blieb und sich anhand des Fahrplans und der durchfahrenden Züge überzeugte, dass die Regelmässigkeit und Dichte unserer Zugverbindungen tatsächlich existiere und nicht ein Potemkinsches Dorf sei. Gerade der Verkehr, den wir als selbstverständlich betrachten, machte ihm übrigens einen gewaltigen Eindruck.“
Der Schweizer nahm seinen Auftrag, die Russen in die schweizer Lebensweise einzuführen, mit grosser Verantwortung an. „Unvergesslich bleibt der Besuch auf einem Bauernhof in der Nähe von Langenthal. Nachdem der junge Bauer uns durch den Stall geführt und den ganzen Betrieb gezeigt hatte, offerierte seine Frau in der Küche einen Imbiss. Dann holte der Kavallerist seinen Karabiner und die Taschenmunition, und wir erklärten den beiden Russen, dass fast eine halbe Million Schweizer das Gewehr samt Munition daheim im Wandschrank stehen hätten, um jederzeit darüber verfügen zu können, wenn es nötig sein sollte. Ich weiss noch heute nicht, ob sie an ein abgekartetes Manöver glaubten oder nicht, jedenfalls schüttelten sie die Köpfe und tauschten sichtlich irritiert Kommentare aus, die nicht einmal der Dolmetscher verstand“.
„Sehr begierig waren beide Offiziere zu erfahren, – fährt der Memoirenschreiber fort – wie der schweizerische Arbeiter unter dem kapitalistischen System lebe. Hier äusserten sie bis zum Schluss das grösste Misstrauen, weil sie stets meinten, wir wollten ihnen Sand in die Augen streuen. Fassungslos staunten sie beispielweise, als wir ihnen von aussen und innen ein sauberes Einfamilienhaus zeigten, das, wie ihnen der Arbeiter aus der Porzellanfabrik persönlich erklärte, sein Eigentum sei. Angesichts des Badezimmers und der blitzsauberen Küche behaupteten sie, das könne nur einem Kapitalisten, niemals aber einem Arbeiter gehören.“
Zum besten Anschauungsunterricht in Demokratie gestaltete sich ungeplant das Jahresfest der Studentenverbindung „Helvetia“, das Anfang Mai 1945 in Langenthal stattfand. „Wir schauten uns den Festzug von der Treppe des Hotel Kreuz aus an, und wer marschierte da gleich an der Spitze? Zwischen zwei Kommilitonen, die rote Mütze schräg auf dem Kopf, erblickten wir Bundesrat Stampfli! Ich machte unsere Russen sogleich aufmerksam, dass sie eben den schweizerischen Volkswirtschaftsminister sehen könnten, einen Mann etwa im Range ihres Kaganowitschs oder Molotows. Die beiden waren baff, und Sidortschuk fragte sofort, wo er denn die Leibwache habe. Das ergab wieder eine Gelegenheit, ihnen etwas über unsere demokratischen Spielregeln zu erzählen.“ Die Demokratiestunde wurde im Festzelt fortgesetzt, wo der Schweizer Minister sein Bier an einem Tisch neben den russischen Internierten trank.
Max Gygax beendet seinen Bericht mit folgenden Worten: „Ich weiss nicht, was aus Sidortschuk und Michailow geworden ist. Geblieben sind mir die Erinnerung, eine russische Widmung in einem Notizbuch und ein paar deutsche Markscheine, die sie mir schenkten, weil sie sonst nichts besassen“.
Auf Sidortschuk und Michailow wartete zu Hause SMERSCH (ein Akronym aus „Smert spionam!“ für „Tod den Spionen“), das berüchtigte Strafkommando. Die in die Sowjetunion zurückkehrenden Kriegsgefangenen wurden von Filtrationskommissionen geprüft und in Straflager geschickt.
In der Schweiz wurden während des Krieges auch Frauen interniert. Von März bis Mitte September 1945 wohnten die nach Deutschland verschleppten und in die Schweiz geflüchteten Frauen im Hotel Sonnenberg in den Bergen oberhalb von Luzern.
1945 war die Juni-Ausgabe der Frauenzeitschrift „SIE UND ER“ den russischen Frauen gewidmet – auf dem Titelbild eine blonde Schönheit mit breitem Lächeln. Der Artikel trägt den Titel Wie russische Frauen in der Schweiz leben. Aufgenommen auf der weitläufigen Terrasse des Hotels hoch über dem Vierwaldstätter See, zeigen die Fotografien junge Frauen, die in Sesseln sitzen, stricken und nähen. Nadya aus Pskow und Maria aus Kiew erzählten einem Schweizer Korrespondenten, wie sie zur Arbeit nach Deutschland gebracht wurden und wie ihnen die Flucht in die Schweiz gelang. In Deutschland hatten sie es sehr schwer, aber hier fühlen sie sich „wie in einem goldenen Käfig“ und wollen unbedingt so schnell wie möglich nach Hause, in ihre Heimat.
Die russischen Internierten wurden von verschiedenen öffentlichen Organisationen unterstützt, zum Beispiel vom Schweizerischen Arbeiterhilfswerk. Im Februar 1944 wurde die Gesellschaft Schweiz-UdSSR gegründet. Zum ersten Präsidenten wurde der Jurist Fritz Heeb gewählt. Viele Jahre später wurde er Anwalt von Alexander Solschenizyn und kümmerte sich um die Angelegenheiten des Schriftstellers im Westen. Damals, während des Krieges, sammelten Aktivisten der Gesellschaft Kleidung für russische Internierte, schenkten den Lagern Bibliotheken mit russischen Büchern, Musikinstrumenten und Schallplatten, arrangierten Vorführungen sowjetischer Filme und verteilten Berichte des sowjetischen Informationsbüros. Der Verein organisierte in Zürich eine „Woche des sowjetischen Kinos“ – alle Einnahmen aus den Eintrittskarten kamen den Internierten zugute. In den Lagern wurden Deutschkurse angeboten. In Andelfingen meldeten sich zunächst 38 Personen an, doch eine Woche später mussten die Kurse abgesagt werden, da niemand zum Unterricht erschien.
Die grösste Welle ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener und „Ostarbeiter“ kam Ende April 1945. In Süddeutschland herrschte Chaos, denn die französischen Truppen besetzten deutsche Städte, ohne auf Widerstand zu stossen. In den letzten Kriegstagen überschritten 2 602 Russen die Schweizer Grenze bei Rheinfelden über die Rheinbrücke. Insgesamt 8 000 russische Kriegsgefangene flüchteten im letzten Kriegsmonat in die Alpenrepublik.
Am 27. Juli 1945 traf eine sowjetische Repatriierungskommission unter der Leitung von Generalmajor Alexander Vikhorev in Bern ein. Die sowjetische Delegation besuchte die Internierungslager, und jedem wurde eine Broschüre mit dem Titel Die Heimat erwartet euch, Genossen ausgehändigt.
Wussten diese Menschen, was mit ihnen passieren würde?
Jeder von ihnen hatte die Möglichkeit, die Schweiz nicht zu verlassen. Wer nicht zurückkehren wollte, beantragte politisches Asyl. Ihnen allen wurde die Möglichkeit gegeben, im Westen zu bleiben. Die Zeitungen haben sich für diese Menschen eingesetzt. Das offizielle Bern erklärte mehrfach, dass „niemand mit Gewalt in die Waggons für Heimkehrer gesteckt wird“.
Die Einheimischen der baltischen Länder weigerten sich, mitzukommen. Auch Muslime aus Aserbaidschan, Krimtataren. Kosaken. Unter denjenigen, die sich der Repatriierung verweigerten, waren nur sehr wenige Russen. Zu ihnen gehörten der Militäringenieur Wladimir Nowikow und der Militärpilot Gennadi Kochetow. Im Gegensatz zu anderen wollte das Heimatland diese beiden um jeden Preis zurückholen. Nowikow war ein hochrangiger Spezialist, ein Entwickler von Raketensystemen. Er war 34 Jahre alt. Kochetow, ein 23-jähriger Kampfpilot, war gegen Ende des Krieges in die Schweiz geflohen. Am 25. August 1945 landete ein sowjetisches Jagdflugzeug vom Typ Yak-9 auf dem Militärflugplatz Dübendorf bei Zürich. Der Pilot beantragte politisches Asyl.
Als Reaktion auf die sowjetischen Forderungen nach einer Auslieferung Kochetows erklärten sich die Schweizer Behörden bereit, das Flugzeug zurückzugeben, verweigerten aber die Auslieferung des Piloten unter Berufung auf die traditionellen demokratischen Grundsätze der Schweiz. Der Bundesrat wies in einer offiziellen Ablehnung darauf hin, dass die Männer selbst die Rückkehr verweigerten und ihre erzwungene Auslieferung eine Verletzung des humanitären Rechts darstellen würde.
Daraufhin unterbreitete die Sowjetunion der demokratischen Schweiz ein Angebot, das sie nicht ablehnen konnte. Spezielle Gruppen des NKWD nahmen fünf Schweizer Diplomaten als Geiseln. Harald Feller und Max Meier wurden in Budapest verhaftet – auf die gleiche Weise, wie zuvor der berühmte schwedische Diplomat Raoul Wallenberg, der während des Krieges ungarische Juden gerettet hatte, dort verschwunden. Die beiden Schweizer sollten das Schicksal ihres Kollegen teilen, der im Gulag verschwand. Zwei weitere Schweizer Konsularbeamte wurden in der sowjetischen Besatzungszone in Ostpreußen und ein weiterer in der Mandschurei, in Harbin, entführt.
Am letzten Tag seines Aufenthalts in der Schweiz, dem 29. Dezember 1945, erklärte Generalmajor Vikhorew, Leiter der sowjetischen Repatriierungskommission, gegenüber der Schweizer Seite seine Bereitschaft, Nowikow und Kochetow gegen Schweizer Diplomaten auszutauschen. Die Taktik der Geiselnahme ging auf. Der eilig versammelte Bundesrat tagte nicht lange. Es ging darum, das Leben von Schweizer Bürgern zu retten. Nowikow und Kochetow wurden noch am selben Tag ausgeliefert und flogen mit demselben Flugzeug wie die sowjetische Rückführungskommission ab. Die Schweizer Diplomaten wurden einige Wochen später freigelassen. Dies war der Beginn der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen unseren Ländern im Jahr 1946.
Kochetov wurde erschossen. Nowikow setzte seine Arbeit als Raketenkonstrukteur hinter Stacheldraht in einer “Scharaschka”, einem Arbeitslager für Wissenschaftler und Ingenieure, fort.
Die Gesamtzahl der in der Schweiz verbliebenen Personen betrug etwa 850, davon 376 „Muslime“ und 292 Balten. In den folgenden Jahren zogen einige in die Türkei, andere nach Amerika.
Der Rest kehrte freiwillig zurück.
Am 11. August 1945 verliess der erste Zug den Bahnhof St. Margrethen an der Grenze zu Österreich. Bis zum 30. August fuhren neun weitere Züge ab. Danach folgten mehrere Züge mit Zivilisten.
Zur Episode der russischen Kriegsgeflüchteten in der Schweiz gehört auch eine melodramatische Geschichte. Im September 1945 betrat ein sowjetischer Internierter, Leutnant Gluschkow, am Vorabend seiner Heimkehr in Kirchberg bei Bern ein Café und erschoss nach einem langen Gespräch ein Mädchen, die Tochter des Restaurantbesitzers, mit einer Pistole. Anschliessend schoss er sich selbst in die Brust. Welche Liebesgeschichte zwischen der jungen Schweizerin und dem jungen sowjetischen Offizier hatte zu dieser Tragödie geführt? Das wird das Geheimnis der beiden bleiben. Aus den Dokumenten geht lediglich hervor, dass die sowjetische Delegation den Angehörigen der ermordeten Frau offizielle Entschuldigungen und Beileidsbekundungen aussprechen musste.
Die letzten Aufnahmen des Films von 1945 zeigen die Rückkehr in die Heimat. Züge mit Russen verlassen die Schweiz. Die Waggons sind mit roten Fahnen und Slogans geschmückt: „Nach Hause!“ „Hallo, Mutterland!“ Fröhliche Gesichter blicken aus den Fenstern. Winkende Hände.
Regina Kägi-Fuchsmann, eine Schweizer Flüchtlingshelferin und humanitäre Aktivistin, schrieb in ihren Erinnerungen Das gute Herz genügt nicht. Mein Leben und meine Arbeit: „Eine nette Krankenschwester blieb ein paar Wochen bei mir, während sie sich auf die Abreise vorbereitete. Sie sagte mir: „Wir werden alle sterben. Russland kann es sich nicht leisten, so viele Menschen aufzunehmen, die den Westen gesehen haben. Wenn ich noch lebe, werde ich dir schreiben.“ Ich bekam eine Postkarte aus Salzburg ohne Unterschrift: „Leb wohl!“ Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.“
Podiumsdiskussion: Putins Krieg – Der russische Überfall und seine Folgen
In Weimar diskutieren: Dr. Wolfgang Schäuble, ZDF-Reporterin Katrin Eigendorf, “Memorial”-Mitbegründerin Prof. Dr. Irina Scherbakowa, die ukrainisch-deutsche Publizistin Marina Weisband und Michail Schischkin.
Putin und der totale Krieg – Goebbels Sportpalastrede reloaded
Ein Gespräch mit Michail Schischkin
3SAT, “Kulturzeit”, 20.02.2023
Der Ukraine-Krieg ist für Putin zur Obsession geworden – denn seine Macht braucht den Sieg, um sich zu legitimieren. Befeuert von einer Propaganda, die das Volk glauben lässt, es gehe um etwas, das größer ist als das eigene Leben. Eine Propaganda im Stile von Joseph Goebbels.
“Das haben alle Diktatoren perfekt seit Jahrhunderten gemacht”, sagt der Schriftsteller Michail Schischkin. “Leute glauben, ihre Heimat zu verteidigen. Vor den Feinden, vor den Faschisten. In Wirklichkeit verteidigen Sie das kriminelle Putinsche Regime.” Michail Schischkin wurde einst in Russland als wichtigster Gegenwartsautor gefeiert, heute gilt er dort als “Verräter”. Der Autor von Frieden oder Krieg, der heute in der Schweiz lebt, will wachrütteln. Er zieht Parallelen zwischen Russland und Nazi-Deutschland. “Der ganze Hass von Hitler galt Juden, das war seine Obsession. Der ganze Hass von Putin gilt Ukrainern. Viele Leute verstehen nicht, wie Putin und seine Macht und seine Diktatur funktionieren. Deshalb muss man die Struktur zeigen. Und diese Struktur dieser Putinschen kriminellen Diktatur ist die gleiche wie bei Hitler.”
Hitler habe es geschafft, das deutsche Volk seelisch zu verseuchen, Putin habe dies mit seinem Volk getan, so Schischkin. Mit einer Propaganda in Goebbels Stil – nur dass heute Moderatoren wie Wladimir Solowjow diese im Staatsfernsehen präsentierten. Entmenschlichung und Enthemmung – auf allen Kanälen. Solowjow sei der russische Goebbels von heute, meint Schischkin. “Er versteht, wenn Russland verliert hat er keine keine Chance zu überleben. Deshalb versucht die Propaganda, versuchen alle Leute um Putin herum diesen Krieg so total wie möglich zu machen.” “Der totale Krieg” – ein Begriff, den Joseph Göbbels geprägt hat. Mit dieser Forderung meint der Propagandaminister Hitlers den Lauf des Zweiten Weltkrieges verändern zu können. 1943 erleidet Deutschland in Stalingrad eine Niederlage. Das Regime befindet sich in seiner größten Krise. Am 18. Februar beschwört Goebbels im Berliner Sportpalast vor 15.000 handverlesenen Besuchern eine totale Kriegsführung, der sich alles unterordnen soll. “Göbbels versuchte die Situation zu nutzen, um sich weiter an die Spitze des Regimes vorzuarbeite”, sagt der Historiker Peter Longerich. “Er wollte die Verantwortung für die gesamte innere Kriegsführung übernehmen. Und diese Rede war ein wichtiger Bestandteil seiner Strategie, sozusagen diejenigen, die in der Führung noch zögerten, mitzureißen und ihnen zu signalisieren: Das Volk will ja den totalen Krieg. Für den Historiker Longerich ist die Sportpalastrede ein Beispiel dafür, wie Propaganda stets den eigenen Machthunger als Volkswillen verkauft. Sein neues Buch “Die Sportpalastrede 1943” legt zentrale Motive dieser Propaganda offen. Die Selbststilisierung als Opfer mächtiger Feinde, denen man in historischer Mission entgegentritt.
Russische Deutschstunde mit Thomas Mann
„Das russische Volk ist stark im Hinnehmen, und da es die Freiheit nicht liebt, sondern sie als Verwahrlosung empfindet, weshalb sie ihm denn auch wirklich gewissermaßen zur Verwahrlosung gereicht, so wird es trotz schweren Desillusionierungen sich unter der neuen, roh-disziplinären Verfassung immer noch besser und richtiger in Form fühlen, immer noch ,glücklicher‘ sein als unter der Republik. Die unbeschränkten Belügungs-, Betäubungs- und Verdummungsmittel des Regimes kommen hinzu. Das intellektuelle und moralische Niveau ist längst so tief gesunken, dass der zu der eigentlichen Empörung notwendige Schwung einfach nicht aufzubringen ist.“
In diesem Zitat aus dem Brief von Thomas Mann an René Schickele (2. April 1934) habe ich nur ein Wort ersetzt: „deutsch“ durch „russisch“. Die historischen Parallelen zwischen Nazi-Deutschland und Putin-Russland sind frappierend. Die jüngste russische Geschichte hat den deutschen Klassiker zu unserem Zeitgenossen gemacht.
Sein ganzes Leben lang führte Thomas Mann ein Gespräch mit der russischen Literatur, noch kurz vor seinem Tod hat er über Tschechow geschrieben. Als junger Autor nahm er bei den russischen Schriftstellern Unterricht im Schreiben, jetzt erteilt er uns Unterricht im Überleben in Zeiten des Faschismus.
Russische Kulturschaffende können heute besser nachvollziehen, was Thomas Mann und andere deutsche Intellektuelle erlebten: Die Sprache Puschkins und Tolstois wurde zur Sprache von Kriegsverbrechern und Mördern. Russland wird auf absehbare Zeit nicht mit russischer Musik und Literatur assoziiert, sondern mit Bomben, die auf Kinder fallen.
Hitler schaffte es, das deutsche Volk seelisch zu verseuchen, und Putin hat es mit meinem Volk getan. An die Macht brachten ihn die Explosionen der Wohnhäuser in Moskau 1999, die zum Vorwand für einen genozidalen Tschetschenienkrieg wurden, den, abgesehen von ein paar Dissidenten, fast alle Russen unterstützten.
1940 nannte Thomas Mann die deutschen Siege „Schritte in einem endlosen Sumpf“. Russland hat diese Schritte in den Abgrund fast buchstäblich wiederholt. Offene rassistische Propaganda im Goebbels-Stil. „Russkij mir“ als Großdeutschland. Die Krim als Sudetenland. Ukrainerhass als Judenhass. Putin als Führer: „Gibt es Putin – gibt es Russland!“
Leiden an Deutschland – so nannte Thomas Mann seine Tagebücher. In den Dreißigerjahren warnte er in vielen Publikationen vor der Gefahr des Hitler-Regimes und wurde von seinen Landsleuten nicht gehört. „Leiden an Russland“ – so könnte man unzählige Publikationen russischer Schriftsteller nennen, die jahrelang in oppositionellen Medien erschienen und vor der Gefahr des entstehenden faschistischen Regimes in Russland warnten. Meine Landsleute jubelten nur: „Die Krim ist unser!“
Weder 1936 noch 2014 wurden die Aufrufe zum Boykott der Olympischen Spiele gehört. Nach Berlin kamen fast fünfzig Nationen, obwohl die „Nürnberger Rassengesetze“ schon 1935 verabschiedet worden waren. Den großen Sieg des deutschen Sports privatisierte Hitler. Den großen Sieg des russischen Sports hat sich Putin zugeschrieben. Der Sieg gehört ihm mit Recht, denn er veranlasste die Spezialoperation der Geheimdienste, bei der Urinproben gedopter Athleten durch saubere ersetzt wurden.
Thomas Mann scheiterte mit seinen Versuchen, die zombifizierten Deutschen wachzurütteln, und musste emigrieren. Auch die russische Kultur lebt heute nur in der Emigration. In Russland muss man patriotische Lieder singen oder schweigen.
„Kann aber die Kultur ohne das durch den Faschismus verpestete Territorium existieren?“ Thomas Mann hat uns die Antwort gegeben. Nach seiner Übersiedlung in die USA sagte er in einem Interview: „Wo ich bin, ist Deutschland. Ich trage meine deutsche Kultur in mir.“
Am Beispiel Deutschlands erklärt er uns, warum Kultur und Putins Regime unvereinbar sind: „In meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland gedruckt werden konnten, weniger als wertlos. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an; sie sollten alle eingestampft werden. Es war nicht erlaubt, es war unmöglich, ,Kultur‘ zu machen in Deutschland, während um einen herum das geschah, wovon wir wissen. Es hieß die Verkommenheit beschönigen, das Verbrechen schmücken.“ (Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe) Alle Diktatoren missbrauchen die Kultur, um ihre Verbrechen zu „schmücken“.
Jede Diktatur lebt von Feinden und Kriegen. In seinem Bonner Brief 1936 beschreibt Thomas Mann sowohl das Nazi-Deutschland als auch das Putinsche Machtsystem: „Sinn und Zweck des nationalsozialistischen Staatssystems ist einzig der: das deutsche Volk unter unerbittlicher Ausschaltung, Niederhaltung, Austilgung jeder störenden Gegenregung für den ,kommenden Krieg‘ in Form zu bringen.“
In den Vorkriegsjahren litt Thomas Mann – nicht weniger als an Deutschland – an der Duldung Hitlers durch den Westen, an der sogenannten Appeasement-Politik. Auch Putins Einmarsch in die Ukraine war nur dank der jahrelangen Bemühungen der „Putin-Versteher“ in den demokratischen Ländern möglich. Der verzweifelte Aufruf russischer Schriftsteller zum Boykott der Fußballweltmeisterschaft 2018 fand bei den westlichen Politikern kein Gehör. Der damals bereits vier Jahre andauernde Krieg gegen die Ukraine mit Tausenden Toten konnte keine Nation stoppen, nach Russland zu gehen und vor Putin Fußball zu spielen. Der Diktator nahm das als stillschweigende Zustimmung zu seiner Aggression wahr, der Weg zum 24. Februar 2022 war frei.
Jetzt geriet die russische Kultur im Ausland unter die Walze des „culture cancelling“, so, wie damals die deutsche. Den amerikanischen Studenten, die sich weigerten, die Kultur und Sprache eines Landes zu erlernen, das eine menschenverachtende Ideologie und Krieg in die Welt brachte, antwortete Thomas Mann, die Abneigung gegen das politische Regime dürfe nicht auf die deutsche Kultur übertragen werden, sie habe damit nichts zu tun. Das war im Jahr 1938.
Später, als die Gräueltaten der Nazis bekannt wurden, änderte er seine Meinung. Die Verführung und Schändung der deutschen Nation durch Hitler sei bereits durch die deutsche Geschichte und Kultur, durch die deutsche Romantik vorbereitet.
„Heruntergekommen auf ein klägliches Massenniveau, das Niveau eines Hitler, brach der deutsche Romantizismus aus in hysterische Barbarei, in einen Rausch und Krampf von Überheblichkeit und Verbrechen, der nun in der nationalen Katastrophe, einem physischen und psychischen Kollaps ohnegleichen, sein schauerliches Ende findet.“ (Deutschland und die Deutschen)
Nun müssen auch wir Russen die russische klassische Kultur aufarbeiten und unsere Literatur durch das Prisma des Ukrainekriegs neu lesen. Das wird eine wichtige Erfahrung sein, denn wir haben nie die imperialistischen Untertöne unserer großen Romane wahrgenommen.
Wir haben uns durch die berüchtigte Kinderträne aus den Brüdern Karamasow verführen lassen und Dostojewskis fanatische Aufrufe zum orthodoxen Kreuzzug gegen den Westen, seinen Hass gegen alle nicht slawischen Völker und seinen besonderen Hass gegen die Slawen, die Russland „verraten“ haben, als etwas nicht Relevantes übersehen. Wir haben Tolstois naive Behauptungen nicht ernst genommen, die Wahrheit lebe in den Analphabeten, den russischen Bauern, und nicht in der Bildung und Kultur, den sozialen und technischen Errungenschaften der westlichen Zivilisation.
Dabei gibt es nichts, was der Barbarei entgegenzusetzen ist, als die Kultur. In seinem Roman Lotte in Weimar macht Thomas Mann Goethe zu seinem Avatar und spricht über das der Barbarei verfallene Volk: „Sie mögen mich nicht – recht so, ich mag sie auch nicht, so sind wir quitt. Ich hab mein Deutschtum für mich – mag sie mitsamt der boshaften Philisterei, die sie so nennen, der Teufel holen. Sie meinen, sie sind Deutschland, aber ich bins, und gings zu Grunde mit Stumpf und Stiel, es dauerte in mir.“
Deutschland ging zugrunde vor den Augen des Schriftstellers, ruiniert von Hitler und seinem Krieg. Jetzt geht Russland vor unseren Augen unter. Damals ging es ums Überleben der deutschen Kultur, jetzt geht es ums Überleben der russischen.
Thomas Mann lässt Goethe sein Deutschtum definieren: „Deutschtum ist Freiheit, Bildung, Allseitigkeit und Liebe, – daß sies nicht wissen, ändert nichts daran. Tragödie zwischen mir und diesem Volk.“ Aber das ist mein „Russischtum“ auch: Freiheit, Bildung, Allseitigkeit und Liebe, und das hat weder mit Deutschland noch mit Russland zu tun. Das ist unser gemeinsames Menschentum, welches sich über das Nationale hinweg zur Weltkultur, zu unserem geistigen Zusammenleben auf der Erde entwickelt.
Aber sind Symphonien und Poeme die Antwort auf Bomben und Gefängnisse? Die besten Bücher der Menschheit handeln nicht vom Hass, sondern von der Liebe. Steht die Kultur gegen die Barbarei auf verlorenem Posten? Für Thomas Mann ist die klare Antwort: Nein! Die Kultur, die Demokratie, die Zivilisation muss sich verteidigen können.
„Europa wird nur sein, wenn der Humanismus seine Männlichkeit entdeckt, wenn er lernt, in Harnisch zu gehen, und nach der Erkenntnis handelt, daß die Freiheit kein Freibrief sein darf für diejenigen, die nach ihrer Vernichtung trachten.“ (Humaniora und Humanismus, 1936) Nur „militanter Humanismus“ kann die Weltkultur retten. Die Barbarei muss mit Gewalt im Krieg besiegt werden. Das ist vielleicht die wichtigste Lektion von Thomas Mann an uns Russen: Wenn man das eigene Land liebt, muss man ihm in seinem ungerechten Krieg eine vernichtende Niederlage wünschen.
Thomas Mann führte in den Radiosendungen Deutsche Hörer! seinen persönlichen Kampf. In den ersten Ansprachen hoffte er noch, sein durch die Nazis verführtes Volk würde zur Besinnung kommen und sich gegen die Hitler-Diktatur erheben. Der Schriftsteller war so naiv zu glauben, die Deutschen sehnten Hitlers Niederlage herbei wie er selbst. „Die Hölle, Deutsche, kam über euch, als diese Führer über euch kamen. Zur Hölle mit ihnen und all ihren Spießgesellen! Dann kann euch immer noch Rettung, kann euch Friede und Freiheit werden.“ (November 1941)
Aber diese Hoffnung auf gesunde Kräfte in Deutschland schrumpfte schnell. Angesichts von ungeheuren Verbrechen des Regimes und einer schweigenden Bevölkerung begann er, von deutscher Kollektivschuld zu reden.
„Daß es nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug. Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute. Das gute im Unglück, in Schuld und Untergang. Darum ist es für einen deutsch geborenen Geist auch so unmöglich, das böse, schuldbeladene Deutschland ganz zu verleugnen und zu erklären: ‚Ich bin das gute, das edle, das gerechte Deutschland im weißen Kleid, das böse überlasse ich euch zur Ausrottung.‘“
Das böse Russland Putins, das ist das fehlgegangene gute Russland, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang. Wie lässt sich erklären, dass Millionen russischer Männer und Frauen die Verbrechen des eigenen Staates unterstützen und gehorsam in den Krieg ziehen, um Ukrainer zu töten? Wo liegt die Grenze zwischen dem bösen russischen Staat und dem guten russischen Volk?
Wurde Thomas Mann von den deutschen Hörern überhaupt gehört? Oder waren seine Sendungen bloß verzweifelte Rufe ins Leere? Immer wieder sprach er über die Massenvernichtung der Juden überall dort, wo die Deutschen Fuß fassten – in Frankreich, Österreich, Polen. „Nach den Informationen der polnischen Exil-Regierung sind alles in allem bereits 700 000 Juden von der Gestapo ermordet oder zu Tode gequält worden. Wißt ihr Deutschen das? Und wie findet ihr es?“ (27. September 1942) Die Antwort lautete 1945: „Wir haben nichts gewusst.“
Ich nehme an, Thomas Mann wurde während des Kriegs von den meisten im eigenen Land als Verräter wahrgenommen. Genauso wie die emigrierten russischen Autoren, die jetzt die Ukraine unterstützen. Alle im Internet publizierten Bücher und Artikel von mir und anderen regimekritischen Schriftstellern erreichen die Massen in Russland nicht, die ihrem Führer in den Abgrund folgen. Ob Thomas Mann auch als „Vaterlandsverräter“ Morddrohungen von seinen Landsleuten erhielt?
Jahrelang hielt er seine Radioansprachen, ohne zu wissen, ob ihn jemand hört. Für deutsche Hörer waren seine Worte gefährliche Botschaften. Sogenannte Rundfunkverbrechen wurden streng bestraft – sogar mit Todesstrafen. Diese Ansprachen waren vor allem für ihn selbst überlebenswichtig. Sie waren sein Kampf gegen Hitler und für die deutsche Kultur und Sprache.
„Überleben hieß: siegen. Ich hatte gekämpft und den Lästerern der Menschheit Hohn und Fluch geboten, indem ich lebte: also ist es, auch persönlich, ein Sieg.“ (Entstehung des Doktor Faustus, 1949) Er verteidigte sein Deutschland, sein Deutschtum der Freiheit, Bildung, Allseitigkeit und Liebe. Er gab uns ein Beispiel dafür, dass Schriftsteller den Kampf nicht aufgeben müssen, auch wenn sie von den Lesern abgeschnitten sind, vom eigenen Land verraten und verleumdet werden. Jetzt müssen wir unsere russische Sprache gegen Putin und die Kriegsverbrecher verteidigen, wie Thomas Mann seine Sprache verteidigte. Fast im Alleingang, als „Vaterlandsverräter“ gegen das eigene Land, gegen das eigene Volk.
Am 28. März 1942 wurde Manns Vaterstadt Lübeck von den Alliierten angegriffen, als Vergeltung für die Vernichtung von Coventry. Hunderte starben im Feuer, auch sein Buddenbrook-Haus wurde zerstört. Seine Worte dazu fielen ihm nicht leicht: „Ich denke an Coventry – und habe nichts einzuwenden gegen die Lehre, dass alles bezahlt werden muß.“ Galt die Kollektivschuld auch für die getöteten deutschen Kinder? Mussten sie durch ihren Tod für den Tod englischer Kinder bezahlen?
Mit Wut beschwört Thomas Mann das Bombardement deutscher Städte: „Zweitausend Lufthunnen täglich über diesen Lügensumpf, – es gibt nichts anderes. Diese unmäßige Niedertracht, dieser revoltierende, den Magen umkehrende Betrug, diese Schändung des Wortes und der Idee, dies überdimensionierte Lustmördertum an der Wahrheit muss ausgelöscht werden um jeden Preis und mit allen Mitteln.“ (28. März 1944)
Meine ukrainischen Freunde sagen: „Wenn nach jeder Rakete, die auf Charkiw oder Kiew fällt, eine Rakete in Moskau oder Sankt Petersburg explodiert, dann wird der Krieg schneller zu Ende gehen. Das ist der einzige Weg zum Frieden.“ Müssen jetzt russische Kinder durch ihren Tod für den Tod ukrainischer Kinder bezahlen?
Thomas Mann gibt Antworten auf meine Fragen. Hat ein Emigrant weit weg vom Krieg das moralische Recht, dem ganzen Volk Kollektivschuld zu geben? Sollen russische Städte „unter einem Regen aus Feuer und Schwefel“ untergehen, wenn das der Preis für den Frieden ist? Wenn man sagt, dass alles bezahlt werden muss, nimmt man in Kauf, dass die heute noch lachenden Kinder bald der Kollektivschuld zum Opfer fallen werden. Bin ich bereit, diese Verantwortung zu übernehmen?
„Es wird mehr Lübecker geben, mehr Hamburger, Kölner, Düsseldorfer, die dagegen auch nichts einzuwenden haben. Und wenn sie das Dröhnen der Royal Air Force über ihren Köpfen hören, ihr guten Erfolg wünschen.“ Werden meine Landsleute ukrainischen Raketen guten Erfolg wünschen können?
Thomas Mann glaubte an die Zukunft seines Landes. „Die Gnade ist höher als jeder Blutsbrief. Ich glaube an sie, und ich glaube an Deutschlands Zukunft, wie verzweifelt auch immer seine Gegenwart sich ausnehmen, wie hoffnungslos die Zerstörung erscheinen möge. Man höre auf, vom Ende der deutschen Geschichte zu reden! Deutschland ist nicht identisch mit der kurzen, finsteren geschichtlichen Episode, die Hitlers Namen trägt.“ (Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe)
In der Zerstörung des Staates, der zum Instrument der Gewaltherrschaft wurde, sah Thomas Mann eine Chance: „Goethe ging, wenigstens in mündlicher Unterhaltung, so weit, die deutsche Diaspora herbeizuwünschen. ,Verpflanzt‘, sagte er, ,und zerstreut wie die Juden in alle Welt müssen die Deutschen werden!‘ Und er fügte hinzu: ,um die Masse des Guten, die in ihnen liegt, ganz und zum Heile der Nationen zu entwickeln.‘ Die Masse des Guten – sie ist da, und in der hergebrachten Form des nationalen Staates konnte sie sich nicht erfüllen.“ (Deutschland und die Deutschen)
Thomas Mann konnte an eine demokratische Zukunft Deutschlands glauben, da diese Zukunft nach der Zerstörung des Nazi-Staates von den Alliierten gesichert wurde. Wie soll die Zukunft meines Landes aussehen? Wer wird die demokratische Zukunft Russlands sichern? Wer wird die Entputinisierung durchführen? Der nächste Putin? Wer wird „Nürnberger Prozesse“ gegen die Kriegsverbrecher durchführen? Die Kriegsverbrecher selbst? Glaube ich an eine demokratische Zukunft Russlands?
Michail Schischkin im Jahreswechsel-Gespräch: “Inzwischen ist den Russen in der Schweiz klar: Es ist vorbei mit Putin”
Auch Leute, die anfangs geschwiegen hätten, unterstützten jetzt die Ukraine, sagt der Autor. Nach Putins Abgang werde der Krieg in der Ukraine enden – und ein Bürgerkrieg in Russland beginnen.
Von Zita Affentranger
Wir sitzen hier in einem warmen Café, die Menschen in der Ukraine frieren, weil Russland ihr Land zerbombt. Was geht Ihnen durch den Kopf?
Ich sehe diese Bilder jeden Tag vor mir. 2022 war ein schreckliches Jahr. So schlecht habe ich mich noch nie in meinem Leben gefühlt. Ich habe mich immer mit der russischen Kultur identifiziert. Der Krieg hat mir diesen Boden unter den Füssen weggezogen. Nach der Mobilmachung ziehen Zehntausende Russen hörig inden Krieg. Ist das noch mein Volk? Ich habe nichts gemeinsam mit diesen Mördern, obwohl ich Russe bin.
Fühlen Sie sich schuldig?
Das putinsche Regime hat meine Sprache, die Sprache der grossen russischen Autoren, zur Sprache der Mörder gemacht. Egal, welchen Satz ich schreibe, er wird mit Bildern der Verbrechen in Butscha illustriert. Die Texte, die vor hundert Jahren geschrieben wurden und in der Zukunft geschrieben werden, die werden auch mit diesen Bildern illustriert. Der Sinn meines Lebens besteht nun darin, die russische Sprache, die Würde der russischen Kultur gegen Putin und sein Regime zu verteidigen.
Als Aussenstehende fragt man sich immer wieder: Warum machen die Russen das alles mit?
Nach dem Einmarsch im Februar gab es nur wenig Proteste in Russland. Klar, dachte ich, die Leute haben Angst. Jene, die auf die Strasse gingen, sitzen jetzt im Gefängnis, haben ihren Job verloren, ihr Leben ruiniert. Die Angst – das kann man nachvollziehen. Doch dann gingen die Menschen im Oktober nach der Mobilmachung wie Schafe in den Tod, ohne nachzudenken. Es geht nicht um die Angst.
Worum dann?
Hier spiegelt sich die ganze russische Geschichte. Hier zeigt sich, wie jedes russische Regime die Worte Heimat und Patriotismus missbraucht hat, um sich selbst zu schützen. Russinnen und Russen meinen, sie verteidigen ihre Heimat, in Wirklichkeit verteidigen sie ihre Geiselnehmer, ihr Regime. Das war immer so: Mein Grossvater wurde von Stalin vernichtet und der Sohn, mein Vater, zog in den Krieg, um dessen Regime zu verteidigen. Er dachte, er verteidige die Heimat. Der russische Staat richte sich in Russland ein wie eine Okkupationsarmee, schrieb der russischeDichter Alexander Herzen einmal. Wer dieses Prinzip begriffen hat, unterstützt im Ukraine-Krieg nicht mehr die eigene Armee, sondern die der Gegner.
Glauben die Leute denn an Putins Gerede?
Ja, das ist das Schlimmste. Die meisten denken: Die Russen sind immer gut und alle anderen sind Feinde, die uns vernichten wollen, wir verteidigen uns nur. Sie leben psychologisch in der Vergangenheit, sie identifizieren sich mit dem Staat. Was gut ist und was schlecht, das entscheidet allein der Staatsführer, der Zar. Das Volk entscheidet nichts, übernimmt also keine Verantwortung. Die Leute in Russland wollen nicht verstehen, dass sie heute selber die Faschisten sind. Doch ich lebe im 21. Jahrhundert. Ich entscheide selber, was gut und was schlecht ist. Und wenn ich meine, dass mein Volk etwas Schlechtes tut, dann bin ich gegen mein Volk und gegen mein Land.
Sind die einfachen Russen mitschuldig am Krieg? Putin hat sie schliesslich nichtgefragt.
Der Zar fragt nie. Das Volk ist nicht dazu da, gefragt zu werden. Das Volk muss schweigen und gehorchen. Die Macht ist heilig. Das nimmt die Verantwortung von den Menschen weg. Die Russen werden sagen: Ich kann nichts für diesen Krieg, der Kreml hat das gemacht, wir sind nur Opfer. Aber das stimmt nicht. Alle Russen sind mitschuldig. Im Februar dachte ich noch: Okay, das Regime, das sind Kriegsverbrecher und sie haben die Bevölkerung als Geisel genommen – eigentlich sind die meisten auch Opfer des Regimes. Aber jetzt sehe ich, wie diese Millionen und Abermillionen diesen Krieg wirklich unterstützen und sich freuen, wenn die Ukrainer zerbombt werden, wenn sie ohne Strom, ohne Gas, ohne Heizung den Winter überstehen müssen. Das sind auch Kriegsverbrecher.
Wie kann man den Krieg möglichst schnell beenden?
Ich habe viele ukrainische Freunde und die sagen: Der einzige Weg zum Frieden ist, wenn für jede russische Rakete, die nach Charkiw fliegt, eine Rakete aus der Ukraine nach St. Petersburg fliegt. Dass für jede Bombe, die in Kiew explodiert, eine Bombe in Moskau explodiert. Das ist der einzige Weg, das Kriegsende zu beschleunigen. Der Westen muss der Ukraine endlich die dafür notwendigen Waffen liefern.
Würde das nicht den dritten Weltkrieg auslösen?
Wir sind längst im dritten Weltkrieg, seit 2014. Die westlichen Politiker haben die Augen verschlossen. Das putinsche Regime hat jahrelang einen «hybriden» Krieg gegen die Welt geführt, korrumpierte die westlichen Politiker, machte Europa vom russischen Gas und Öl abhängig, unterstütze mit Geldlieferungen sowohl linke als auch rechte radikale Parteien. Aber die Bevölkerung der demokratischen Länder wollte das nicht wahrhaben, man wollte Frieden, Jobs, schöne Ferien. Vor dem Zweiten Weltkrieg wollten die westlichen Politiker auch nur Frieden mit Hitler. Aber der Preis dafür war der Weltkrieg.
Aber Russland besitzt Atomwaffen. Würde Putin nicht auf den roten Knopf drücken?
Hätte Hitler Atomwaffen gehabt, hätte er sicher auf den roten Knopf gedrückt. Ich zweifle nicht daran, dass auch Putin das vor seinem Ende tun wird. Meine Hoffnung ist, dass sein letzter Befehl nicht ausgeführt wird. Es ist offensichtlich, dass die «putinschen Eliten» bereits jetzt an das Leben nach Putin denken: Warum sollten sie und ihre Familien zusammen mit dem missglückten Diktator Selbstmord begehen?
Auch nach mehr als zehn Monaten Krieg ist die Frage nicht geklärt: Warum hat Putin diesen Krieg überhaupt begonnen?
Sie stellen diese Frage, als wäre Putin ein normaler Mensch. Ein normaler Mensch wird diesen Krieg nie verstehen. Ich auch nicht. Ich will auch nicht wirklich wissen, was da in Putin vor sich geht. Aber er hat eine andere Welt im Kopf. Kein Diktator versteht die Welt, in der er lebt. Er ist abgekoppelt. Er bekommt nur die Nachrichten, die er hören will. Deshalb hat Putin sich total verkalkuliert, er glaubte, er könne Kiew in drei Tagen einnehmen. Hätte er gewusst, wie das endet, hätte er diesen Krieg natürlich nicht begonnen. Denn dieser Krieg ist wie Harakiri, das ist Selbstmord.
Viele sagen, er sei wegen Corona so isoliert gewesen.
Nein, das hat nichts damit zu tun. Der Grund ist ganz einfach: weil er ein Diktator ist. Diktatoren ticken anders. Putin meint jetzt, dass die Ukrainer gebrochen werden und um Verhandlungen bitten, wenn er sie in Grund und Boden bombt.
Kann es überhaupt Verhandlungen geben in diesem Konflikt?
Selbstverständlich. Aber nicht mit Putin und nur zu den Bedingungen der Ukrainer. Die Russen haben den Krieg bereits verloren, die Ukrainer diktieren die Zukunft. Verhandlungen wird es nur geben, wenn die Ukrainer alles bekommen, was sie verlangen: die Kontrolle über ihr ganzes Staatsgebiet, auch über die von Russland annektierte Krim.
Nehmen wir mal an, Putin ist weg …
Ich habe schon eine Flasche Champagner in den Kühlschrank gestellt. Ich hasse ihn.
Wie lange, denken Sie, muss die Champagnerflasche im Kühlschrank bleiben?
Das können zwei Wochen sein, zwei Monate, ein Jahr. Aber die Zeit wird kommen, in zwei Jahren wird es keinen Putin mehr geben. Der Krieg wird weitergehen, solange er an der Macht bleibt. Doch schon heute ist klar: Nach seinem Abgang wird der Krieg in der Ukraine enden, sofort. Dem Nachfolger Putins wird es egal sein, wem die Krim gehört. Denn dann fängt ein anderer Krieg an: ein Bürgerkrieg um die Macht in Russland. Die Leute, die um den Kreml kämpfen, werden die Ukraine und die Krim einfach vergessen.
Wie kann ein solcher Machtwechsel passieren?
Wie genau das passiert, wissen wir nicht, aber dass es passiert, das können wir aus der Geschichte ableiten. Wie ein Diktator stirbt, da gibt es in der russischen Vergangenheit viele Möglichkeiten. Dann folgt die «Entputinisierung» wie einst die «Entstalinisierung». Das wird von einem neuen Diktator, einem neuen Putin durchgezogen. Die russische Geschichte beisst sich immer wieder in den Schwanz. Und der Westen wird den nächsten russischen Sieger im internen Machtkampf unterstützen, weil er die Kontrolle über die Atomwaffen verspricht. So wird es weitergehen. Noch eine Runde auf dem russischen Karussell.
Kann man sich vorstellen, dass Putin selber geht? Dass er pensioniert wird?
Nein, Nein. Diktatoren gehen nicht in Pension. Für ihn gibt es drei Möglichkeiten. Erstens, er stirbt eines natürlichen Todes, was jedem passieren kann. Zweitens, jemand hilft ihm beim Sterben, das kann nur aus seinem engsten Kreis kommen. Oder drittens, er flüchtet in die Zentralafrikanische Republik, wo er die letzten Jahre alles vorbereitet hat. Die Söldnertruppe Wagner hat dort das Regime gerettet und gekauft, das Land gehört faktisch Putin. Er hat dort eine Residenz, einen Bunker, viel Geld und alles, was er braucht.
Westliche Experten sagen, es gehe Putin in Afrika um politischen Einfluss.
Die Experten denken wie westliche Politiker, die ihre Rente zu Hause geniessen können. Sie können sich nicht vorstellen, irgendwo in Afrika einen Bunker zu bauen, und reden von Geopolitik und solchem Zeug. Aber Putin denkt anders. Hier geht es um sein Leben. Und er will lange leben.
Wie diskutieren die Russen in der Schweiz den Krieg?
Es gab Russen, die Putin vergötterten, es gab Leute, die ihn hassten. Nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine waren die Russen in der Schweiz in Aufruhr. Leute wie ich haben sich sofort auf die Seite der Ukrainer gestellt. Ich sagte damals: Wenn du als Russe schweigst, unterstützt du Putin. Die Leute, die geschwiegen haben, waren für mich Putin-Freunde. Aber inzwischen ist den Russen in der Schweiz klar: Es ist vorbei mit Putin. Jene, die im Februar noch geschwiegen haben, unterstützen jetzt auch die Ukraine. Das ist gut so.
Schweizerinnen und Schweizer möchten neutral bleiben in diesem Krieg, das zeigen Umfragen.
Ich kämpfe schon seit Jahren gegen die Schweizer Neutralität. Ich habe zum Boykott der Olympischen Spiele in Sotschi 2014 aufgerufen. Niemand hat auf einen russischen Schriftsteller gehört. Die Schweizer haben dort ihr Hüsli gebaut, und als Resultat hatten wir dann die Annexion der Krim. 2018 wiederholte sich die Geschichte mit der Fussball-WM: Ich rief die Schweiz auf, Solidarität zu zeigen mit den Menschen in der Ukraine, der Krieg dauerte dort bereits vier Jahre. Aber die Schweizer wollten wie alle anderen lieber Fussball spielen. Putin hat die Botschaft verstanden: Der Westen unterstützt den Krieg stillschweigend. Damit war der Weg offen für den Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Man kann hier nicht neutral bleiben, wir sind alle Teil dieses Krieges.
Immerhin hat die Schweiz danach die Sanktionen übernommen.
Ja, das war ein historischer Tag. Aber die Schweiz hat davor so viele Fehler gemacht im Umgang mit Russland. Sie hätte zusammen mit den anderen westlichen Staaten der jungen russischen Demokratie der 90er-Jahre auf die Beine helfen sollen. Stattdessen haben sie der neuen kriminellen Diktatur auf die Beine geholfen. Ich habe damals in der Schweiz als Dolmetscher gearbeitet und gesehen, wie die reichen Russen mit ihrem gestohlenen Geld hier ihre Konten eröffneten. Statt dem Recht Geltung zu verschaffen, hat die Schweiz das schmutzige Geld mit grosser Freude genommen. Die Russen haben schnell begriffen: Beim grossen Geld hört der Rechtsstaat auf. Ohne diese Unterstützung in der Schweiz, in London, in Amerika wäre die Entstehung dieser Banditendiktatur in Europa überhaupt nicht möglich gewesen.
Sie nehmen bei Ihrer Kritik an Putin-Loyalisten und am Regime in Moskau nie ein Blatt vor den Mund. Haben Sie nicht manchmal Angst?
Wenn man eine öffentliche Person ist, kann alles passieren. Ich bekomme auch Morddrohungen. Aber was soll ich tun? Aufhören zu schreiben, zu sprechen? Schweigen? Die berühmte letzte Zeile des Dramas Boris Godunow des russischen Nationaldichters Alexander Puschkin lautet: «Das Volk schweigt.» Diesem Schweigen kann nur das Wort entgegengesetzt werden.
Wie kann es nach dem Krieg weitergehen?
In der Ukraine wird der Westen ein florierendes Land aufbauen. Es wird eine Art Marshallplan geben. Das hat damals in Deutschland funktioniert, es wird auch in der Ukraine und auf der Krim funktionieren. In Russland wird es einen Bürgerkrieg geben, Chaos. Die Ukraine wird eine Mauer bauen. So wie zwischen Israel und Palästina. In den reichsten Putin-Jahren gingen die Ukrainer nach Moskau oder Petersburg, um Geld zu verdienen. Jetzt wird es umgekehrt sein.
Werden die Verantwortlichen in Russland zur Rechenschaft gezogen?
Ich hoffe sehr, dass es ein Tribunal geben wird, aber das ist schwierig. In Deutschland haben das nach dem Krieg die Alliierten gemacht. Stellen Sie sich vor, was mit der demokratischen Zukunft passiert wäre, wenn damals die Gestapo an der Machtgeblieben wäre. Nach dem Zerfall der Sowjetunion war der Geheimdienst FSB, der Nachfolger des KGB, für demokratische Reformen verantwortlich. Ich fürchte, nach dem Zerfall der Russischen Föderation wird der Nachfolger des FSB die Zukunft des Landes gestalten.
Kiew lässt nun russische Denkmäler schleifen, russische Bücher werden verboten. Was macht das mit Ihnen?
Was erwarten Sie von einem Land, das von Russland zerbombt wird? Rein emotional kann man das gut nachvollziehen. Aber klar, ja, es tut mir weh, wenn Denkmäler des russischen Nationaldichters Puschkin abgerissen werden. Dabei geht es natürlich nicht darum, dass seine Gedichte schlecht waren, er wurde vom Regime missbraucht und als Zeichen der kolonialen Macht dort aufgestellt. Doch allem Verständnis zum Trotz muss es Grenzen geben: Die Verbrennung russischer Bücher zum Beispiel geht zu weit. Ich habe diese schrecklichen Videos gesehen. Nach den Ereignissen von 1933 in Deutschland weiss man: Wer Bücher verbrennt, macht sich mitschuldig. Das darf eine demokratische Welt nicht dulden.
Die Zeit um Neujahr ist die Zeit der guten Wünsche. Wie lautet Ihr persönlicher Wunsch fürs neue Jahr?
Ich habe nur einen: dass dieses Blutvergiessen endet. Mehr wünsche ich mir nicht.
Wie viele sind wir? Zur Situation der russischen Opposition.
Diskussion auf der Frankfurter Buchmesse, 20.10.2022
Es diskutieren Irina Scherbakowa (Publizistin und Menschenrechtsaktivistin von Memorial), Leonid Wolkow (Nawalny-Vertrauter und Autor von Putinland), sowie Michail Schischkin, der als bedeutendster russischer Gegenwartsautor gilt. Es moderiert Sabine Adler, Osteuropa-Expertin des Deutschlandfunks. Eine Veranstaltung der IG Meinungsfreiheit des Börsenvereins und des Frankfurt Forums, gefördert vom Auswärtigen Amt.
Sein Leben war ein grandioses Missverständnis – Michail Gorbatschows wichtigstes Anliegen scheiterte, die Welt dankt es ihm
Der Westen blickt vornehmlich durch das Teleobjektiv auf die welthistorische Figur Michael Gorbatschows. Wichtig aber wäre ein Weitwinkelobjektiv, das auch den Hintergrund sichtbar macht.
Um eine musterhafte Apparatschik-Karriere in der totalitären Sowjetunion zu machen, brauchte man bestimmte Fähigkeiten. Im erbitterten Machtkampf unter Parteigenossen bahnte sich der aus einer Kolchose im Gebiet Stawropol stammende Genosse Michail Gorbatschow schnell den Weg nach oben. Als Komsomol-Funktionär erhielt er bereits mit 19 den Orden des Roten Banners. Im Alter von 21 trat er in die Partei ein und verstand die Karriereleiter zu erklimmen. Das erprobte Mittel dazu war immer die Protektion, man musste nur dem richtigen Boss treu und nützlich bleiben.
Viele Jahre war sein Förderer der Parteibonze Fjodor Kulakow. Nach dessen Tod erbte Gorbatschow 1978 dessen Parteiamt als ZK-Sekretär für Landwirtschaft. Dann zog ihn Juri Andropow, der Chef der Geheimpolizei, näher zu sich heran. Als jüngstes Mitglied des Politbüros machte sich Gorbatschow im Greisengremium durch strahlende Gesundheit bemerkbar. Die Generalsekretäre begannen einer nach dem anderen zu sterben, und plötzlich bekam der hingebungsvolle Erbauer des Kommunismus die Möglichkeit, die Geschicke des sowjetischen Imperiums zu lenken.
Für die Sowjetunion begannen damals die schlechten Zeiten – das verfaulte System wälzte sich seinem Kollaps entgegen. Das jahrzehntelange Wettrüsten hatte die ineffiziente Wirtschaft erschöpft. Um die UdSSR als solche zu retten, war es absolut notwendig, die militärische Konfrontation zu beenden.
Der Zusammenbruch der nicht lebensfähigen Plan-Misswirtschaft hatte lange vor Gorbatschow begonnen. Für kurze Zeit konnte der Kollaps durch die Zunahme der Ölexporte bei steigenden Preisen verhindert werden, aber der Einbruch der Ölpreise nach 1986 führte zu einer beschleunigten Zerstörung der Finanzen und des Konsums. Für riesige Getreide-Importe hatte man schlicht keine Devisen, also brauchte man Kredite im Westen. Der reale Sozialismus kam zum logischen Ende, der Staat konnte die Bevölkerung weder mit Waren des täglichen Gebrauchs noch mit Lebensmitteln versorgen, es gab nichts.
Um das verrottete Sowjetmodell vor dem Zusammenbruch zu retten, musste man etwas tun, und Gorbatschow entschied sich für den Rettungsplan «Perestroika». Das Ziel war, aus dem Westen Kredite und Technologie zu bekommen. Im Gegenzug musste man dem Westen etwas Attraktives anbieten.
Man hatte da schon Erfahrungen von Anfang der siebziger Jahre, damals konnte man Entspannungspolitik sowie Juden «verkaufen». Für die Erlaubnis, nach Israel zu emigrieren, bekam die Sowjetunion Getreidelieferungen aus den USA. Die Entspannung endete mit dem Krieg in Afghanistan.
Nun wollte Gorbatschow den gleichen Deal im grösseren Massstab einfädeln. Zuerst kamen die schönen Worte im Angebot, die der Westen gerne hören wollte: «Glasnost», «Demokratisierung», «Offenheit», dann die politischen Häftlinge wie Andrei Sacharow. Schliesslich musste es noch etwas Realeres sein. Der Westen hatte die deutsche Wiedervereinigung auf der Agenda, und Ronald Reagan gab in Berlin den Tarif durch: «Tear down this wall!»
Gorbatschow küsste Honecker zum letzten Mal – mit einem Judaskuss. Moskaus Verzicht auf die DDR sollte ein Figurenopfer im Spiel auf dem europäischen Schachbrett sein, um die Partie insgesamt zu gewinnen und die tiefe Wirtschaftskrise in der UdSSR zu überwinden. Nun öffnete sich der Sesam, Kredite flossen in Strömen. Der Kreml-Chef wurde zu «Gorbi». Kein Russe war im Westen jemals so geliebt.
Das Nato-Feindbild wurde bis auf weiteres in der Abstellkammer versteckt. Der wandernde «Wald von Birnam» schien im Westen aufgehalten zu sein, aber zu Hause lief die «Perestroika» aus den Geleisen.
Zu Gorbatschows Zeiten, als die harten Hungerjahre anbrachen, bekam mein Vater als Kriegsveteran Hilfspakete zugeteilt, darunter auch Lebensmittel aus Deutschland. Er empfand dies als persönliche Demütigung. Das ganze Leben hatten er und seine Kameraden sich als Sieger gefühlt, und nun sollten sie die Brosamen vom Tisch des unterlegenen Feindes essen. Als Vater uns das erste Mal die Lebensmittelration brachte, betrank er sich und schrie: «Wir haben doch gesiegt!» Dann wurde er still und weinte und fragte Gott weiss wen, wendete sich aber an mich: «Sag, haben wir den Krieg gewonnen oder verloren?»
Für einige bedeutete Perestroika vor allem Demokratisierung des Systems, für die anderen das Fehlen der für die Ordnung sorgenden Hand, absehbares Chaos. Die unterdrückten Völker ihrerseits sahen die Möglichkeit, das Gefängnis zu verlassen. An den Rändern des Reichs floss bereits Blut. In Georgiens Hauptstadt Tbilissi wurde eine Demonstration zerschlagen, als 100 000 Leute für den Austritt Georgiens aus der Sowjetunion auf die Strasse gingen. Soldaten töteten Protestierende mit Feldspaten. In Vilnius wurden beim Sturm des litauischen Fernsehturms unbewaffnete Litauer teilweise von Panzern der Sowjetarmee überrollt, teilweise erschossen. Die Macht versuchte mit allen Mitteln, den Geist der Freiheit zurück in die Flasche zu zwingen.
Die verwirrte Sowjet-Bevölkerung strengte sich an, im Chaos zu überleben. Die Parole lautete: «Rette sich, wer kann.» Die erwachte Bürgergesellschaft forderte auf Demonstrationen im Zentrum Moskaus «europäische» Freiheiten und die volle Demontage des verhassten Parteisystems.
Das magische Wort Perestroika stellte das Leben auf den Kopf. Für mich persönlich kehrte Hoffnung ein. Ich weiss noch, wie grossartig es damals war, die verbotenen Namen erschossener Dichter wieder in den Zeitschriften auftauchen zu sehen. Gorbatschow wollte das Regime retten, aber seine Parolen der Demokratisierung machten sich selbständig. Er verlor die Kontrolle über die Geschehnisse im Land.
Die politischen Zugeständnisse an den Westen wurden im eigenen Land von der Mehrheit der Bevölkerung als Verrat betrachtet. Mein Vater hasste Gorbatschow. Ich mochte Gorbatschow auch nicht, aber nicht deshalb, sondern weil er den Zusammenbruch der UdSSR und des sowjetischen Systems mit aller Macht aufhalten wollte. Mein Vater und ich betrachteten die Geschichte, die sich vor unseren Augen abspielte, von verschiedenen Ufern.
Im Westen verfolgte man die «Reformen» mit Hoffnung und Begeisterung. Man sah nur das, was man sehen wollte. Der um sich greifende Gorbatschow-Kult hatte nichts mit seiner realen Person zu tun, eher verkörperte er die personifizierte Euphorie über ein historisches Wunder: Die «russische Seele» wurde vom Bann der kommunistischen Hexerei befreit, man brauchte vor «denen da drüben» keine Angst mehr zu haben.
Der Prinz, der die schlafende Prinzessin der Demokratie wachküsste, die Welt vor dem Atomkrieg rettete und das geteilte Deutschland sich wiederfinden liess, wurde zur Lichtgestalt, von der man hoffte, sie würde auch weitere Wunder vollbringen und die Sowjetunion in das gutbürgerlich europäische Haus führen. Seine Absichten aber waren in Wirklichkeit andere als «das Völkergefängnis» aufzulösen, die kommunistische Partei zu verbieten und eine wahre Demokratie einzuführen. Der Koloss taumelte dem Kollaps entgegen, und Gorbatschow wollte das unbedingt verhindern.
Die Einheit der Sowjetrepubliken war Einbildung der kommunistischen Propaganda, und der Parteiführer fiel der eigenen Lüge zum Opfer. Am 17. März 1991 liess er das einzige Volksreferendum der Sowjetgeschichte durchführen: «Soll die Sowjetunion als einheitlicher Staat bestehen bleiben?» Mit einem klaren «Ja» antworteten 70 Prozent in der Ukraine, 82 Prozent in Weissrussland, 93 Prozent in Usbekistan, 94 Prozent in Kasachstan, 93 Prozent in Aserbaidschan, 96 Prozent in Kirgistan, 96 Prozent in Tadschikistan, 97 Prozent in Turkmenistan. Einige Monate später gab das Sowjetimperium den Geist auf, und die Einheit der Völker erwies sich als kompletter Bluff. In den Nationalrepubliken wurde die langersehnte Unabhängigkeit vom «grossen Bruder» jubelnd begrüsst.
Wie jeder Diktator kannte Gorbatschow das Land, über das er herrschte, nicht, da er durch Bajonette und Referenten von ihm getrennt war. Selbst sein einstiger Protokollchef, Wladimir Schewtschenko, hat das eingestanden: «Es gab eine Fehlkalkulation: Wir kannten unser Land nicht gut genug, wir kannten unsere Nomenklatura nicht gut genug. Unsere Gemeinschaft zerbrach, das war unsere und seine Tragödie.»
Nicht nur für Putin, auch für Gorbatschow war der Zusammenbruch der Sowjetunion «die grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts». Im Film Gorbatschow. Paradies, einem Meisterwerk von Witali Manski aus dem Jahr 2020, erklärt er, dass er auch am Ende seines Lebens ein überzeugter Kommunist geblieben sei: «Ich sehe Lenin als unseren Gott an.» Gorbatschow wollte sein morsches, kommunistisches Imperium modernisieren, aber er war ein schwacher Diktator: «Man sagte mir, ich solle schiessen lassen, und ich erwiderte, dass dies nicht der richtige Weg sei.» Den Zerfall und das Ende der Sowjetunion hielt er für einen Staatsstreich.
Die Versuche Gorbatschows wie auch von Putschisten, das Regime zu retten, misslangen. Russland bekam damals die Möglichkeit, die demokratische Gesellschaftsordnung aufzubauen, aber es scheiterte. Die Fehler der Demokraten der ersten Stunde tragen heute ihre bösen Früchte. Es gab keine «Entkommunisierung», keine Aufarbeitung der Geschichte, keine Abschaffung des monströsen KGB, keine «Nürnberger Prozesse» gegen die Partei. Die Entstehung einer neuen Diktatur war daher nur eine Frage der Zeit. Im Prozess gegen die KPdSU hätte Gorbatschow sicherlich als Anführer dieser kriminellen Organisation auf der Anklagebank gesessen.
Im Jahr 2014 verteidigte Michail Gorbatschow Putins Annexion der ukrainischen Krim. Für ihn war es ein Schritt zur Wiederherstellung der UdSSR, an deren Zusammenbruch er sich schuldig fühlte.
Die kurzlebige Freiheit und die geopolitischen Umwälzungen der neunziger Jahre verdanken wir Gorbatschow. Gross war er nicht in seinen Erfolgen, sondern in seinem Scheitern.
Pakt gegen Christus
Die Nähe der russisch-orthodoxen Kirche zur Macht entspringe einer langen Tradition, schreibt der Schriftsteller Michail Schischkin. Das Evangelium blieb dabei auf der Strecke.
«Das Unglück des Vaterlandes besteht darin, dass wir nicht den römisch-katholischen, sondern den byzantinisch-orthodoxen Glauben angenommen und uns damit von Europa und seiner historischen Entwicklung abgeschnitten haben.» Mit diesen Worten des politischen Philosophen Pjotr Tschaadajew aus dem Philosophischen Brief (1836) begann die Spaltung im russischen Bewusstsein, jener Ideenkampf, der bis heute andauert und im Ukraine-Krieg seinen Widerhall findet.
«Russische Europäer» sahen die Zukunft ihres Landes in der Bildung und sozialen Reformen. Ihre Gegner argumentierten, solche gesellschaftliche Umwälzungen führten zu Revolutionen, Chaos und Blutvergiessen. Sie hofften, den russischen Menschen innerlich zu verbessern durch den Glauben, wie ihn die orthodoxe Kirche predigte.
«Russland braucht keine Predigt (davon hat es genug gehört), keine Gebete (auch davon gab es genug), sondern das Erwachen eines Gefühls der Menschenwürde, die viele Jahrhunderte durch den Dreck gezogen wurde, des Rechts und des Gesetzes, nicht wie die Kirche es vorschreibt, sondern gemäss dem gesunden Menschenverstand und der Gerechtigkeit, und eine strenge Ausführung dieser Gesetze. Stattdessen bietet Russland den schrecklichen Anblick eines Landes, wo es nicht nur keinerlei Persönlichkeitsrechte gibt, keinerlei Garantien für Ehre und Eigentum, sondern nicht einmal eine polizeiliche Ordnung. Es gibt nur einen riesigen Zusammenschluss von Dieben und Räubern.»
Was nach einem Zitat von einem antiputinschen Blogger tönt, steht in einem 1847 verfassten Brief des Philosophen und Publizisten Wissarion Belinski an Nikolai Gogol.
Eine Wende wollte auch Gogol. Aber er sah die Rettung im Glauben. Der russische Mensch, und sei er so nichtig und widerlich wie die Romanfigur Tschitschikow, kann in sich Christus finden und durch Demut und Leiden neu geboren werden. Nur so gelinge Russlands Umgestaltung.
Und nichts weniger beabsichtigte der Schriftsteller mit seinem Werk: die christliche Wiedergeburt des Menschen. Der Schurke und Gauner Tschitschikow sollte im dritten, ungeschriebenen Band der Toten Seelen durch die Leiden in der sibirischen Katorga zu seiner Neugeburt in Christo kommen. Ohne innere Verklärung wird es keine soziale Transformation geben.
An Belinski schrieb Gogol: «Wir müssen den Menschen daran erinnern, dass er kein Vieh ist, sondern der hohe Bürger eines himmlischen Reiches. Solange er nicht das Leben eines himmlischen Bürgers lebt, wird auch auf der Erde keine Ordnung einkehren.» Gogol scheiterte, verbrannte sogar den zweiten Band.
Fjodor Dostojewski folgte Gogol: Keine Verfassung, keine demokratische Umwälzung, keine Revolution verheisst Rettung. Zuerst muss Christus in der eigenen Seele gefunden werden, bevor die Gesellschaft verbessert werden kann. Dostojewskis Schaffen ist der kaum bewusste Versuch, den dritten Band der Toten Seelen zu schreiben.
Seine Bücher wollen den Weg zu Christus aufzeigen und den toten Seelen neues Leben einhauchen. Vollziehen sollte sich die Neugeburt des Menschen in der orthodoxen Kirche.
Der Weg zu Christus führte jene, die nach ihm suchten, aber nicht zur Kirche. Schriftsteller Leo Tolstoi wurde exkommuniziert. Für ihn war klar, in der russischen Kirche ist Christus nicht zu finden.
Seit Jahrhunderten hatte die Moskauer Kirche wichtigere Aufgaben, als Christus zu dienen. Sie leistete dem Zarenreich, das gegen alle Nachbarn Krieg führte, intellektuelle Unterstützung, die Orthodoxie bot sich als Kampfbanner an. Dienstfertig wurde eine messianische Kriegsideologie erarbeitet, Moskau verwandelte sich ins «Dritte Rom». Das Moskauer Reich galt als Abbild des Himmelreiches auf Erden.
Ein halbes Jahrhundert nachdem die Türken Byzanz erobert hatten, schrieb der Mönch Filofei: «Schau und habe acht, frommer Zar, alle christlichen Reiche sind vergangen und sind zusammen übergegangen in Dein Eines Reich. Denn zwei Rome sind gefallen, aber das dritte steht, und ein viertes wird es nicht geben.» Nun war «Russki mir», die russische Welt, perfekt.
Während in Europa Renaissance und Reformation den menschlichen Geist beflügelten, erhob sich im Osten ein Kampfreich, das die eigene Nation als Armee missbrauchte. Alleinherrschaft und Einmütigkeit sind seither seine Koordinaten. Das einzige Ziel ist der Sieg über die Feinde. Im Krieg mit der ganzen Welt ist Expansion die beste Verteidigung.
Dieser Staatsraison entsprechend, erschöpft sich der Sinn des Lebens für den Einzelnen darin, dem Russischen Reich zu dienen. Sein höchstes Glück? Für das Vaterland zu sterben. Die Kommandeure werden nicht gewählt, Befehle nicht hinterfragt.
Jedes Aufscheinen persönlicher Initiative, jedes Zünden eines freien Gedankens gilt als Meuterei. Jede Äusserung des Missfallens, sei sie auch noch so gerechtfertigt, kommt einem Verrat gleich.
Zar Peter I. machte die Kirche 1721 auch offiziell zum Instrument seiner Diktatur: Das Beichtgeheimnis wurde abgeschafft, der Priester musste seine Schäfchen bei den Strafbehörden denunzieren, wie es später in der Sowjetunion der Fall war. Zeigte der Pope den unvorsichtigen Gläubigen nicht an, wurde er selber bestraft.
Die orthodoxe Kirche deckte stets das patriarchale russische Machtsystem ideologisch. Diese uralte Gesellschaftsform der russischen Autokratie wird seit Jahrhunderten im Reservat der Geschichte konserviert. Sie wirft ihre Haut ab und kehrt mit einem neuen Avatar zurück, mal als das Moskauer Zarentum, als Romanows Imperium, als Stalins kommunistische Sowjetunion, unlängst als Putins «gelenkte Demokratie».
Als die Scheindemokratie den Scheinsozialismus ersetzte, verwandelten sich die treuen Kommunisten in imposante Banker, überzeugte Atheisten konvertierten zu frommen Kirchgängern. Die Kirche nahm gern ihre alte Rolle eines Pfeilers der Macht ein. Die Moskauer Orthodoxie hat mit jeder Version des repressiven Staatsapparats einen Pakt gegen Christus geschlossen.
Putin-Kritiker Alexei Nawalny zitierte vor Gericht die Bergpredigt: «Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit – sie werden gesättigt werden» (Mt 5,6). Aber warum auf Worte Christi hören? Christus hätte die Spezialoperation Putins nicht unterstützt, auch er ginge heute ins Gefängnis.
Wen wundert es, dass Patriarch Kyrill Gundjajew zunächst Karriere beim Geheimdienst KGB gemacht hat? Statt Friedensbotschaften predigt er Loyalität gegenüber dem verbrecherischen Regime und Hass auf den Westen. Die Kirche ist nur ein Instrument des Staates und eine Waffe im «hybriden Krieg» gegen die Welt.
Widerspricht die Haltung der russischen Kirche zu Putins Kriegsverbrechen nicht jeglicher christlichen Lehre? Müsste die Kirche nicht versöhnen, menschliches Leben retten?
Die Fragen sind naiv. Es war immer schon Aufgabe der russischen Kirche, nicht dem Menschen, nicht Christus, sondern der Macht zu dienen. Sie war jahrhundertelang organischer Bestandteil eines totalitären Unterdrückungsregimes, und ihre Aufgabe besteht weiterhin darin, der Macht hörige Sklaven zu produzieren.
Schuld und Sühne der Russischen Literatur
Von ehemaligen Häftlingen gibt es Berichte, wie russische Klassiker ihnen das Leben retteten. Sie erzählten den kriminellen Mitinsassen Romane von Turgenjew, Tolstoi, Dostojewski nach. Die große russische Literatur konnte den Gulag nicht verhindern, aber sie half im Gulag zu überleben. Ist das viel oder wenig?
Nach dem Ukraine-Überfall wird die russische Literatur der Mitschuld an diesem Krieg und den Grausamkeiten russischer Soldaten bezichtigt; sie sei ihrer Natur nach imperialistisch und kolonial. Dieser Krieg stelle einen moralischen und humanitären Bankrott der russischen Kultur dar.
Einige ukrainische Schriftsteller und Schriftstellerinnen rufen zum Boykott der russischen Musik, Filme, Bücher auf und erklären, dass man in der Welt diese Kultur noch immer fälschlicherweise für europäisch und humanistisch halte; dass die Verbrecher aber, die Mütter mit Kindern vergewaltigen, in der Schule an russischen Klassikern erzogen seien, dass der Weg zum Massaker von Butscha auch über die russische Literatur führe.
Es tut weh, Russe zu sein. Ungeheure Verbrechen werden im Namen meines Volkes, meines Landes, in meinem Namen verübt. Man will seine Heimat lieben und stolz auf sie sein, aber wie kann man die Mutter lieben, wenn sie die eigenen und fremde Kinder auffrisst? Das tut Russland seit Jahrhunderten und kann nicht aufhören.
Dieser Krieg hat die Sprache Puschkins und Tolstois zur Sprache von Kriegsverbrechern und Mördern gemacht. Russland wird nicht mit russischer Musik und Literatur assoziiert, sondern mit Bomben, die auf Geburtskliniken fallen, mit den verstümmelten Leichen auf den Straßen eines Kiewer Vororts.
Was kann ich als Russe sagen, wenn ich höre, dass ein Puschkin-Denkmal in der Ukraine demontiert wird? Nur schweigen. Und hoffen, dass ein ukrainischer Dichter für Puschkin seine Stimme erhebt.
Das Putinsche Regime hat die russische Kultur weltweit in die Schusslinie gebracht, dabei erhielt sie, wie in allen Zeiten zuvor, einen vernichtenden Schlag vom eigenen Staat. Das heutige Russland ist ein faschistischer Staat. Es spielt keine Rolle, was die im Kreml sagen, wichtig ist nur, was sie tun.
Eine freie Kultur gibt es nicht mehr (eigentlich eine Tautologie – die Kultur kann nur frei sein). Die Kulturschaffenden sind gezwungen, patriotische Lieder zu singen oder zu emigrieren. Für ein Poster mit einem Tolstoi-Zitat wird man gerichtlich verurteilt.
Das ist keine neue Erscheinung, der eigene Staat war immer der Hauptfeind der russischen Kultur. Alexander Herzen hat es klar formuliert: „Der Staat hat sich in Russland wie eine Besatzungsarmee eingerichtet.“
Seit Jahrhunderten häutet sich das russische Machtsystem ein ums andere Mal und bleibt dabei immer dasselbe: eine Sklavenpyramide, die den obersten Khan anbetet. So war es zu Zeiten der Goldenen Horde, so war es unter Stalin, so ist es heute nach dem Anschluss der Krim und Beginn des Ukrainekriegs.
Die Welt wundert sich über das Schweigen der russischen Bevölkerung – man sieht nur vereinzelte Proteste gegen den Krieg. Die berühmte letzte Zeile des historischen Dramas Boris Godunow von Puschkin lautet: „Das Volk schweigt.“
Es ist die über Generationen hinweg erlernte und weitergegebene Überlebensstrategie: Schweigen ist sicherer. Gesünder ist es, keine eigene Meinung zu haben. Die Macht hat immer recht. Die Macht hängt nicht von der Meinung der Bevölkerung ab, sie ist einfach da oben, wie der Himmel, und man muss gehorchen, egal welcher Befehl kommt.
Das macht den russischen Zaren sakral. Wer widerspricht, landet im Gefängnis. Und noch dazu wissen die Russen aus eigener, ungeheuerlicher historischer Erfahrung, dass noch die widerwärtigste Macht in Russland besser als keine ist. Eine Volksweisheit sagt: „Man soll dem schlechten Zaren nicht den Tod wünschen.“ Der nächste könnte noch schlimmer sein.
Diesem Schweigen kann sich nur das Wort widersetzen. Deshalb war die Dichtung in Russland mehr als Dichtung. Deshalb versuchte die Staatsmacht immer die Kultur zu erwürgen oder zu missbrauchen. Indem die sowjetische Macht russischen Klassikern durch zahlreiche Denkmäler ihre Ehre erwies, wollte sie sich selbst einen Anstrich von Humanität und Rechtschaffenheit verleihen.
„Puschkin, unser Ein und Alles!“ tönte es 1937 von den Tribünen, hinter denen die vor Angst zitternden Henker saßen, tönt es auch jetzt vor dem Hintergrund der zerstörten ukrainischen Städte. Das Regime braucht die Kultur als eine menschliche Maske, als Kampftarnung. Deshalb benötigte Stalin Schostakowitsch, und Putin braucht Gergiev.
Der Weg zum Massaker von Butscha führt nicht über die russische Literatur, sondern über Publikationsverbote von Dostojewski und Bulgakow, Nabokov und Brodsky, Achmatowa und Platonow, über die Erschießungen von Nikolai Gumiljow und Isaak Babel, die Tragödien von Marina Zwetajewa und Perez Markisch, die Ermordung von Ossip Mandelstam und Daniil Charms, über die Hetze gegen Pasternak und Solschenizyn. Der Weg zu diesem Krieg führt über Jahrhunderte des verzweifelten und immer wieder verlorenen Widerstandskampfes der Kultur gegen die verbrecherische Staatsmacht.
Wenn man über die „imperialistische“ Denkweise der Russen spricht, vergisst man, dass das russische Imperium, im Unterschied zum British Empire, immer ein Sklavenimperium war, in dem das russische Volk am meisten erdulden und leiden musste. Sicher stellen sich die Engländer ein Imperium anders vor. Das russische Imperium existiert nicht für die Russen, sondern für sich selbst. Der einzige Sinn der russischen Macht ist der Machterhalt. Die „imperialistische“ Denkweise der Russen ist von anderer Natur.
Die Mehrheit der Bevölkerung lebt mental noch in der Vergangenheit: Man identifiziert sich mit dem Stamm und ist vom Rudelführer, dem Häuptling, Khan oder Zar vollkommen abhängig. Der moderne Mensch trägt selbst die Verantwortung für moralische Entscheidungen. Und wenn das Böse vom eigenen Land kommt, dann stellt er sich gegen den eigenen Staat und das eigene Volk.
Die meisten Russen leben noch in einem Zeitalter, in dem der eigene Stamm immer recht hat. Und die Staatsmacht nagelt ihnen seit Generationen das „Russki mir“-Weltbild in die Gehirne: Das heilige Vaterland sei eine Insel, umgeben von einem feindlichen Ozean, und nur der Zar im Kreml könne dieses Land und sein Volk retten und mit eiserner Hand die Ordnung in Russland bewahren.
Der Machterhalt erfordert Feinde und einen unendlichen Krieg. Und Soldaten. Berühmt wurden die Worte des Siegesmarschalls Schukow über schwere Verluste während des Zweiten Weltkriegs: „Macht nichts, russische Weiber werden noch Soldaten gebären.“
Sklaven werden mit einem bewährten Hilfsmittel zu Soldaten gemacht: Patriotismus. Alle Diktatoren verstanden es, im Volk die Liebe zur Heimat in Liebe zum Regime umzumünzen.
Und es funktioniert. Im russischen Fernsehen werden zwar die gleichen schrecklichen Bilder der Zerstörung und von Kinderleichen aus der Ukraine gezeigt wie im Westen. Aber man erklärt, dass die Städte von der ukrainischen Armee zerstört und die Kinder von den Ukro-Nazis vergewaltigt und ermordet würden. Die russische Armee verteidige doch in der Ukraine unsere Heimat gegen den Nato-Faschismus. Die Propaganda lügt, aber man glaubt ihr, weil die Macht immer recht hat (und der Fernseher ist der Vertreter der Macht im häuslichen Wohnzimmer) und weil die Russen immer auf der Seite des Guten gegen das Böse kämpfen.
Die Zivilisationslücke zwischen der modernen Menschheit und dem Teil der russischen Bevölkerung, der im mentalen Mittelalter steckengeblieben ist, kann allein von der Kultur überbrückt werden. Deshalb tut das Regime alles, um Kultur zu verhindern. Die ewigen „verfluchten“ Fragen aus der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts – Wer ist schuld? und Was tun? – quälten nur eine dünne gebildete Schicht.
Für Millionen analphabetischer Bauern stellte sich die wichtigste russische Frage anders: „Ist der Zar echt oder falsch?“ Wie damals, so auch jetzt. In Russland ist die Sekundarschulbildung seit der Stalinzeit obligatorisch, und die Literatur wird von der Staatsideologie missbraucht, um den Kindern „Patriotismus“ beizubringen. Die Macht braucht keine Menschen, die Fragen stellen, sondern hörige „Patrioten“.
Die Frage aber, ob der Zar echt ist, konnten nur Siege entscheiden. Stalin, der Sieger im „Großen Vaterländischen Krieg“, war echt, er wird bis heute verehrt. Gorbatschow verlor sowohl den Krieg in Afghanistan als auch den Kalten Krieg gegen den Westen, also war er zweifellos ein „falscher Zar“ und wird in Russland verpönt und gehasst.
Mit dem Krim-Anschluss hat sich Putin in den Augen der Bevölkerung als echter Zar legitimiert. Aber solange er im ukrainischen Feldzug nicht siegt, unterminiert das seine Legitimität drastisch. Wenn das Putin-Regime implodiert, kommt die Entputinisierung, aber sie wird von einem neuen Putin mit einem anderen Namen durchgeführt.
Das ist kein Krieg zwischen Ukrainern und Russen. Das ist ein Krieg zwischen Menschen, die sowohl Ukrainisch als auch Russisch sprechen, und Unmenschen, die verbrecherische Befehle ausführen. In diesem Krieg gibt es keine Nationalitäten – es gibt Menschen und Unmenschen. Menschen gehen auch in Russland auf die Straßen, um gegen den Krieg zu protestieren, Unmenschen schlagen sie zusammen und verhaften sie.
Die deutsche Sprache gehörte nicht den Nazis, Paul Celan hat seine Gedichte in der Sprache der Mörder seiner Mutter geschrieben. Russisch gehört nicht Putin und den Kriegsverbrechern. Die Sprache bleibt nur das, was sie immer war: eine außerkörperliche Existenz von Menschen und Unmenschen.
Sklaven gebären eine Diktatur und eine Diktatur gebärt Sklaven – aus diesem Teufelskreis gibt es nur einen Ausweg, und der führt über die Kultur. Gegen das Gift der „imperialistischen“ Denkweise ist die Literatur eine Arznei.
Die russische Literatur ist der Welt noch einen großen Roman schuldig. Vielleicht wird er von einem jungen Mann geschrieben, der jetzt in einem Schützengraben sitzt und noch keine Ahnung hat, dass er der Schriftsteller ist. Und er fragt sich: „Was mache ich hier? Wieso hat mein Staat mich angelogen und verraten? Weshalb sollen wir hier töten und sterben? Warum sind wir, Russen, Faschisten und Mörder? Wer ist schuld? Was tun?“
Wenn weise Juden morgens aufwachen, danken sie Gott, dass er ihnen ihre Seele zurückgegeben hat. Ich habe einen Traum, obwohl ich weiß, dass er nie in Erfüllung gehen wird. Eines Tages wird mein Land erwachen, entsetzt über den nächtlichen Albtraum, und sagen: Gott, ich danke dir, dass du mir unsere Seele zurückgegeben hast!
“Die russische Armee kämpft nur ums Überleben”
Michail Schischkin im Interview von Daniel Spliethoff
Heute ist Michail Schischkin ein gefragter russischer Schriftsteller, der in der Schweiz lebt. In den 80ern diente er als Reserveoffizier in der sowjetischen Armee. Seitdem habe sich die militärische Ausbildung in Russland kaum geändert, sagt Schischkin im Interview mit ntv. Die russische Armee bleibe “eine Schule der Sklaven”.
ntv: Michail Schischkin, der russische Angriffskrieg in der Ukraine kommt längst nicht so voran, wie sich der Kreml das wünscht. Woran liegt das?
Die russische Armee kann nicht mehr kämpfen, ohne Moral ist sie nicht mehr kampffähig. Die ukrainischen Soldaten kämpfen, weil sie wissen, warum sie dort sind – sie verteidigen ihre Freiheit. Was verteidigen die Russen dort? Nur ihr eigenes Leben. Sie wollen dort nicht kämpfen. Ich glaube, das Ende des putinschen Regimes beginnt jetzt schon, denn die russischen Soldaten und Offiziere verweigern die Befehle. Und es wird in diese Richtung weiter gehen, bis diese Pyramide zusammenbricht. Die Armee ist die einzige Kraft im heutigen Russland. Wenn sie auseinanderfällt, dem großen Boss nicht mehr zuhört, dann ist es das Ende.
Sie haben selbst als Offizier der Reserve in den 80ern in der sowjetischen Armee gedient, kennen die Kasernen dort – welcher Geist steckt in der militärischen Ausbildung in Russland?
Die russische Armee war schon immer eine Schule der Sklaven. Das war in der Sowjetunion so, das bleibt auch heute so. In dieser Schule wirst du zuerst von anderen Soldaten, die älter sind, zum Sklaven gemacht. Dann machst du die jungen Soldaten zu Sklaven. Diese Brutalität, dieser Hass, diese Unmenschlichkeit trägst du in deinem Herzen, in deiner Seele – und in deine Familie zurück.
Spricht das nicht für eine innere Zerrissenheit des russischen Militärs?
Im Internet kann man Aufnahmen der abgefangenen Telefonate der russischen Soldaten finden. Es ist sehr interessant, was sie über eigene Offiziere sagen. Die Armee muss eigentlich auf Solidarität beruhen, aber die Soldaten berichten davon, dass die Offiziere sie im Stich lassen. Sie sind für die eigenen Generäle einfach nur Fleisch. Auf der Militärparade auf dem Roten Platz hat man diese jungen Soldaten gesehen, wie sie im Stechschritt in den Tod marschieren. Das waren lebendige Leichen. Es tut weh, zu sehen, dass sie diese verbrecherischen Befehle erfüllen.
Wie groß ist denn dann noch der Rückhalt in Russland für Putins Krieg?
Ich habe in einem Telegram-Kanal der russischen patriotischen Opposition eine Meinung gelesen: “Was machen wir in der Ukraine? Sollten uns die Amerikaner oder irgendwelche Feinde angreifen, würde ich als erster in den Krieg ziehen. Wird aber jetzt die Mobilmachung ausgerufen, werde ich mich drücken.” Die Leute verstehen nicht, warum sie andere Leute erschießen müssen, warum sie dort ihr Leben opfern müssen. Irgendwann kommt es dazu, dass sich die Menschen zu einem Aufstand erheben werden. Denn das eigene Leben ist doch wichtiger, als die Befehle irgendwelcher Generäle, die in Moskau sitzen.
Kann Russland aus ihrer Sicht so überhaupt den Krieg gewinnen?
Die russische Armee kämpft in diesem Krieg nur ums Überleben. Und der einzige Weg zum Überleben ist, am Krieg gar nicht erst teilzunehmen. So wird dieser Krieg enden.
Wir hören immer wieder von brutaler Gewalt in diesem Krieg, der von der russischen Armee ausgeht. Mögliche Kriegsverbrechen in Butscha etwa. Aber auch Angriffe auf die eigenen Befehlshaber. Ein russischer General soll von den eigenen Soldaten mit einem Panzer überfahren worden sein, er ist an seinen Verletzungen gestorben. Wo kommt diese Rohheit her?
Haben Sie diese Soldaten gesehen, bevor sie in die Armee einberufen worden sind? Sie haben schon zuhause vergewaltigt. Das sind junge Leute, die bereits im Gefängnis waren, wie auch ihre Väter, Großväter und so weiter. Ein Drittel der russischen Bevölkerung hat eine Verbindung zum Gefängnis: Entweder sie selbst waren dort oder die nächsten Verwandten. Was erwarten Sie von Menschen, die sowieso Verbrecher sind?
Aber so kommt doch niemand auf die Welt, so sind ja nicht alle russischen Soldaten. Irgendwo müssen diese Männer diese Taten dennoch vor sich selbst rechtfertigen. Und auch vor den Menschen in Russland. Wie hält sich das System dennoch aufrecht?
Das ist eine gute Frage. Wissen Sie, das Schlimmste ist, dass die meisten Leute in Russland sehr zombiefiziert sind. Sie glauben, dass sie in einem Kampf gegen den Faschismus sind. Ich habe ein Telefonat eines 19-jährigen russischen Soldaten, der in der Ukraine gefangen genommen wurde, mit seiner Mutter gehört. Er sagt: “Mama, hier gibt es keine Faschisten, man hat uns angelogen. Wir erschießen hier Zivillisten.” Und die Mutter kann ihm nicht glauben, sie antwortet: “Nein, sie haben dich geschlagen, damit du sowas sagst. Du bist ein Held, du kämpfst gegen den Faschismus.” Für sie ist es die ganze Welt. Sie ist die Mutter eines Helden, der gegen den Faschismus kämpft. Und wenn ihr Sohn selbst ein Faschist ist, dann bricht ihr Weltbild zusammen. Das ist das große Problem in Russland. Wie kann man zur nationalen Schuldanerkennung kommen, wenn die Leute glauben, dass die ukrainischen Soldaten selbst die ukrainischen Zivilisten in Butscha getötet haben?
Brief an Europa, postlagernd – über eine Schönheit und eine Menschlichkeit, die endlich wieder erwacht sind
Das Gefühl von Europa als einem gemeinsamen europäischen Zuhause, auf das seine Erbauer nach dem Zweiten Weltkrieg so stolz waren, verschwand mit der Zeit in den Mühlen des Alltags. Jetzt meldet es sich zurück mit neuer Dringlichkeit.
Liebes Europa
Wer bist du? Was bist du? Wo bist du?
Ich wurde in Europa geboren, aber du warst für mich hinter Stacheldraht. Ich wollte deine Autoren lesen, aber viele von ihnen waren bei uns verboten. Ich wollte durch die Strassen deiner Städte streifen, aber du warst für mich nicht erreichbar. Für Generationen von Sowjetmenschen warst du ein Märchen, ein Mythos. Europa ist ein russischer Mythos über das menschliche Leben. Für uns, die hinter dem Eisernen Vorhang erstickten, hast du die «europäischen Werte» verkörpert: Persönlichkeitsrechte, Achtung der Menschenwürde, Freiheit – alles, was uns vorenthalten wurde.
Für dieses Europa kamen die Ukrainer 2014 auf den Maidan. Für dieses Europa gaben Männer und Frauen aus den «himmlischen Hundert» ihr Leben auf den Barrikaden. Nicht für die Europäische Union, vertreten durch Beamte in Brüssel, sondern für das menschliche Leben zu Hause. Sie rebellierten gegen die kriminelle Bande, die in der Ukraine herrschte und die immer noch in Russland herrscht. Ihr Europa war ein Synonym für Würde. Genau das kann ihnen der Diktator im Kreml nicht verzeihen. Wird es niemals verzeihen. Deshalb treibt die russische Propaganda den Russen in die Köpfe, dass Europa Faschismus sei.
Der Grossteil der russischen Bevölkerung wird vom Fernsehen zombifiziert und glaubt, dass Amerika und Europa einen Krieg führten, um Russland durch die Hände der ukrainischen Nazis zu zerstören. In ihrem Weltbild ist Russland eine von Feinden umgebene Insel, und Europa ist die Wiege des Faschismus, und wir müssen unsere Heimat wieder davor verteidigen, wie es unsere Grossväter getan haben. Propaganda lügt, aber Lügen sind eine siegreiche Waffe. Europa, du kannst dir nicht einmal vorstellen, dass deine grösste Leidenschaft der Hass auf Russland sei und dein Hauptziel, Russland zu vernichten.
Natürlich stimmt das nicht. Aber was stimmt?
Erinnere dich an die letzten Vorkriegsjahre (jetzt wird man so den Anfang des 21. Jahrhunderts bezeichnen). Du fühltest dich krank, erschöpft von finanziellen Problemen, Widersprüchen, Krisen, der Dominanz der Bürokratie. Europa der Beamten, die den Landwirten sagen, was und wie sie auf ihren Feldern anbauen sollen. Europa, das an Wellen asiatischer und afrikanischer Flüchtlinge erstickt. Europa, aus dem Länder fliehen.
Das Gefühl von Europa als einem gemeinsamen europäischen Zuhause, über das sich seine Erbauer nach dem Zweiten Weltkrieg so sehr gefreut hatten, verschwand mit der Zeit. Wahrscheinlich passiert das bei jedem grossen Neubau: Nach einem gemeinsamen Einweihungsfest vergeht den Bewohnern allmählich diese Freude an der Gemeinschaft. Alltägliche Probleme und Sorgen bringen Nachbarn gegeneinander auf. Der eine lässt Abfall im Hauseingang, der andere macht nachts Lärm, der dritte leiht sich Geld und gibt es nicht zurück, jemand zahlt keine Miete, und jemand versucht, Ordnung zu schaffen, und geht allen auf die Nerven.
Warum solche Nachbarn lieben? Warum sollte man ein solches Europa lieben? Kein Wunder, dass sich die Zentrifugalkräfte so verstärkt haben. «Ich will nicht nach Europa!», hast du gesagt und für den Brexit gestimmt. Und dann kamen noch Covid-19, geschlossene Grenzen, drakonische Massnahmen. Du hast dich in Selbstisolierung begeben und darauf gewartet, dass endlich das «normale» Leben zurückkommt. Nach der Pandemie kam der Krieg.
Wir achten auf die Luft nur dann, wenn sie uns fehlt. Europäische Werte sind die Luft, die du atmest. Wenn die Europäer ihren wahren Reichtum in den letzten Vorkriegsjahren wirklich nicht wahrnahmen – Freiheit, Verfassungsrechte, Demokratie, Gewaltenteilung, unabhängige Justiz, freie und nicht verfälschte Wahlen –, dann war bei ihnen nicht alles so schlimm. Denn der Krieg kam, und jetzt fühlst du dich, Europa, plötzlich wieder wie du selbst, du hast dich wiedergefunden: Angesichts einer gemeinsamen Bedrohung hast du dich zusammengeschlossen, wieder Solidarität verspürt, das Bedürfnis vernommen, deine Freiheit, dein gemeinsames Zuhause, deine Würde zu schützen. Das zu verteidigen, was du nicht aufgeben willst. Alles, was du lebst. Alles was dich zu Europa macht.
Im Jahr 2014 sagte die Ukraine: «Je suis Europe.» Du hast geschwiegen. Und jetzt, wo russische Raketen ukrainische Städte zerstören, russische Soldaten plündern, rauben, vergewaltigen, töten, hast du endlich geantwortet: «Je suis Ukraine.»
Es ist, als wärst du geweckt worden. Du bist aufgewacht. So viele Jahre hast du dich mit Händen und Füssen in die Fäden von Putins Gaspipelines verstrickt. Putin hat dich von seinem Öl drogenabhängig gemacht. Schmutziges Geld aus Russland, das seiner Bevölkerung vom Putin-Regime gestohlen wurde, hat deine Banken, deine Wirtschaft, deine Politiker infiziert.
Korrupte Experten erklärten dir beharrlich: Putin und seine geheimnisvolle russische Seele müssen verstanden und Zugeständnisse gemacht werden! Sanktionen werden in erster Linie uns Europäer treffen, deshalb sind sie schädlich! Es sind die Amerikaner, die einen Keil zwischen uns und die Russen treiben wollen! Und wir brauchen Arbeitsplätze, Gas, Frieden! Und übrigens, vielleicht hat Putin recht, und in der Ukraine sind wirklich Nazis an der Macht? Und wir brauchen Frieden!
Deine Experten, Europa, haben dich betrogen – und jetzt sind wir im Krieg.
Dieser Krieg hat dich anders gemacht, so wie du wirklich bist: geeint, stark, menschlich. Du nimmst Millionen von ukrainischen Frauen und Kindern auf. Du verzichtest auf das schmutzige Geld, mit dem das Putinsche Regime die Morde finanziert. Du zeigst Solidarität mit den Ukrainern, die für «eure und unsere Freiheit» kämpfen, für ihre und unsere Zukunft, für die Würde Europas und der ganzen Menschheit.
Europa, in diesen schweren Tagen und Wochen bist du du selbst geworden, ich sehe dich auf den Plätzen deiner Städte. Menschen, die gegen den Krieg protestieren und die Menschlichkeit verteidigen, haben wunderbare, schöne Gesichter.
Mir ist es wichtig, dass du auch nach dem Krieg, nach unserem gemeinsamen Sieg vereint, stark, weise, jung und schön bleibst, dass du deine Fehler anerkennst und wiedergutmachst, dass es dir bewusst bleibt, wer du bist und was du willst.
Ich weiss nicht, ob du diesen Brief lesen wirst. Trotzdem schreibe ich dir und schicke ihn postlagernd auf Anfrage.
Ich weiss, dass nur ungeschriebene Briefe nicht ankommen.
Jedem sein eigener Putin
Der Schriftsteller Michail Schischkin über die “Dorfdenkweise” und andere Missverständnisse.
Es war schon seit Jahren so: Wenn ein Taxifahrer irgendwo auf der Welt erfuhr, dass ich Russe bin, kam sofort ein freudiges Lächeln: «Putin!», und Daumen hoch. Ich konnte diese Liebe der Taxifahrer für Putin nie nachvollziehen. Es war mir nur klar, dass es hier um verschiedene Putins ging. Meinen konnte man nicht lieben. Und der Taxifahrer schuf den Putin zu seinem Bild.
Warum man meinen Putin hasst, liegt auf der Hand. Der KGB-Agent hat die Präsidentenkarriere mit dem blutigen Opfer seiner Landsleute gestartet: Zum Vorwand für den Tschetschenienkrieg wurden Moskauer:innen in ihren Wohnblöcken in die Luft gesprengt. Dann ging es nur in eine Richtung: zum Überfall auf die Ukraine am 24. Februar. Aber all die Jahre wurden andere Putins von vielen Menschen auf der Welt bewundert.
Im russischen Chaos der Neunziger wollte die gebeutelte Bevölkerung endlich Ordnung schaffen und das erniedrigte Vaterland «von den Knien aufstehen» sehen. Man hoffte auf einen neuen Herrscher mit eiserner Hand. Generationen von Sklav:innen identifizierten sich mit der Grösse ihres Imperiums. Putin versprach, die nationale Wunde zu heilen: Die Zeit des Chaos sei vorbei, Russland komme zurück an die Weltspitze.
Das von der Propaganda geschaffene Image vom omnipotenten Herrscher und Erlöser seines Volkes kam an. Der böse Westen wolle uns vernichten, und nur der gute Zar könne unseren «Russki Mir», die russische Welt, retten. Die «Rückführung» der Krim zum Heiligen Russland brachte der Bevölkerung zwar keine besseren Strassen oder Wasserleitungen und beheizte Klos in die Dörfer, dafür aber die Möglichkeit, stolz auf ihren Putin zu sein.
Das Schlüsselwort der putinschen Ideologie ist «Russki Mir», dabei bedeutete das Wort «Mir» ursprünglich die russische Dorfgemeinde. Die Mentalität einer mittelalterlichen Dorfgemeinde prägt die Psyche breiter Bevölkerungsschichten auch heute. Schrie jemand «Die Unsrigen werden geschlagen!», rannte man sofort mit Stöcken und Heugabeln los, ohne nachzudenken, ob «die Unsrigen» recht haben oder nicht. So schreit die putinsche Propaganda nun seit Jahren: «Die Unsrigen werden in der Ukraine geschlagen!»
Diese Besonderheit der «Dorfdenkweise» erklärt auch, warum so viele Russ:innen, die im Westen leben, Putin und seinen Krieg unterstützen. Körperlich lebt man in Berlin, Zürich oder Larnaka, mental aber lebt man im «Russki Mir». Der berühmte Schauspieler Sergei Bodrow, eine Kultfigur in Russland (im Kassenschlager «Bruder 2» spielte er einen guten russischen Banditen, der nach Amerika kommt und Amerikaner zu Dutzenden tötet), hatte es in einem Interview klar formuliert: «Während des Krieges kann man nicht schlecht über seine eigenen sprechen. Auch wenn sie falschliegen.»
Auf dem Planeten «Russki Mir» besetzte Putin die Nische eines guten siegreichen Zaren im Krieg des bösen Westens gegen «die Unsrigen». Nun zu seiner Nische auf dem Planeten Erde. Die zahlreichen beruflichen Putin-Versteher:innen im Westen, die ihr Brot als Russlandexpert:innen verdienen, interessieren mich nicht. So wie die korrumpierten Politiker: Heute bist du Kanzler Deutschlands, morgen Putins Lakai. Doch die unentgeltliche Bewunderung von Putin ist erklärungsbedürftig.
Nicht nur auf indischen oder lateinamerikanischen Onlineplattformen wurde Putin als Held gezeichnet, der den imperialistischen USA endlich die Grenzen aufzeigt. Nicht nur iranischen und nordkoreanischen Führern hat Putin mit der berühmten Kampfansage an die USA im Jahr 2007 in München aus dem Herzen gesprochen: «Eine monopolare Welt, das heisst: ein Machtzentrum, ein Kraftzentrum, ein Entscheidungszentrum. Dieses Modell ist für die Welt unannehmbar. Es ist vernichtend, am Ende auch für den Hegemon selbst.» Das Prinzip «Der Feind meines Feindes ist mein Freund» vereinte Linke und Rechte auf der ganzen Welt.
Gründe, Putin zu lieben, gab es auch in westlichen Demokratien genug. Der Mann stehe für moralische Werte wie Christentum, Schutz der Familie, Kampf gegen die Homoehe und Schwulenparaden. Man bewunderte ihn für seine demonstrative Freiheit von jeglicher Political Correctness, für seine offene Anti-Wokeness. Als Statthalter echter Maskulinität stehe Putin für breitbeinige Männlichkeit und verteidige die Welt gegen den «Genderwahn». Der «knallharte Typ aus dem Osten» hinterfragte stillschweigend die westliche Gesellschaft in der «Cancel Culture»-Zeit: «Warum sollen Männer sich schämen, Männer zu sein, warum sollen Weisse sich mit einer rassistischen Erbsünde belastet fühlen, weil sie Weisse sind?» Für viele Leute, auch in demokratischen Ländern, wirkte sein Machogehabe imponierend.
Für Brigitte Bardot war Putin derjenige, der mehr für die Natur und die Erhaltung der Wildtiere getan habe als alle Präsidenten Frankreichs zusammengenommen. Manche waren von seiner kraftstrotzenden Pose mit nacktem Oberkörper beeindruckt. Und Roger Köppel hat die Putin-Bewunderung der Taxifahrer der Welt auf den Punkt gebracht: «Putin entlarvt den hohlen Moralismus seiner Gegner und die Dekadenz des Westens.» Der Geheimdienstler mit der «geheimnisvollen russischen Seele» scheint nur ein Spiegelbild der westlichen Sehnsüchte gewesen zu sein.
Nun hat Putin seine Bewunderinnen und Bewunderer auf der ganzen Welt enttäuscht. Kein brutaler Macho im Sattel, sondern ein aufgedunsener Zwerg, der sich hinter einem unendlich langen Tisch versteckt. Kein westlicher Politiker hat mehr für die Nato-Osterweiterung getan als Putin: Weitere Länder werden jetzt ins Verteidigungsbündnis drängen. Statt Wildtiere samt Klima zu retten, lässt er Städte bombardieren, Frauen vergewaltigen, Kinder töten. Moralische christliche Familienwerte sehen anders aus.
Auch der «Russki Mir» ist aufs Tiefste enttäuscht. Die verfluchten russischen Fragen «Wer ist schuld?» und «Was tun?» quälten nur die Intellektuellen, für das einfache Volk stellte sich die wichtigste russische Frage anders: «Ist der Zar echt oder falsch?» Diese Frage konnten nur Siege entscheiden. Stalin war echt, er wird bis heute verehrt. Gorbatschow verlor sowohl den Krieg in Afghanistan als auch den Kalten Krieg gegen den Westen, «Gorbi» war klar ein falscher Zar und ist in Russland bis heute verpönt und wird gehasst.
Mit dem Krimanschluss hat sich Putin in den Augen der Bevölkerung als echter Zar legitimiert. Aber das Fehlen des Sieges im ukrainischen Feldzug unterminiert drastisch seine Legitimität. Die oppositionellen patriotischen Telegram-Kanäle mit Hunderttausenden Abonnent:innen schreien bereits vom Hochverrat und verlangen den Sieg bis zum bitteren Ende. Je mehr Särge aus der Ukraine nach Russland zurückkehren, desto lauter ist der Aufschrei: «Die Unsrigen werden geschlagen!» Die Suche nach dem echten Zaren hat bereits begonnen.
Man wurde von einem konkreten Mann enttäuscht, weil er den Vorstellungen seiner Bewunderinnen und Bewunderer nicht entsprechen konnte. Der Mann verschwindet, aber seine Verehrer:innen mit ihren Vorstellungen und Erwartungen bleiben. In Russland wird die Entputinisierung von einem neuen Putin mit einem anderen Namen durchgeführt werden. Im Westen wird auch nach Putins Verschwinden jemand durch sein Machoimage begeistern und dem US-amerikanischen Imperialismus trotzen müssen. Jemand muss ja gegen die Homoehe, gegen die Nato, gegen die US-Hegemonie halten! Ist das Bedürfnis der Menschen nach politischer Maskulinität überhaupt heilbar?
Putin wird verschwinden, aber die in ihn projizierten Sehnsüchte werden sich nicht in Luft auflösen. Der Schauspieler, der all diese Putins auf der historischen Bühne spielte, hat in jeder Hinsicht versagt. Die Rolle wird nun auf eine Neubesetzung warten.
“Es wimmelt zurzeit in Genf und Bern von russischen Agenten”, sagt der russische Autor Michail Schischkin, der sich überwacht fühlt
Der russische Kremlkritiker Michail Schischkin hat wenig Hoffnung, dass Wladimir Putin sich je vor einem Gericht verantworten muss. Der Schriftsteller sagt vielmehr, dass sein Nachfolger noch schlimmer sein könnte.
Von Jonas Roth, Erich Aschwanden
Herr Schischkin, was kann ein russischer Autor in der Schweiz gegen den Angriffskrieg in der Ukraine tun?
Momentan spüre ich eine riesige Enttäuschung. Die Literatur ist absolut machtlos. Für wen haben denn ich und meine russischen Kolleginnen und Kollegen in den letzten dreissig Jahren unsere Bücher geschrieben? Wir Schriftsteller müssen einmal mehr feststellen, dass kein Buch je die Welt besser gemacht hat. Nicht einmal die Bibel.
Wie fühlt es sich derzeit an, Russe zu sein?
Ich tue, was ich kann, um der Welt irgendwie zu beweisen, dass nicht alle Russen diesen verbrecherischen Krieg unterstützen. Die russische Führung hat den Angriff damit gerechtfertigt, dass die russische Sprache und Kultur in der Ukraine gerettet werden sollen. Doch was jetzt passiert, ist ein Verbrechen gegen die russische Sprache und die russischsprachige Bevölkerung. Die Sprache wird jetzt nicht mit der grossen russischen Literatur identifiziert, sondern mit den getöteten Kindern in Odessa, Butscha oder Mariupol. Putin hat meine Sprache zu der Sprache der Mörder gemacht.
Was können Sie angesichts dieser Ohnmacht und dieser Gefühle ganz konkret unternehmen?
Ich schreibe Texte, ich gebe Interviews, ich trete auf. Es ist meine Rettung. Hätte ich nur vor dem Bildschirm gesessen und mir diese schrecklichen Bilder mit den zerbombten Städten und verkohlten Leichen angeschaut, dann wäre ich explodiert. Dabei ist es für mich sehr wichtig, auch vor ukrainischen Flüchtlingen zu sprechen. Diese Leute kennen mich und meine Bücher nicht. Wenn ich vor ihnen auftrete, wie vor kurzem in Basel-Landschaft, bin ich für sie einfach ein Russe, also ein Feind. Als Russe habe ich die Verantwortung dafür, dass sie ihr Zuhause verloren haben, und für die Verbrechen, die in ihrer Heimat begangen werden. Ich muss diesen Leuten erklären, dass nicht alle Russen den Krieg unterstützen. Wenn ich die Bühne verlasse und mir die Leute applaudieren, die mir vorher feindlich gegenüberstanden, dann habe ich das Gefühl, etwas gegen den Krieg gemacht zu haben.
Sie leben in einer kleinen, idyllischen Gemeinde in der äussersten Ecke der Schweiz. Ganz weit weg von der Ukraine.
Früher waren wir weit weg von der Ukraine. Doch seit dem 24. Februar befinden wir uns mitten im Geschehen. Wir haben bei uns eine ukrainische Familie aufgenommen, unsere russischsprachigen Freunde aus Odessa. Der achtjährige Mischa und seine Mutter haben bei uns gewohnt. Wir wollten den beiden ein möglichst normales Leben bieten. Doch wie kann man dies, wenn das Kind immer an seine Grossmutter denkt, die in Odessa zurückgeblieben ist? Wie erklärt man ihm, warum ein russischer Pilot sein Zuhause zerstören und seine Grossmutter töten kann? Jetzt haben sie eine Wohnung in Zürich gefunden, aber ein normales Leben können sie nicht führen.
Mit Ihren Büchern und offenen Briefen haben Sie sich offensiv gegen das herrschende Regime in Russland gestellt. Das ist bekanntlich mit Gefahren verbunden. Wie sicher fühlen Sie sich in der Schweiz?
Zahlreiche Länder haben in den letzten Wochen sogenannte russische Diplomaten weggeschickt. Viele dieser Leute gingen nicht zurück nach Moskau, sondern in die Schweiz. Daher wimmelt es zurzeit in Genf und Bern von russischen Agenten. Meine Frau erzählte mir vor kurzem, dass ein Auto mit Genfer Kennzeichen vor unserem Haus gestanden sei. Ich wollte das erst gar nicht glauben. Doch einige Tage später beobachtete ich aus dem Fenster tatsächlich dasselbe. Ich ging raus und versuchte, mit den beiden Männern Kontakt aufzunehmen, die in dem Auto sassen. Doch sie brausten mit quietschenden Reifen davon. Das ist eine sehr unschweizerische Art.
Wieso sprechen Sie so offen über diese Zwischenfälle?
Es ist die einzige Möglichkeit, sich zu verteidigen. Wenn die Agenten sehen, dass es publik gemacht wird, werden sie nicht so frech.
Haben Sie Angst, nicht nur überwacht, sondern allenfalls sogar entführt zu werden?
Ich will gar nicht daran denken, was auf der Aufgabenliste dieser Männer steht. Ich weiss nur, dass früher so etwas nicht denkbar war. Doch jetzt sind sie plötzlich da.
Sie haben sich intensiv mit der sogenannten russischen Schweiz befasst und ein Buch über dieses Thema geschrieben. Warum übte die Schweiz im Verlauf der Geschichte eine so grosse Anziehungskraft auf russische Einwanderer aus?
Die Schweiz war wie ein alternatives Russland. Alles, was in Russland politisch verboten war, war hier erlaubt. In der Schweiz konnten jene Bücher gedruckt werden, die in Russland nicht erscheinen durften. Alexei Nawalny sprach stets vom «schönen Russland der Zukunft». Das war die Schweiz für die Kritiker des jeweiligen Regimes schon seit langem. Man wollte diese Freiheiten auch in Russland haben.
Ist die Schweiz immer noch dieses Antirussland?
Dafür muss man einen Blick auf das heutige Russland werfen. Jetzt haben wir dort den Faschismus pur. Egal, was die russischen Behörden sagen. Es gilt nur, was sie tun. In diesem Sinne ist jedes demokratische Land Antirussland, nicht nur die Schweiz.
Wie viele dieser Exilrussinnen und -russen, die in der Schweiz leben, unterstützen dieses faschistische Regime von Wladimir Putin zumindest ideell?
Das lässt sich nicht messen, doch es gibt Anhaltspunkte dafür, dass es gar nicht so wenige sind. Wenn man die Gespräche auf den Facebook-Seiten «Russki Zürich» oder «Russki Bern» verfolgt, stehen einem die Haare zu Berge. Es gibt Leute, die sich schon seit Jahren körperlich in der Schweiz aufhalten, mental aber immer noch im proputinschen Russland sind.
Wie ist das zu verstehen?
In Russland gibt es zwei psychologisch völlig unterschiedliche Völker, die sich beide als Russen bezeichnen. Der kleinere Teil, zu dem ich gehöre, vertritt die europäischen Werte. Für sie ist nicht der Staat, sondern die individuelle Persönlichkeit das Wichtigste. Die Beurteilung von Gut und Böse liegt gemäss dieser Auffassung bei jedem Einzelnen. Wenn der Staat falsch handelt, dann spreche ich mich dagegen aus.
Und das andere Volk?
Die meisten Russinnen und Russen leben noch im Mittelalter. Sie bilden dieses «Russki Mir», die russische Welt, die der Eckstein der neuen, putinschen Ideologie ist. Das Wort Mir war früher die Bezeichnung für eine Dorfgemeinschaft. Wenn jemand kommt und sagt, die Unsrigen würden geschlagen, greifen die Menschen zu Heugabeln und Stecken, ohne zu überlegen: Die Unsrigen haben immer recht. Sie identifizieren sich mit dem eigenen Mir, dem eigenen Stamm. Sie übernehmen keine persönliche Verantwortung, treffen nicht selber die Entscheidungen, sondern ihr Rudelführer. Körperlich können diese Russen auch in Larnaka oder in Berlin sein – oder in Zürich, mental sind sie aber im putinschen Russland.
An wen denken Sie?
Ich nenne ein krasses Beispiel. Die Hotelunternehmerin Ljuba Manz ist seit Jahren eine der Galionsfiguren der proputinschen russischen Gemeinschaft in der Schweiz. Die «Zarin von Zürich», wie die NZZ sie nennt, besitzt das Hotel St. Gotthard. Dort haben der deutsche Journalist Fritz Pleitgen und ich 2019 unser Buch Frieden oder Krieg präsentiert. Ljuba Manz war über meine antiputinschen Äusserungen so empört, dass sie eine flammende Rede für Putin gehalten und dann den Raum verlassen hat. Ich frage Frau Manz: Unterstützen Sie weiterhin Putin, oder distanzieren Sie sich klar von diesem Kriegsverbrecher?
Zurzeit hört man von diesen Leuten, die weiterhin zu Putin stehen, in der Öffentlichkeit kaum etwas. Denken Sie, dass diese Unterstützer bald wieder offensiver auftreten werden?
Im deutschen Lörrach, das knapp zwanzig Autominuten von hier entfernt ist, gab es vor kurzem einen Autokorso von Putin-Anhängern. Wer hätte gedacht, dass so etwas in einem demokratischen Staat passieren kann? Jetzt steht das symbolische Datum des 9. Mai vor der Tür, an dem Russland den Sieg über Nazideutschland feiert. Bisher nahmen Exilrussen aus der ganzen Schweiz sowie Mitarbeiter der Botschaft der Russischen Föderation aus Bern an einer Zeremonie am Grabmal der russischen Soldaten auf dem Basler Friedhof teil. Dabei wurde des sogenannten Unsterblichen Regiments gedacht. In Russland werden dieses Jahr auch Bilder der in der Ukraine gefallenen russischen Okkupanten mitgetragen werden. Ich befürchte, dass dies auch in der Schweiz der Fall sein wird.
Wie kann man das verhindern?
Die Schweiz muss nur ihre eigenen Gesetze anwenden. Wenn jemand zu Krieg und Hass aufruft, dann muss dies mit Haft bis zu drei Jahren bestraft werden, wie es das Strafgesetzbuch vorsieht.
In Ihrem offenen Brief haben Sie geschrieben: «Nicht alle Russen sind für Putin, Putin ist nicht ganz Russland.» Wollten Sie sich für Ihr «Russischsein» rechtfertigen?
Jetzt muss sich jeder Russe rechtfertigen; klar sagen, wo er steht. Alle Russen sind im Krieg. Wenn du schweigst, bist du mit Putin.
Und in der Schweiz schweigen die meisten?
Ja. Wenn private Personen schweigen, die nicht im öffentlichen Licht stehen, dann ist das nur die Sache ihres Gewissens. Aber zum Beispiel die russischsprachigen Medien in der Schweiz dürfen nicht schweigen. Nehmen Sie die Zeitschrift Russkaja Schweizarija (Russische Schweiz). Sie hat nie etwas Kritisches gegen Putin geschrieben. Seit Jahren bekommt diese Zeitschrift die Zuschüsse aus Russland. Mit diesem Geld werden durch verschiedene Kanäle die proputinschen Medien in der russischen Diaspora auf der ganzen Welt unterstützt. Das ist alles Propagandageld, das ist alles Goebbels-Geld. Weder in der Ausgabe vom März noch in der vom April gibt es in der Russischen Schweiz eine klare Aussage gegen das putinsche Regime und seinen verbrecherischen Krieg. Das Thema der letzten Ausgabe ist ganz harmlos: «Schweizer Stereotype». Wollen sie also weiterhin das Goebbels-Geld aus Russland kassieren?
Kürzlich haben ukrainische Kulturschaffende zum Boykott der russischen Kultur aufgerufen. Was halten Sie von dieser Forderung?
Wenn wir unter der russischen Kultur die staatlich unterstützte Kultur verstehen, welche nichts gegen den Krieg tut, dann bin ich mit den ukrainischen Kollegen absolut einverstanden. Diese Leute dürfen nicht mehr mit Tschaikowskys «Schwanensee» in die freie Welt. Aber wenn es darum geht, die russische Kultur und die russische Sprache grundsätzlich zu verbieten, ist es gerade das, worauf sich die putinschen Propagandisten freuen.
Also sehen Sie Ihr Werk als einen Beitrag zur «guten russischen Kultur», die über das hinausgeht, was der Staat tolerieren möchte?
Künstler in Russland müssen jetzt entweder patriotische Lieder singen oder emigrieren. Die freie Kultur ist eine Tautologie, Kultur kann nur frei sein. Es sind die Kulturschaffenden im Ausland, die die russische Kultur und das andere Russland schaffen. Das andere Russland hat sich vom Fluch des Territoriums gelöst, es ist frei von diesem patriotischen Faschismus und widersteht ihm durch seine Existenz. Es ist wichtig, der ganzen Welt zu zeigen, dass es ein anderes Russland gibt, das Kultur und keine Raketen bringt. Was verbindet mein Russland noch mit dem Russland von Putin? Nur die Sprache. Wir müssen nun unsere Sprache gegen Putin verteidigen.
Kürzlich haben Sie gesagt: «Die Neutralität ist ein Luxus, den man sich nicht mehr leisten kann.» Was erwarten Sie von der Schweiz?
Dasselbe, was ich immer von der Schweiz erwartet habe. Wie gesagt: Die Schweiz hat wunderbare Gesetze, die das gesellschaftliche Leben erhalten und die Menschenrechte schützen. Ich erwarte, dass diese Gesetze angewendet werden. Das reicht.
Wie meinen Sie das?
Nach dem Zerfall der Sowjetunion waren die Russen mental bereit für die westliche Demokratie, jene Demokratie, die sie als idealisierte Version aus den westlichen Filmen kannten. Doch der Westen hat es verpasst, am eigenen Beispiel zu zeigen, wie der Rechtsstaat funktioniert. Stattdessen hat er gezeigt, dass der Rechtsstaat mit dem grossen Geld aufhört. Das schmutzige, bei der Bevölkerung geklaute Geld der Verbrecher an der Macht landete auf den Schweizer Banken. Damals hätte man das Gesetz anwenden sollen. Doch man hat die Augen verschlossen und auf diese Weise die Entstehung der kriminellen Diktatur Putins unterstützt.
Also trägt die Schweiz eine Mitschuld?
Die Schuld ist natürlich vor allem eine russische. Aber die westlichen Demokratien, die ihre Gesetze nicht durchgesetzt haben, die tragen eine Mitschuld.
Gab es einen Moment, wo Sie hofften, dass in Russland alles besser wird?
Ja, 1991. Das deutsche Fernsehen drehte damals während des gescheiterten Putsches in Moskau, und ich gab ein Interview auf Deutsch, ich war ein ganz junger Deutschlehrer. Ich sagte, ich sei froh, dass mein kleiner Sohn Mischa in einem freien demokratischen Russland aufwachsen werde. Es gab so viel Hoffnung. Dann ging es schnell bergab.
Wann war für Sie klar, dass etwas schiefläuft?
1995 mit dem Beginn des Tschetschenienkrieges. Jelzin verstand, dass er nur an der Macht bleiben konnte, wenn er inmitten der ganzen Anarchie das Verlangen nach einer starken Hand befriedigt. Er wollte einen kleinen, siegreichen Krieg. Doch er verlor und wurde zu einem falschen Zaren.
Ein falscher Zar?
Das ist die Frage, die für die Russen am wichtigsten ist: Ist der Zar echt oder falsch? Nur Siege oder Niederlagen können das beweisen. Stalin siegte im Zweiten Weltkrieg. Er war ein echter Zar, ist bis heute beliebt. Gorbatschow hat in Afghanistan verloren, er hat den Kalten Krieg verloren. Er war falsch und ist bis heute verhasst.
Und Putin?
Mit der Annexion der Krim hat sich Putin als echter Zar in den Augen der breiten Bevölkerungsschichten legitimiert. Doch nun verliert er seine Legitimation, weil er den Krieg in der Ukraine verliert. Mittlerweile ist nicht nur die demokratische, sondern auch die patriotische Opposition gegen Putin. Sie hassen ihn, weil er diesen Krieg zu spät angefangen hat. Ginge es nach ihnen, hätte er die Ukraine schon 2014 vernichten sollen. Für diese Leute ist Putin jetzt ein Verräter. Er wird als schlechter Zar in die Geschichte eingehen.
Sagen wir, Putin kommt vor Gericht . . .
Putin wird nie vor Gericht kommen! Er wird ja den Richtern alles erzählen und sagen: Ich war doch nicht allein, die anderen haben auch mitgemacht. Deshalb werden die anderen es nicht zulassen, dass er vor Gericht kommt. Putin verreckt, bevor er vor einem Gericht steht.
Gibt es denn überhaupt die Möglichkeit einer freien, demokratischen Gesellschaft in Russland?
Das ist die Frage der Fragen. Für mich ist klar, dass sich die Zivilisation wie nach einem Naturgesetz entwickelt. Wie alle Flüsse irgendwann in den Ozean münden, müssen alle Völker irgendwann zu einer demokratischen Gesellschaftsordnung kommen. Nicht weil es das Beste ist, sondern weil es besser ist. Russland hat das zweimal versucht: 1917 und 1991. 1917 dauerte die Freiheit nur einige Monate, aber Russland war das freieste Land der Welt. Doch für die Mehrheit der Russen, für die Millionen ungebildeten Bauern, war diese Demokratie nur eine schwache Diktatur, eine Anarchie. Man wollte nicht in der Anarchie leben und sehnte sich nach der Ordnung, nach der starken Hand. 1991 geschah das Gleiche. Stalins Imperium war am Ende, aber die Russen hatten ihre neue Freiheit vom Himmel bekommen. Sie hatten nicht für diese Freiheit gekämpft und wussten nicht, was sie damit machen sollten. Sie suchten sich im Chaos der 1990er Jahre eine neue starke Hand und fanden sich in einer neuen Diktatur wieder.
Und was wird nun passieren?
Man kann sich vorstellen, was auf den Ukraine-Krieg folgen wird: Niederlage, Chaos, Versuche der Opposition, die Demokratie einzuführen. Diese Versuche werden scheitern, fürchte ich. Es müsste zu einer nationalen Schuldanerkennung kommen, zu einem Kniefall in der Ukraine. Aber ich zweifle sehr, dass es dazu kommen wird. Es wird zwar eine Entputinisierung stattfinden, aber sie wird von einem neuen Putin mit neuem Namen durchgeführt werden.
Das klingt pessimistisch.
Ich bin pessimistisch. Ich sehe keine Kraft, die in Russland die demokratische Gesellschaftsordnung einführen kann. Dafür braucht man reife Bürger, die selber entscheiden können. Keine Sklaven, die ihre Stimme für den Zaren abgeben, nach der alten russischen Weisheit, man solle einem schlechten Zaren nicht den Tod wünschen, denn der nächste könnte noch schlimmer sein. Nach diesem Prinzip funktioniert Russland. Wie kann man eine demokratische Gesellschaftsordnung aufbauen, wenn die meisten so denken?
Was können Sie dagegen tun?
Ich kann nur weiter mein Russland, das Russland der russischen Kultur, unabhängig vom Territorium aufbauen. Das tue ich gemeinsam mit anderen Kulturschaffenden. Dieses schöne Russland der Zukunft existiert bereits, aber nur virtuell. Offline wird es dieses Russland vielleicht nie geben.
Michail Schischkin – Schriftsteller in der Sendung «Musik für einen Gast»
Michail Schischkin ist russischer Schriftsteller. Und er engagiert sich seit zwei Jahrzehnten gegen den russischen Machthaber. Vor allem aber sieht er sich als Vertreter und Bewahrer der russischen Kultur, die seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine nur noch im Exil stattfinden kann.
Redaktion: Michael Luisier
Michail Schischkin über Russlands Krieg gegen die Ukraine
Der russische Schriftsteller Michail Schischkin, der seit über 25 Jahren in der Schweiz lebt, sagt: Als russischer Autor darf man nicht schweigen. Wie er den Krieg in der Ukraine erlebt und wie er die Zukunft seines Heimatlandes sieht, darüber spricht Schischkin im «Tagesgespräch».
Moderation: Barbara Peter
Die russische Armee war und bleibt eine Schule der Sklaven
In Russland hat jede Generation ihren Krieg. Die Soldaten aber gleichen sich in allen Zeiten. Der Kadavergehorsam wird ihnen von ihresgleichen eingeprügelt.
Der Kriegsplan des russischen Generalstabs sah voraus, dass sich die Nato mit ihren Streitkräften nicht in die sogenannte Befreiung der Ukraine einmischen werde. Warum auch sollte die Welt wegen irgendeines Mariupols im nuklearen Inferno enden? Diese Rechnung ging auf. Es würde auch keine Flugverbotszone geben am ukrainischen Himmel.
Die US-Geheimdienste wiederum wussten genau, wie viele Panzer, Kampfflugzeuge und Raketen Russland besitzt. Sie gingen davon aus, dass die Ukraine nach einigen Tagen militärisch besiegt sein würde. In dieser Hinsicht haben sich die Amerikaner verrechnet. Den Krieg entscheiden keine Panzer, sondern Soldaten.
Die russische Armee hat versagt. Die Ukrainer wissen, wofür sie kämpfen. Wissen es die russischen Soldaten?
Russland verliert den Krieg in der Ukraine. Russische Soldaten verlassen ihre Panzer aus Angst und fliehen. Die Offensive steckt fest, die Soldaten sind demotiviert, es fehlt an Treibstoff, an Nahrung. Ein krasses Beispiel für den desolaten Zustand der russischen Armee ist die Verpflegung. Die ganze Welt staunte, als man Bilder zu sehen bekam von 2015 abgelaufenen Feldrationen, die getötete und gefangengenommene Soldaten auf sich trugen. Putins Armee muss marodieren, um nicht zu verhungern. All das besagt, dass die neue Armee Russlands die alte Sowjetarmee geblieben ist, die Armee der Hungrigen.
Ich habe die militärische Ausbildung als Militärübersetzer an der pädagogischen Hochschule in Moskau abgeschlossen. Ich bin Offizier der Sowjetarmee, Leutnant der Reserve. Ich werde nie vergessen, wie ich im Militärlager in Kowrow bei der Vereidigung las: «Ich schwöre, bis zum letzten Blutstropfen mein sozialistisches Vaterland zu verteidigen.» Daraufhin küsste ich die Fahne, sie roch nach geräuchertem Fisch. Unsere Kommandanten hatten Bier getrunken, Fisch dazu gegessen und danach die Hände an der Fahne abgerieben.
Das Essen im Militär war miserabel, unaufhörlich Grütze und ein undefinierbares Gesöff, so dass wir stets mit knurrendem Magen herumliefen und sonntags Überfälle auf das nächstgelegene Dorf verübten. Dort stahlen wir Gemüse aus den Gärten, schüttelten Äpfel von den Bäumen und bekamen fast alle Durchfall davon.
Beliebt war der Küchendienst, ja er wurde geradezu als Fest empfunden, da man sich dabei nach Lust und Laune satt essen konnte. Wenn wir in der Küche die Büchsen mit dem Schmorfleisch öffneten, assen wir jeweils heimlich die Hälfte erst einmal selbst auf. Die andere Hälfte wanderte auf den Offizierstisch. Für die gemeinen Soldaten blieb nur noch Grütze ohne Fleisch übrig. Niemand stiess sich daran, niemand hielt es für niederträchtig, dem anderen das Essen aus dem Napf wegzustehlen, schliesslich tat es jeder, wenn er beim Küchendienst an der Reihe war.
Jede Armee spiegelt die Quintessenz der Gesellschaftsordnung wider. Die russische Armee spielt eine wichtige soziale Rolle im Land, sie ist eine Anlaufstelle für die Éducation sentimentale. Und die russische Armee war und bleibt eine Schule der Sklaven.
Der tiefere Sinn des Militärdienstes liegt in den «nicht auf Vorschriften beruhenden Verhaltensregeln», diesen unverbrüchlichen, ungeschriebenen Armeegesetzen, Dedowschtschina genannt. Die Stellung eines Soldaten in der sozialen Hierarchie hängt von der Zeit ab, die er abgedient hat. Die älteren Soldaten haben praktisch unbeschränkte Macht über die neuen Rekruten und nutzen sie aus, indem sie die Rekruten täglich zwingen, schwere Arbeiten auszuführen.
Willst du als Rekrut überleben, musst du zuerst zum Sklaven werden, deine Menschenwürde fahren lassen. Später wirst du von einem Sklaven zu einem Herrn, nun bist du an der Reihe, die Neuen zu prügeln, ihnen in die Stiefel zu pissen, sie eine mit Schuhwichse beschmierte Brotscheibe essen zu lassen, ihnen die von zu Hause zugeschickten Lebensmittel wegzunehmen. Die meisten russischen Männer absolvieren diese Sklavenausbildung und tragen die erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten in jede Familie. Die Brutalität in Alltagskonflikten in meinem Land ist erschreckend. Toleranz ist so gut wie unbekannt.
In ihrem Bericht über die «Situation der russischen Streitkräfte» veröffentlichte die Konrad-Adenauer-Stiftung 2006 folgende Zahlen: Jährlich wurden etwa 130 000 Straftaten begangen. Gegen 15 700 Soldaten und Offiziere wurde ein Strafverfahren eingeleitet, 15 000 von ihnen wurden verurteilt. Wegen des Diebstahls von Waffen, Technik, Ausrüstung und finanziellen Mitteln erhielten mehr als tausend Soldaten und Offiziere Freiheitsstrafen. 40 Prozent aller Straftaten waren auf physische Gewalt zurückzuführen. Monatlich starben (in der Friedenszeit!) durchschnittlich 88 Soldaten und Offiziere, das macht jährlich 1064 Soldaten, 276 von ihnen durch Selbstmord und 16 durch physische Misshandlungen der Vorgesetzten und anderer Soldaten.
Das waren die Zahlen aus offenen Quellen. Später begann die Putinsche Armeereform. In den letzten Jahren wurden solche Daten, gemäss der oppositionellen «Nowaja Gaseta», geheim gehalten. Der Verteidigungsminister schwor mehrmals, dass die Dedowschtschina in der Armee ausgerottet sei. Dass es nicht so ist, bezeugen regelmässige Medienberichte über Soldaten, die ihre sogenannten Waffenbrüder erschiessen und flüchten.
Um fair zu sein, muss man auch sagen, dass die Armee in Russland auch eine zivilisatorische Rolle spielt. Am 15. Februar 2006 erklärte der damalige Verteidigungsminister Sergei Iwanow in der Duma: «Viele Einberufene sehen zum ersten Mal im Leben eine Klosettschüssel, eine Zahnbürste und drei Mahlzeiten täglich. Deshalb fällt es nicht leicht, solche Soldaten zu erziehen.»
Wer hat gesagt, dass jede Generation ihren Krieg braucht? In Russland stimmt das. Zwei Freunde von mir fielen in Afghanistan. Die nächste Generation musste an den Kriegen in Tschetschenien teilnehmen. Unzählige Berichte von Veteranen stellen das gleiche Bild der russischen Armee dar: Hunger und Korruption. Es war gang und gäbe, dass Kommandanten an tschetschenische Rebellen Waffen und Informationen verkauften, mit anderen Worten: das Leben ihrer eigenen Soldaten. Der bekannte Journalist Arkadi Babtschenko, der selber in Tschetschenien gekämpft hatte, formulierte den berühmt gewordenen Grundsatz der Soldatenmoral in der russischen Armee: «Deine Heimat wird dich immer im Stich lassen, mein Sohn, immer.»
Nun hat die nächste Generation ihren Krieg. Das Image der reformierten, modernen, kampfbereiten Armee erwies sich als Selbsttäuschung der Putinschen Propaganda. Wenn das ganze kriminelle Regime auf der Korruption und der Unterschlagung der staatlichen Gelder basiert, dann betraf das in erster Linie die immensen Ausgaben für die Reformen und die Umrüstung der Armee.
Die undurchsichtigen Praktiken der Geldvergabe brachten sämtliche Reformversuche zum Scheitern. Auch die horrenden Militärausgaben konnten den kritischen Zustand nicht ändern. Berühmt wurde die Blamage der Rüstungsindustrie, als im Mai 2015 ein Panzer der neuen Generation Armata T-14 während der Militärparade auf dem Roten Platz liegenblieb und abgeschleppt werden musste. Die Produktion dieser Neuentwicklung geriet ins Stocken. Viele Ausrüstungen sind überdies veraltet und stammen noch aus der Sowjetzeit.
Was die Kriegsführung in der Ukraine betrifft, so gilt für die russische Armee die gleiche bewährte Taktik wie in allen früheren Kriegen: unermüdlich Soldatenmassen zu verfeuern. Russland hat einen Vorteil, der der gesamten zivilisierten Welt vorenthalten bleibt: Putin kümmert sich nicht darum, wie viele Tausende oder Zehntausende Soldaten er in der Ukraine opfert. Der berühmte «Siegesmarschall» Georgi Schukow formulierte es am deutlichsten: «Macht nichts. Russische Weiber werden noch mehr Soldaten gebären.»
Putin lehnte das Angebot des IKRK ab, die Leichen russischer Soldaten aus der Ukraine nach Russland überzuführen. Das ist alles, was man über die Beziehungen zwischen der Macht und dem Fussvolk in meinem Land wissen muss.
Gerade überlegte ich mir, wie ich diesen Text über die russische Armee und ihre Soldaten abschliessen sollte, da kam mein Sohn und fragte: «Papa, warum war ein griechischer Fusssoldat auf dem Schlachtfeld stärker als ein Dutzend Söldner des persischen Königs?» Ich antwortete: «Er war ein freier Bürger und verteidigte seine Freiheit, und diese waren Sklaven.»
Kultur-Talk: Was bewirkt ein Boykott russischer Kultur?
Michail Schischkn: “Im Krieg wird die Welt schwarz-weiss – ohne Schattierungen”
Der Krieg gegen die Ukraine polarisiert auch die Kulturszene. Müssen sich russische Kulturschaffende zu Putins Politik positionieren? Bricht ein Kultur-Boykott die falschen Brücken ab? Die Meinungen gehen auseinander.
Ein Gespräch mit Ilma Rakusa und Michail Schischkin
Autor: Irene Grüter
Radio SRF 2 Kultur, Kultur-Talk, 23.03.2022
Seit Kriegsbeginn vergeht kein Tag ohne Aufruf für oder gegen einen Kultur-Boykott. «Wollen Sie die russische Aggression stoppen? Stoppen Sie deren Kultur bei der Beeinflussung Ihres Geistes.» Das schrieb die ukrainische Filmemacherin Darya Bassel.
Es ist nicht der einzige Appell, der zu einem generellen Bann russischer Kultur aufruft. Auch der PEN Schriftsteller-Verband der Ukraine forderte kurz nach Kriegsbeginn den weltweiten Boykott russischer Bücher und Verlage.
Mittlerweile relativierte der PEN-Präsident Andrej Kurkow diese Forderung und plädierte für eine «Weisse Liste» mit Namen jener Kulturschaffenden aus Russland, die sich klar gegen den Krieg aussprechen. Auch ein offener Brief wehrt sich gegen einen pauschalen Boykott russischer Kulturschaffender.
In den Feuilletons und auf den Leserbriefseiten sorgt die Frage für Kontroversen. Viele fänden es undenkbar, in diesen Tagen ein Konzert der Starsopranistin Anna Netrebko zu geniessen, die sich zaghaft vom Krieg, aber nicht von Putin distanziert hat.
Andere berufen sich auf die Meinungsfreiheit und finden es falsch, wenn Kultur-Institutionen die Zusammenarbeit künden, weil Kunstschaffende eine Stellungnahme scheuen. Schliesslich gehe die politische Haltung den Arbeitgeber nichts an.
Für den russischen Schriftsteller Michail Schischkin hingegen ist klar: Wer diesen Krieg nicht öffentlich verurteilt, soll nicht im Westen arbeiten dürfen. «Im Krieg wird die Welt schwarz-weiss, ohne Schattierungen. Wenn Du schweigst, unterstützt Du die Angriffe auf ukrainische Städte», sagt Schischkin, der seit langem in der Schweiz lebt.
Obwohl er die Entwicklung der russischen Gesellschaft seit Jahren in luziden Essays analysiert und Putins Regime scharf kritisiert, bittet er, sichtlich aufgewühlt, um Vergebung für die Verbrechen, die jetzt im Namen Russlands in der Ukraine verübt werden.
Schischkin hofft mit Blick auf die Zukunft, dass der Dialog der Kulturen nicht gänzlich abreisst: «Nach dem Krieg wird so viel Schmerz, so viel Hass in den menschlichen Seelen bleiben – da wird nur die Kultur helfen können.»
Die Zürcher Autorin und Kulturvermittlerin Ilma Rakusa stimmt grundsätzlich zu, dass Schweigen nach Mitläufertum aussieht. Sie hat aber auch Verständnis für russische Künstlerinnen und Intellektuelle, die jetzt aus schierer Angst ruhig sind und abwarten. «Bei Einzelpersonen muss man genau hinschauen. Ich halte es nicht für angemessen, einen Generalverdacht über alles Russische zu verhängen.»
Im Gegenteil könnte eine Kollektivstrafe bewirken, dass Putins Narrativ vom russophoben Westen bestärkt würde. Klar ist für sie, dass es zurzeit keine Zusammenarbeit mit staatlich gelenkten und finanzierten Kulturinstitutionen aus Russland geben soll.
Während Bomben auf die Ukraine fallen und täglich Menschen sterben, liege der Fokus nun ohnehin nicht auf dem Umgang mit russischen Kulturschaffenden, sagt Ilma Rakusa. «Wenn das Schlimmste – der Krieg – überstanden ist, muss die Kultur wieder aktiv werden. Sie ist eine soft power, sie hat ihre eigenen Möglichkeiten, Menschen zu bewegen, zu sensibilisieren, zu informieren, zu verändern.»
PEN Ukraine-Panel “Nein zu Putins Krieg – Was kann Literatur leisten?”
PEN Ukraine-Panel im Rahmen der Lepziger Buchmesse Pop-Up mit: Marjana Gaponenko (Ukraine), Michail Schischkin (Russland), Volha Hapeyeva (Belarus), Karl Schlögel. Moderation: Cornelia Zetzsche
Hoffen auf die Stunde null – um aus dem historischen Teufelskreis von Desaster und Demütigung herauszufinden, braucht Russland eine “Entputinisierung”
Wenn Putin über seinem Krieg stürzt, steht die Frage nach einem russischen «Nürnberg» im Raum. Wer aber soll wie den Prozess der ideologischen Entgiftung bewerkstelligen? Freilich gibt es für Russland keinen anderen Weg als eine lange, schmerzhafte Wiedergeburt.
Die zerbombten ukrainischen Städte und die Kinderleichen werden im russischen Fernsehen nicht gezeigt. Die mutigen jungen Leute in Russland, die gegen den Krieg protestieren, werden verprügelt und verhaftet. Die meisten schweigen, es gibt keine Massenproteste, keine Streiks. Und es tut weh zu sehen, dass viele meiner Mitbürger den Krieg gegen die Ukraine unterstützen: Sie kleben das Kriegsemblem «Z» auf Fensterscheiben bei sich zu Hause und auf ihre Autos.
Das Fernsehen zeigt jetzt fast in Endlosschlaufe das Interview mit dem berühmten Schauspieler Sergei Bodrow, einer Kultfigur in Russland: «Während des Krieges kann man nicht schlecht über seine eigenen Leute sprechen. Auch wenn sie falschliegen. Selbst wenn dein Land während des Krieges falschliegt, solltest du nicht schlecht darüber reden.» Und das funktioniert, man will die «eigenen Leute» unterstützen, auch wenn sie auf die Ukrainer schiessen.
Die moderne Menschheit und den grössten Teil der Russen trennt eine Revolution, die wichtigste Revolution der Menschheit: der Übergang von der Vorherrschaft des kollektiven Bewusstseins zum Primat des individuellen. Jahrtausendelang identifizierte man sich mit dem Stamm und sah sich vom Rudelführer, dem Häuptling, Khan oder Zar vollkommen abhängig. Erst vor wenigen Jahrhunderten begann eine grundsätzlich andere menschliche Gesellschaftsordnung zu entstehen, in welcher der Einzelne frei ist.
Bevor die Verfassung der USA, die mit den Worten «We the People» beginnt, geschrieben werden konnte, musste eine neue Spezies von Menschen entstehen, die sich ihrer menschlichen Würde bewusst sind. Die riesige zivilisatorische Lücke zwischen den beiden Kulturen hat sich bis jetzt nicht überbrücken lassen. Darin besteht das Drama Russlands und der Russen: Nur ein kleiner Teil meiner Landsleute ist für das Leben in einer demokratischen Gesellschaftsordnung bereit, die überwältigende Mehrheit jedoch kniet noch vor der Macht und findet sich mit der allgemeinen Bevormundung ab.
Wenn im Verlauf von Generationen alle ausgemerzt werden, die selbständig denken, wenn es ums nackte Leben geht, setzen sich einzig jene Qualitäten durch, die das Überleben sichern: schweigen, Zufriedenheit mit der Obrigkeit mimen. Aber kann man Menschen solches vorwerfen, wenn dies die einzige Überlebensstrategie war? Und noch immer ist und bleibt? Was passiert denn mit denen, die nicht länger schweigen wollen? Sie werden verhaftet und kommen ins Gefängnis – oder sie müssen emigrieren, solange es noch nicht zu spät ist.
Bereits zwei Versuche, eine demokratische Gesellschaftsordnung in Russland einzuführen, scheiterten. Die erste russische Demokratie von 1917 dauerte nur einige Monate lang. Die zweite in den 1990er Jahren hielt mit Müh und Not einige Jahre durch. Jedes Mal, wenn mein Land versucht, eine demokratische Gesellschaft aufzubauen, Wahlen, ein Parlament und eine Republik einzuführen, findet es sich in einem totalitären Imperium wieder.
Wie ist es denn: Eine Diktatur gebiert ein Sklavenvolk, oder ein Sklavenvolk treibt eine Diktatur hervor? Es ist wie mit dem Huhn und dem Ei. Wie kann man diesen Teufelskreis durchbrechen? Wo soll der russische Neuanfang beginnen?
Nach dem Sturz Hitlers und des Nationalsozialismus hat Deutschland aus dem Teufelskreis von Diktatur und Untertanengeist herausgefunden. Warum schafft Russland das nicht? Die Deutschen haben ihre Lektion in Schuldbekenntnis und Vergangenheitsaufarbeitung tüchtig gelernt und es geschafft, nach 1945 eine demokratisch orientierte Gesellschaft aufzubauen. Allerdings basierte die Neugeburt der Nation auf der totalen Kriegsniederlage. Auch Russland braucht eine solche Stunde null. Ohne die Anerkennung eigener nationaler Schuld nach innen wie nach aussen ist kein demokratischer Neubeginn möglich.
Es gab niemals eine vollständige Entstalinisierung Russlands, und es gab nach 1991 keinen Nürnberger Prozess für die Kommunistische Partei. Heute hängt das weitere Schicksal Russlands von der «Entputinisierung» ab. Der «von nichts wissenden» deutschen Bevölkerung wurden 1945 die Konzentrationslager gezeigt, ebenso sollte man den «nicht wissenden» Russen die zerstörten ukrainischen Städte und die Leichen von Frauen und Kindern zeigen. Wir, die Russen, müssen unsere Schuld offen und mutig anerkennen und um Vergebung bitten. Dieser kollektive Weg ist unvermeidlich. Ob es je zu einem russischen Kniefall in Kiew, Charkiw, Warschau, Budapest, Prag, Tallinn, Vilnius, Riga und Grosny kommen wird?
Die Deutschen versuchten sich 1945 zu rechtfertigen: Ja, gewiss, Hitler war ein übler Verbrecher, umgeben von Bösewichten, aber wir, das deutsche Volk, waren nicht wirklich im Bild, wir waren genauso Hitlers Opfer wie andere. Die Entputinisierung wird in dem Moment scheitern, da die Russen sich dieses Argumentationsmusters bedienen: Putin und seine kriminelle Bande hätten das Volk zur Geisel genommen, ja Putin habe einen verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine geführt, aber wir, die einfachen Russen, seien belogen worden und hätten gedacht, dass es um die Befreiung der Ukrainer vom Faschismus gehe. Wir seien genauso Opfer Putins wie andere. Das wird der Startschuss für einen neuen Putin sein.
Georg Büchner schrieb 1834 in einem Brief an seine Braut: «Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?» Solange nicht jeder Russe diese Frage für sich selber gestellt und beantwortet hat, ist dem Land der Weg in die Zukunft versperrt. Die «wichtigste Revolution der Menschheit» kann in Russland nur beschleunigt werden, wenn bei dessen Einwohnern die Einsicht wächst, dass die Verantwortung für alles nicht «oben», sondern bei einem selber liegt.
Nach dem Krieg wird die Ukraine mithilfe der ganzen Welt schnell wiederaufgebaut werden. Russland dagegen wird wirtschaftlich in Trümmern liegen bleiben. Der Zerfall des Imperiums wird sich mit voller Wucht fortsetzen. Den Tschetschenen werden andere Völker und weitere Regionen in die Unabhängigkeit folgen. Die Russische Föderation hört auf zu existieren.
Doch die Fliehkraft der Völker im letzten Imperium der Welt wird nicht nur eine zerstörerische, sondern auch eine reinigende und heilende Kraft haben. Der sich abzeichnende Zerfall wird schmerzhaft sein, aber zugleich einen unentbehrlichen Schritt auf dem Weg zu Freiheit und Demokratie darstellen. Das russische Bewusstsein muss akzeptieren lernen, dass es mehrere Staaten geben wird, in denen Russisch eine staatlich anerkannte Sprache darstellt. Der imperiale Gedanke muss aus den Köpfen und Seelen wie ein bösartiger Tumor entfernt werden. Erst wenn diese Operation erfolgreich durchgeführt ist, können sich in dem neuen Staat Reformen entfalten und durchsetzen.
Weder die Nato noch die Ukraine können für Russland die Entputinisierung durchführen. Die russische Bevölkerung muss dies selber machen. Ist mein Volk dieser Aufgabe gewachsen? Ist es realistisch zu glauben, dass auf den Territorien, die sich von der Moskauer Zentrale lösen werden, demokratische Rechtsstaaten entstehen?
Jugoslawien hat gezeigt, wie schnell es innerhalb eines multiethnischen und multireligiösen Staates zu brutalsten Kriegen und ethnischen Säuberungen kommen kann. Wenn die Gewalt eskalierte, würde das Russland wieder um Jahrhunderte zurückwerfen. Und für den Westen würde es neue riesige Flüchtlingsströme bedeuten. Es erwarten uns in der nächsten Zeit Wirren in einem Land, in dem demokratische Ideen bei der breiten Masse der Menschen in Verruf gebracht wurden und die Bevölkerung es gewohnt ist, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft auf einen starken Mann zu setzen. Ein solcher wird sich sicherlich finden, und am Ende wird auch der Westen mit gewissem Verständnis und zu seiner Entlastung eine neue «Diktatur der Ordnung» akzeptieren. Niemand wünscht sich eine chaotische Zukunft für ein Land, das Tausende von Atomraketen besitzt.
Um ein Horrorszenario zu verhindern, braucht es die bewusste Anstrengung der ganzen russischen Bevölkerung, den gemeinsamen Willen, mit der Putinschen Vergangenheit zu brechen. Aber kann sich eine Demokratie ohne eine kritische Masse von aufgeklärten Bürgern, ohne eine freiheitliche innere Reife etablieren? In den Metropolen Moskau und Sankt Petersburg könnte dies möglich sein.
«Das schöne Russland der Zukunft» (Wahlspruch von Alexei Nawalny) muss unbedingt mit freien Wahlen beginnen. Doch wer wird diese durchführen und nach welchen Regeln? Dieselben Zehntausende verängstigter Lehrer und Lehrerinnen, die bei den bisherigen «Wahlen» die Fälschungen durchführten? Und wie kann man sicher sein, dass bei wirklich freien Wahlen in Russland der «Landesverräter» von der demokratischen Opposition gewinnt und nicht der «Patriot», der gegen die «ukrainischen Faschisten» gekämpft hat?
Eine Bevölkerung, die seit Jahrhunderten auf den gütigen Zaren hofft, kann man nicht innert kurzer Zeit zu mündigen Wählern formen. Und wer wird demokratische Reformen durchsetzen? Es darf nicht sein, dass beim Aufbau des neuen Staates Beamte zugelassen werden, die unter Putin korrupt und kriminell waren. Und, mit Verlaub, das waren sie alle!
Die Welt verlangt nach einem russischen «Nürnberg». Doch wer in Russland wird diese Prozesse organisieren und durchführen? Wer soll die Herkulesarbeit der Aufarbeitung der Vergangenheit leisten? Wer kann die Verbrechen aufdecken und die Schuldigen bestrafen? Die Verbrecher selber? Man kann zwar Putin absetzen und ersetzen, was aber fängt man mit einer Million korrupter Beamter, käuflicher Polizisten und willfähriger Richter an? Es gibt niemanden anders als sie. Die Bevölkerung meines Landes ist nicht einfach ersetzbar.
Und doch gibt es für Russland keinen anderen Weg als eine lange, schmerzhafte Wiedergeburt. Und all die Sanktionen, die Armut, die Verstossenheit werden auf diesem Weg nicht das Schlimmste sein. Viel schrecklicher wäre es, wenn es zu keiner inneren Neugeburt des russischen Volkes käme. Wladimir Putin ist ein Symptom und nicht die Krankheit.
Gredig direkt zum Ukraine-Krieg
SRF, “Gredig direkt”, 10.03.2022
“Gredig direkt” beleuchtet den Krieg in der Ukraine aus verschiedenen Blickwinkeln. Im Studio ordnen Experte Jeronim Perović und der russische Schriftsteller Michail Schischkin die aktuellen Geschehnisse ein. Zugeschaltet ist unter anderen Ex-EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.
“Liebe Schweiz! Die Epoche der Neutralität ist vorbei”
Friedensdemo in Zürich gegen den Krieg in der Ukraine am 05.03.2022
Die Rede von Michail Schischkin
Ich habe in den Nachrichten gelesen: am 1. März wurden in Charkiw Zwillinge geboren, ein Junge und ein Mädchen. Am nächsten Tag wurden ihre Eltern von einer Rakete getötet. Diese zwei Kinder kamen in unsere Welt und schon am nächsten Tag wurden sie Waisen.
Die Eltern dieser Babys wurden von russischen Soldaten, von der russischen Armee, von Russland getötet.
Ich bin Russe. Putin verübt diese ungeheuren Verbrechen im Namen meines Volks, meines Landes, in meinem Namen.
Putin ist nicht Russland. Im Namen meines Russlands, meines Volks möchte ich die Ukrainer um Vergebung bitten. Und weiß doch, dass alles, was dort geschieht, nicht vergeben werden kann.
Meine Mutter ist Ukrainerin, mein Vater Russe. Nun muss ich mich freuen, dass sie beide schon gestorben sind und diese Tragödie unserer Völker nicht miterleben.
Das ist kein Krieg zwischen Ukrainern und Russen. Das ist ein Krieg zwischen Menschen, die sowohl Ukrainisch als auch Russisch sprechen, und den Unmenschen, die die Sprache der Lüge sprechen und bereit sind die verbrecherischen Befehle zu erfüllen. In diesem Krieg gibt es keine Nationalitäten – es gibt Menschen und Unmenschen. Die Unmenschen haben keine Nationalität, sie sind Sklaven des putinschen Regimes. Menschen gehen jetzt in Russland auf die Strassen, um gegen den Krieg zu protestieren, Unmenschen schlagen sie zusammen und verhaften sie.
Putin weigert sich, die Leichen seiner Soldaten zurückzunehmen. Das ist alles, was man über Putin und sein Regime wissen muss.
Für viele hier im Westen begann dieser Krieg am frühen Morgen am 24, Februar. Dieser Krieg hat nicht erst jetzt, sondern 2014 angefangen.
Der besondere Hass des Diktators gegen die Ukraine ist dadurch zu erklären, dass die Ukrainer den Weg der Demokratie wählten. Wir teilen die blutige Vergangenheit, warum sollten wir nicht versuchen, die helle Zukunft zu teilen? Eine florierende demokratische Ukraine wäre ein Vorbild für die Russen. Das kann das putinsche Regime sich nicht leisten. Deshalb dieser Krieg.
Aber es war noch ein Wendepunkt, da konnte man den Aggressor noch frühzeitig stoppen. Die Olympiade in Sotschi. Es war schon damals absolut klar, wohin Russland geht. Die kriminelle Bande hat die Bevölkerung Geisel genommen. Putin baute die neue Diktatur auf. Eine Diktatur braucht Feinde und den Krieg und dann kam der Krieg gegen die Ukraine.
Ich habe damals zum Boykott der Olympiade aufgerufen. Wenn sie nach Sotschi gehen, dann unterstützen sie Geiselnehmer. Aber wer hört auf Schriftsteller? Was hat die Schweiz gemacht? Schwizerhüsli in Sotschi gebaut, wo der Bundespräsiden der ersten und besten Demokratie auf der Welt höchstpersönlich dem Diktator Stiefel geleckt hat. Was geschah weiter? Fast am nächsten Tag hat Putin die Krim annektiert und den Krieg gegen die Ukraine angefangen.
Mit der WM 2018 geschah die gleiche Geschichte. Ich war unter denen, die zum Boykott aufgerufen haben, aber was bedeutet die menschliche Würde im Vergleich mit Fussball-Milliarden-Gewinnen? Putin hat den Erfolg seiner WM als stille Zustimmung zu seinem Krieg gegen die Ukraine wahrgenommen. So war die Tür zum jetzigen Überfall auf die Ukraine offen.
Nun wird es in der Ukraine gekämpft. Die russische Propaganda hat letztendlich sich selbst belogen. Das Ziel dieser „speziellen Operation“ ist die Vernichtung einer demokratischen Ukraine. Aber das Resultat dieser „speziellen Operation“ wird die Vernichtung des putinschen Russlands sein.
Liebe Schweiz! Die Epoche der Neutralität ist vorbei. Die Neutralität ist ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können.
Wir müssen die Ukraine in ihrem Kampf mit allen Mitteln unterstützen. Die Ukrainer kämpfen jetzt für eure und unsere Freiheit. Die Ukrainer und die Russen haben einen gemeinsamen Feind, das putinsche Regime. Die Ukrainer kämpfen nicht nur für die Zukunft ihres Landes, sie kämpfen für die Zukunft Russlands. Mit Putin hat Russland keine Zukunft.
Und wenn alle Menschen im Kampf gegen die Unmenschen zusammenhalten, wird Putin diesen Krieg verlieren.
Slava Ukraine!
Russki voenny korabl poshjol na !
Putins Krieg – Und was macht die Schweiz?
Michail Schischkin in der “Arena” zum Ukraine-Krieg
“Die WM ist nicht dazu da, Putin die Stiefel zu lecken”
Der russische Schriftsteller Michail Schischkin sagt, Sport sei für Russland die dritte Stufe des Krieges. Und er erklärt, warum es wegen Putin zum Staatsdoping kommen musste.
Interview von Florian Raz
“Tages-Anzeiger”, 7.06.2018
Freuen Sie sich als Russe auf die Weltmeisterschaft in Russland?
Sicher habe ich mich gefreut, als wir 2010 die WM erhalten haben. Ich liebe Fussball. Aber das war ein ganz anderes Russland als das heutige.
Damals schon kam Wladimir Putin nach Zürich, um sich für die erhaltene WM beklatschen zu lassen.
Ja. Aber es war ein Russland, das zur zivilisierten Menschheit zurückkehren wollte. Klar habe ich schon damals kritisiert, was schlecht war. Aber das ist für mich Demokratie. Demokratie ist kein Paradies. Demokratie ist die Möglichkeit, zu verbessern, was schlecht ist.
Die russischen Journalisten haben Putin damals applaudiert. Das wirkte auf Schweizer befremdlich.
Da war das Imperium bereits unterwegs. Aber wir haben noch gehofft. Wer hätte denken können, dass Putin die Ukraine überfällt? Dass die Macht von einer Gruppe krimineller Beamter usurpiert wird, dass Wahlen manipuliert, dass Oppositionelle, Journalisten und Kulturschaffende ins Gefängnis geworfen werden? Das war unvorstellbar. Um zurück zu Ihrer Frage zu kommen: Hätte ich das damals schon gewusst, hätte ich mich nicht darüber gefreut, dass Russland die WM erhält.
Und jetzt, da die WM bald in Moskau angepfiffen wird?
Putin wird die WM so missbrauchen, wie er die Olympischen Spiele in Sotschi missbraucht hat. Die Teilnahme der anderen Nationalteams wird zum Zeichen der Solidarität mit dem autoritären Regime. Nach dem Sportfest in Sotschi kam die Annexion der Krim, dann der Krieg in der Ukraine, der Tausende Tote, Zehntausende Verwundete und Hunderttausende Flüchtlinge brachte. Was folgt auf den WM-Final?
Was erwarten Sie von den anderen Nationen?
Ich rufe den Bundesrat und die Regierungen anderer demokratischer Länder auf, die WM in Russland zu boykottieren. Wollen wir wirklich ein Regime unterstützen, das staatliche Geheimdienste einsetzt, um den Urin von Sportlern auszutauschen?
Was bringen Boykotte?
Geht es nur um Medaillen – oder geht es auch ein wenig um die menschliche Würde? Wenn es nur um Medaillen geht, dann kann man auch Urin panschen und durch KGB-Leute austauschen lassen. Aber es gibt wichtigere Dinge auf der Welt als den eigenen Erfolg. Es ist wichtiger, Solidarität mit den Geiseln dieser Diktatur zu zeigen, als ein paar Medaillen von den Geiselnehmern überreicht zu bekommen. Es geht bei der WM um die moralische Unterstützung der Geiseln. Und nicht darum, den Diktator zu umarmen und Putins Stiefel zu lecken.
Ist es denn nicht gut, wenn die Welt während der WM nach Russland schaut – und sich kritisch mit seinen Problemen auseinandersetzt?
Ach, es war doch während der Winterspiele genau das gleiche Argument: «Wir gehen nach Sotschi, protestieren dann aber!» Hat denn jemand in Russland die Proteste gesehen? Nein, da hiess es: «Schaut, auch die Schweizer sind gekommen, die unterstützen uns.» Wenn Sie mit dem Gedanken nach Russland gehen, Solidarität mit jenen zu zeigen, die von Putin unterdrückt werden, dann sind Sie sehr naiv. Sie werden missbraucht und im Fernsehen als Putin- Unterstützer gezeigt. Sie können sich nicht vorstellen, wie die Propaganda dort funktioniert.
Funktioniert denn westliche Kritik an Russland?
Gar nicht. Es ist klar, dass das alles Faschisten sind, die uns vernichten wollen. Logisch, dass die uns kritisieren (lacht). Und wenn ich Faschisten sage, dann meine ich das nicht im übertragenen Sinn. Es gibt den Begriff «Ukra-Faschisten». Das heisst, die Ukrainer sind Faschisten. Und der Westen, der die Ukraine unterstützt, besteht auch aus Faschisten, welche die Russen in der Ukraine vernichten wollen.
Sie haben über die Machtlosigkeit der Literatur geschrieben. Hätte der Sport mehr Kraft? Würde sich etwas in Russland bewegen, wenn niemand an die WM gehen würde?
Sport ist die Fortsetzung des Krieges. Nur so wird Sport in Russland verstanden: «Leider können wir die Feinde im Krieg nicht vernichten. Also schlagen wir sie wenigstens im Sport.» Sportliche Siege haben immer das Leben eines Regimes in Russland verlängert. 1972 haben erstmals kanadische Eishockey-Profis gegen Sowjets gespielt – und die russischen Spieler haben den wichtigsten sportlichen Wettkampf in der Geschichte der UdSSR verloren. Danach war die Sowjetunion dem Untergang geweiht. Jede sportliche Niederlage hat zu ihrem Zerfall beigetragen. Dasselbe gilt heute noch. Jeder Sieg russischer Sportler hilft Putin. Jede Niederlage bringt ihn seinem Fall näher.
Hoffen Sie also auf Niederlagen der russischen Mannschaft?
Als ich Kind war, habe ich mich klar mit den «Unseren» identifiziert. Ich war am Boden zerstört, als wir 1972 verloren. Später, mit 16, 17, habe ich schon verstanden, worum es ging. Jedes Spiel gegen eine Mannschaft aus der Tschechoslowakei war ein Kampf um das Prinzip. Hier «für unsere und eure Freiheit» und dort die sowjetische Diktatur. Klar, war ich da schon für die Tschechen. In Russland ist alles so verzerrt und verkehrt.
Aber die Mehrheit der Russen wird für das russische Team sein?
Die Diktaturen haben immer den Patriotismus ausgenützt. Als mein Vater 18 Jahre alt war, wollte er an die Front, die Heimat verteidigen. Welche Heimat hat er denn verteidigt? Er hat nur Stalins Regime unterstützt. Diese Heimat hat seinen Vater umgebracht. Es hiess zwar: «Wir haben Europa vom Faschismus befreit!» Ja, aber sie haben Europa einfach einen anderen Faschismus geschenkt. Mein Vater konnte das zwar verstehen, aber er konnte die Schlussfolgerung nicht akzeptieren. Er wollte ein Held sein. Das ist sehr verständlich. Alle Diktatoren nützen das aus. Deshalb brauchen die immer einen Krieg.
Wie jenen, der in der Ukraine angezettelt worden ist.
Es war schon vor der Geschichte mit der Krim absolut klar: Ein Imperium ist auferstanden, jetzt kommt die Diktatur, die braucht einen Gegner. Der Krieg lag schon lange in der Luft. Der Sport ist nur die Fortsetzung dieser Politik. Es gibt heissen Krieg, es gibt kalten Krieg – und es gibt den Sport. Im russischen Bewusstsein ist er die dritte Stufe des Kampfes.
Das heisst, ein schlechtes Abschneiden der russischen Nationalmannschaft wäre für Putin . . .
. . . das würde absolut zu seiner persönlichen Blamage. So, wie die Winterspiele sein Triumph waren. Es war von Anfang an seine Idee, im subtropischen Gebiet eine Winterolympiade durchzuführen. Und alle um ihn herum haben verstanden: «Jetzt braucht er Siege um jeden Preis.» Egal, ob mit Doping oder ohne, mit Urin-Austausch. . . Und Russland hat gewonnen.
Das wird an der WM nicht passieren.
Ich glaube, das russische Nationalteam ist so schlecht wie nie. Was ich gut finde, weil sich die Leute vielleicht fragen werden, warum die Mannschaft plötzlich so mies ist. Aber wenn alles schlecht ist im Land, dann kann der Fussball nicht plötzlich gut sein. Der Fussball ist schlecht, weil alles andere auch schlecht ist. Vielleicht gibt das einen Anstoss, selbst nachzudenken.
Sie schreiben auch über die Leidensfähigkeit des russischen Volkes. Das klingt sehr nach Stereotypen.
Alle Klischees sind banal. Aber warum gibt es sie? Weil etwas dran ist. Warum gehen die Leute in Frankreich auf die Strasse? Wegen jeder Kleinigkeit. In Russland wird gerade das Internet zensiert. Und in Moskau demonstrieren vielleicht 15 000 von 20 Millionen Einwohnern. Ich weiss, dass das jetzt faschistisch klingt: Aber es ist genetisch bedingt. Wenn im Verlauf von Generationen alle ausgerottet werden, die selbstständig denken . . . Wenn es ums nackte Leben geht, setzen sich nur jene Qualitäten durch, die das Überleben ermöglichen: Schweigen, mit der Obrigkeit zufrieden sein.
Das ist ein hartes Urteil.
Man kann das den Menschen nicht vorwerfen. Das war die einzige Überlebensstrategie. Und wo landen derzeit die Leute, die nicht schweigen? Sie kommen ins Gefängnis – oder sie müssen emigrieren. Denn die Diktatur ist klüger geworden. Wir haben eine smarte Diktatur, die im 21. Jahrhundert angekommen ist. Die Sowjetunion war von ihrer Bevölkerung abhängig. Darum waren damals alle Türen geschlossen, Stacheldraht, keiner konnte aus diesem Konzentrationslager auswandern. Aber jetzt sind alle Türen offen.
Woher kommt dieser Wandel?
Die Diktatur braucht die Bevölkerung nicht mehr – nur die Pipelines. Warum sollen sie mit der Bevölkerung die Gewinne teilen (lacht)? Es ist besser, wenn so viele wie möglich weg sind. Die brauchen keine totale Repression, wie Stalin sie angewandt hat. Sie verhaften den berühmten Theaterregisseur Kirill Serebrennikow. Nicht, weil er etwas getan hat. Sondern als Zeichen an die anderen. Wenn ihr nicht schweigt, dann geht es euch wie ihm. Also reist ihr besser aus.
Warum lehnen sich nicht mehr dagegen auf?
Das ist im Blut. Meine Eltern haben noch Stalin erlebt, sie waren ein Leben lang eingeschüchtert. Meine Mutter hat in der UdSSR unter Andropow als Schulleiterin einen Abend erlaubt, der einem nicht ganz genehmen Schauspieler gewidmet war. Schon kam die Anzeige; sie hat ihre Stelle verloren und wurde krank, weil die Schule ihr Leben gewesen war. Die letzten Jahre siechte sie mit Krebs dahin. In jeder Familie gibt es Geschichten, die zeigen: Wenn du an der Grenze balancierst, aber nicht über die Linie trittst, ist es okay. Aber wenn du den Schritt wagst, kann es ein schlechtes Ende nehmen. Alle wissen, wie es funktioniert.
Riskiert denn gar niemand etwas?
Die ganze Hoffnung ruht auf der Jugend. An den Protesten von Alexei Nawalny nehmen lauter Schüler und Studenten teil. Vielleicht erreichen die etwas. Aber es ist eine grosse Frage, ob es in Russland überhaupt möglich ist, eine Demokratie aufzubauen.
Und warum nicht?
Das Argument dafür lautet: Hier in der Schweiz lebten früher auch Menschenfresser, aber die Menschheit entwickelt sich in die Richtung der Demokratie. Nach diesem Gesetz müssten auch die Russen irgendwann zur Demokratie gelangen. Wenn Russen ins Ausland gehen, fügen sie sich ja auch ein. Aber es gibt viel mehr Gegenargumente.
Welche?
Wollen wir noch ein Interview führen? Ich spreche gerne darüber, aber ich glaube, dass das hier den Rahmen sprengen würde.
Und die WM kann keinen Beitrag zur Demokratisierung leisten?
Nur, wenn sich erstens die russische Mannschaft blamiert. Und zweitens, wenn es zu einem Boykott kommt. Das würde das Regime hart treffen.
Haben Sie selbst Probleme, wenn Sie nach Russland gehen?
Wenn ich mich verhalte wie in der UdSSR, wenn ich ruhig auf der Datscha sitze und Freunde treffe, dann nicht. Aber würde ich eine öffentliche Lesung machen, dann könnte es schon sein, dass die Kosaken kommen und mich mit Scheisse bewerfen. Aber was würde es bringen, wenn ich mich verhaften lassen würde? Nichts, absolut nichts. Das ist sehr deprimierend.
Wie würden Sie das heutige Russland beschreiben?
Russland ist ein sehr gutes Land für die Banditen, die das Land ausrauben. Und es ist ein gutes Land für Idealisten. Die können auf die Barrikaden gehen oder ins Gefängnis und fühlen dabei das pralle Leben. Aber für die Menschen, die ein normales, ehrliches Leben führen wollen, ist es ein sehr schlechtes Land. Denn irgendwann musst du dich entscheiden, zu wem du gehörst. Dann gehst du entweder zur Bande, weil du dein Brot nicht ehrlich verdienen kannst. Oder du gehst aus moralischen Gründen in die Opposition – dann kannst du alles verlieren.
Sie gehen nicht mehr in Ihre Heimat zurück?
2013, noch vor der Krim-Annexion, habe ich realisiert, dass die russischen Autoren vom Imperium missbraucht werden. Sie sollen das menschliche Antlitz des Systems zeigen. Die sagen: «Lesen Sie aus Ihren Büchern, tun Sie, was Sie wollen. Hinter Ihnen hängt einfach ein Porträt von Putin.» Als ich danach in einem offenen Brief erklärt habe, dass ich kein Kollaborateur sein wolle, ist im Internet eine Walze über mich hinweggefahren. «Schischkin, der Nationalverräter», und so weiter und so fort. Das muss man über sich ergehen lassen.
Vermissen Sie nichts an Russland?
Natürlich vermisse ich gewisse Dinge. Aber von meinem Moskau ist schon architektonisch nicht mehr viel übrig. Und dann dieses neue feudale System. Es gibt wieder eine Klassengesellschaft. Hier die Obrigkeit, die sich alles leisten kann. Und da das Fussvolk. Dieses Leben habe ich mir in der Schweiz abgewöhnt. Dort akzeptieren das alle. Die einen stehen im Stau, und der andere hat freie Fahrt. Weil er der Feudalherr ist und du bist sein Leibeigener. Ich kann es nicht mehr ausstehen.
Fussball-WM in Russland. Boykottaufruf aus der Schweiz
Erfolgsautor fordert Boykott
Nicht nur Politiker äussern sich zum Thema. Auch der russische Schriftsteller Michail Schischkin plädiert für einen Boykott. Damit könnten demokratische Länder für ihre Werte einstehen, so Schischkin. «Ich bin der Meinung, man muss ein Zeichen setzen. Wenn wir dieses Zeichen nicht setzen, dann heisst das: wir machen mit.»
Autoren: Samantha Zaugg und Matthias Krobath
Das Schiff aus weissem Marmor oder warum die Literatur versagt hat
Hat die Literatur den Holocaust verhindert, den russischen Gulag oder die Besetzung der Krim? Und ist sie darum unnütz? Und dennoch hält der russische Schriftsteller Michail Schischkin ein flammendes Plädoyer für die Kunst des Erzählens.
NZZ, 11.11.2017
Ende des 19. Jahrhunderts wetteiferten alle Länder darum, wer die meisten Panzerschiffe bauen würde. Das schien das Allerwichtigste – möglichst viele Panzerschiffe zu besitzen.
In China herrschte damals die Kaiserin Cixi. Ihre Ratgeber erklärten ihr, wie wichtig der Bau einer Panzerschiff-Flotte sei, woraufhin sie in ganz China eine Flottensteuer erheben liess. So wurde die gewaltige Summe von 30 Millionen Silber-Liang eingenommen. Von dem Geld liess die Kaiserin ein einziges Schiff aus weissem Marmor bauen. Dieses lag am Ufer eines Sees in ihrem Sommerpalast, darin wurde die Teezeremonie ausgerichtet, und das war schön.
In aller Welt machte man sich lustig über Cixi. Es schien wirklich überaus töricht, das Volksvermögen nicht für Kanonen und Panzerkreuzer auszugeben, sondern für Schönheit. Das erscheint der Menschheit mehrheitlich auch heutzutage noch töricht und unnütz.
Meine Grossmutter war keine Kaiserin, sondern eine einfache Bäuerin, die drei Jahre lang die kirchliche Gemeindeschule besucht hatte. Das, was mir damals, in meiner Jugend, das Wichtigste auf der Welt zu sein schien – Poesie und Kunst –, lehnte sie ganz offen ab. Sie wollte, dass ich mich mit etwas Ernsthaftem beschäftige und nicht mit Poesie. Ich erinnere mich, dass ich als Oberstufenschüler mein absolutes Glück – die erste Publikation meiner Gedichte – mit ihr teilen wollte und dass sie zur Antwort schwer seufzte und mitleidig sagte: «Na ja, alles ist besser, als sich mit den Raufbolden auf dem Hof herumzutreiben . . .» Sie wollte natürlich nur mein Bestes. Die Babuschka hatte ein grosses, unschönes Muttermal oberhalb der Lippe. Sie hat stets versucht, es mit der Hand abzudecken.
In ihrem Leben gab es wenig Raum für Schönheit. Ihr Mann, mein Grossvater Michail Schischkin, wurde im Jahr 1930 während der Kollektivierung verhaftet. Er war kein Kulak. Doch er hatte aufbegehrt: «Warum nehmt ihr uns die einzige Kuh weg? Wovon soll ich zwei Kinder ernähren?» Meine Oma blieb mit zwei kleinen Kindern allein zurück, und mein Vater schrieb sein ganzes Leben lang in den endlosen Formularen «Vater: verstorben» anstatt «Vater: Volksfeind». Und hatte zeitlebens Angst, sein Betrug könnte entdeckt werden.
Ich bin nach meinem Grossvater Michail benannt. Auf einer alten Fotografie sind die beiden jung. Ihr Muttermal oberhalb der Lippe ist noch winzig klein. Sie trägt einen ganz und gar nicht bäuerlichen Sommerhut aus Stroh. Vielleicht hat der Fotograf ihr den Hut gegeben? Sie hält ihn irgendwie linkisch fest, als habe sie Angst, der Wind könne ihn davontragen. Und mein Grossvater sieht ganz ähnlich aus wie ich vor dreissig Jahren.
Im Alter begann meine Oma, wirres Zeug zu reden und das Zeitgefühl zu verlieren. Sie erblindete und verbrachte ihre letzten Jahre in einem kleinen Zimmer bei ihrem Sohn, meinem Vater, wo sie tagelang im Dunkeln sass. Ich bemühte mich, sie anzurufen, wann immer ich Zeit hatte. Dann schrie ich ins Telefon, damit sie mich besser hören konnte:
«Babuschka, hallo, ich bin’s, Mischa!»
«Mischa?» fragte sie dann erschrocken. «Wer ist denn da? Welcher Mischa?»
Wahrscheinlich durchlebte sie jenen Tag immer wieder aufs Neue und glaubte jedes Mal, ihr Mann solle abermals verhaftet werden, und deshalb rief sie dann in den Hörer:
«Mischa! Wohin bringen sie dich? Bitte nicht! Lassen Sie ihn los! Was machen Sie da!»
Ich versuchte, sie zu unterbrechen, sie zu beruhigen: «Babuschka, aber das bin doch ich, dein Mischa! Beruhige dich!»
Aber sie hörte gar nicht zu und schrie nur, versuchte ihn wegzuzerren, ihn zu retten. «Lassen Sie ihn los! Was haben wir Ihnen denn getan? Lassen Sie ihn los! Mischa! Mischa!»
Meine Oma hat nie etwas von dem gelesen, was ich schrieb. Sie hätte es wohl auch nicht verstanden. Das, was ich damals schrieb, war nicht für die «breite Leserschaft». Das, was ich später schrieb, auch nicht.
Ich konnte ihr einfach nicht erklären, warum das, was ich tat, so wichtig war. Sie verstand, warum es zum Beispiel wichtig war, jemandem einen Brief zu schreiben. Aber einfach so, ins Blaue hinein zu schreiben, war für sie eine Spielerei, ein eitler Zeitvertreib.
Ich versuchte indes auch gar nicht, es ihr zu erklären. Sie hätte nicht verstanden, dass auch ich im Grunde die ganze Zeit über einen Brief schreibe – nur dass dieser Brief niemandem dienlich ist und dass niemand darauf wartet. Ein Buch ist stets ein Brief an jemanden, der vielleicht noch gar nicht geboren ist. Doch dieser Brief muss unbedingt geschrieben werden, denn nur nicht geschriebene Briefe kommen niemals an.
Aber nicht nur meine Oma war der Ansicht, die Literatur sei eine unnütze Beschäftigung. De facto ist der weitaus überwiegende Teil der Menschheit dieser Ansicht. Man muss Geld verdienen für die Familie, und mit ernster Literatur verdient man nicht viel. Die Schriftsteller selbst halten sich natürlich für wichtig, doch ihre Stimmen sind nur leise marginalisierte Stimmchen in gespaltenen Gesellschaften, und von aussen ist es lächerlich zu hören, mit welcher Wichtigkeit sie über sich selbst, über Bücher, über Literatur sprechen.
Nicht einmal die grössten Bücher vermögen die Welt auch nur um ein Jota besser zu machen. Glauben Sie wirklich, der Mensch würde besser, wenn er ein gutes Buch liest? Glauben Sie, diejenigen, die meinem Land eine lichte Zukunft verhiessen, dabei aber den Befehl zur Erschiessung von Priestern erteilten, Lastkähne mit Geiseln an Bord versenkten, die Hungersnot in der Ukraine orchestrierten und meinen Grossvater umbrachten – glauben Sie, die hätten die russischen Klassiker nicht gelesen? Die grosse russische Literatur, sie hat grossartig versagt. Als das Land am Scheideweg stand, haben da Tschechow, Tolstoi, Dostojewski, Turgenjew etwa geholfen, haben sie den Niedergang abgewendet, verhindert, dass das Land zum Gulag wurde? Sie haben etlichen Generationen geholfen, im Gulag zu überleben. Das ist das Einzige, wozu die russische Literatur tauglich ist.
Die grosse deutsche Literatur vermochte die Deutschen nicht davon abzuhalten, ihrem Führer mit Begeisterung in die Katastrophe zu folgen. In den letzten Jahren empfinde ich – angesichts der Annexion der Krim, die unser «Sudetenland» geworden ist, angesichts des Krieges in der Ukraine – sehr deutlich das, was die deutschen Schriftsteller Ende der dreissiger Jahre empfanden. Die Machtlosigkeit der Bücher. Die Hilflosigkeit der Literatur. Ich kann mir vorstellen, was Thomas Mann oder Hermann Hesse in jenen Jahren empfanden, was Stefan Zweig in Brasilien durch den Kopf ging, bevor er sich das Leben nahm. Waren doch in jener Masse, die dem Führer begeistert in den Abgrund folgte, auch ihre Leser. Weswegen, für wen, wozu hatten sie geschrieben?
Für wen soll man schreiben, zeichnen, komponieren, wenn die wahre Kunst sich nicht auf den Zuschauer, den Leser, den Hörer verlassen kann?
Wenn man ein Buch schreibt, ganz gleich, was für eines, darf man sich nicht auf den Leser verlassen – einer wird immer behaupten, damit habe man die Literatur gerettet, einhundert werden immer behaupten, so einen Blödsinn könne man unmöglich lesen, und der Rest der Menschheit wird nie etwas von diesem Buch hören.
Auf die Frage, wer überhaupt noch neue Bücher braucht, da doch Jahr für Jahr ohnehin Tausende neuer Bücher erscheinen, gibt es nur eine ehrliche Antwort: niemand.
Und gerade darin liegt die Stärke der Literatur. Nicht die Schwäche, sondern die Stärke.
Ein Flugzeug fliegt nicht deshalb, weil es sich auf die Luft abstützt. Das haben wir alle in der Schule durchgenommen. Wenn sich ein Flugzeug auf die Luft abstützt, stürzt es unweigerlich ab. Das Flugzeug fliegt, weil sich oberhalb der Tragflächen ein luftleerer Raum bildet, ein Vakuum, das das Flugzeug nach oben, gegen den Himmel zieht.
Um sich von der Erde zu lösen und aufzufliegen, stützt sich die wahre Literatur nicht auf das lesende Publikum, sondern sie überlässt sich dem Sog nach oben, gegen den Himmel.
Meine Oma war eine unübertroffene Meisterin darin, allerlei menschliche Figürchen und bizarre kleine Tiere aus Teig zu backen. Ich weiss noch, dass ich ihr gerne zusah, wenn sie den Teig knetete und daraus Figürchen formte. Sie liess mich ebenfalls kneten – wie herrlich mürbe und weich der Teig war! Bei mir kamen nur lauter Missgeburten heraus, bei ihr hingegen die erstaunlichsten Wesen, und ihre Phantasie kannte keine Grenzen.
In diesen wunderbaren Momenten wurde sie auch zu einer Kaiserin, zur Gebieterin über den Teig, aus dem sie ihre eigene Welt erschuf.
Jetzt ist es zu spät, ihr noch etwas zu erklären, doch heute würde ich es zumindest versuchen. Aber vielleicht ist es noch nicht zu spät, vielleicht war es nie zu spät und wird es nie zu spät sein. Schliesslich muss man erklären, warum das, was man macht, so wichtig ist. Weisst du, Babuschka, würde ich ihr sagen, die Kunst – das ist auch ein Teig, nur ein ganz besonderer. Er besteht aus Zeit. Wenn du ihn knetest, ist er mürbe und weich. Du kannst alles Mögliche daraus formen. Und alles, was du daraus machst, ist wirklich. Wie das weisse Marmorschiff. Wo sind denn jetzt all die Panzerschiffe von damals? Das Schiff der Kaiserin Cixi aber ist noch heute unterwegs dahin, wo jene nie ankamen und nie ankommen konnten.
Weisst du, Babuschka, würde ich ihr sagen, beim Schreiben kann man sich in jede Zeit und an jeden Ort versetzen. Es scheint nur so, dass ich jetzt hier bin, in diesem Saal, und in einer Sprache spreche, die du nicht verstehst. In Wirklichkeit bin ich jetzt in der Küche unseres Hauses in Udelnaja, das seit langem abgerissen ist. Seltsam, das Haus steht nicht mehr, aber seine Mauern sind gesättigt vom köstlichsten Duft der Welt – die erste Portion Gebäck ist schon im Ofen. Wir sitzen am Tisch, der ganz weiss ist von verschüttetem Mehl, wir sind selbst über und über mit Mehl bestäubt und formen Tierfigürchen aus Teig. Deine Hände sind geschickt und flink. Es kann nicht sein, dass diese Hände nicht mehr sind – da sind sie doch, sie drücken Rosinenaugen in einen kleinen Teigkloss.
Und gleichzeitig bin ich jetzt auf dem Schiff aus weissem Marmor. Der Wind kräuselt das Wasser des kaiserlichen Sees, die Seerosen wiegen sich, und durch dieses Gewoge hat man das Gefühl, dass das Schiff sich bewegt. An Bord sind viele Menschen, man hört verschiedene Sprachen. Plötzlich kommen ein paar heftige Windböen auf. Jemandem wird der leichte Sommerhut vom Kopf gerissen und davongeweht. Alle lachen und deuten auf den Hut, der in Richtung Seerosen davonschwimmt. Es ist der Hut von der Fotografie. Und du, ganz jung noch, lachst ebenfalls, hältst mit den Händen die flatternden Haare zusammen, und dein Muttermal oberhalb der Lippe ist noch winzig klein. Mein Grossvater, der aussieht wie ich in meiner Jugend, hält dich umarmt und schützt dich vor den Windböen. Und alle sind noch am Leben.
Ich weiss, wohin dieses weisse Marmorschiff fährt.
Und ich nehme Euch alle mit.
Putins Pyrrhussiege
Wo die Gefängnismoral des Gulag unter der Herrschaft Putins als Recht des Stärkeren weiterlebt, gibt es wenig Hoffnung für die Zukunft. An das Gute glauben muss man trotzdem.
Wenn man in die Zukunft blicken könnte, gäbe es dann Kriege und Revolutionen?
Vor hundert Jahren gingen junge, wunderbare Menschen auf die Strassen der russischen Städte. Sie kämpften gegen die Autokratie, für Demokratie, für einen Rechtsstaat, für eine freie Zukunft Russlands. Wenn sie gewusst hätten, wohin ihr Kampf führt, wenn sie die Zukunft hätten sehen können und den Zerfall des Landes, den Bürgerkrieg, die Säuberungen, den Gulag, wenn sie gesehen hätten, dass sie selber einst in diesem zukünftigen Russland der «verfluchten Autokratie» als glücklicher Zeit gedenken würden – hätten sie dann von ihrem Protest abgelassen oder nicht?
Am 12. Juni 2017 gingen junge, wunderbare Menschen auf die Strassen russischer Städte. Sie kämpfen gegen die Autokratie, für Demokratie, für den Rechtsstaat, für eine freie Zukunft Russlands. Vielleicht ist es gut, dass sie nicht in die Zukunft blicken können?
Die Zukunft vorauszusagen, ist eine undankbare Beschäftigung. Im Oktober 2008 sagte Garri Kasparow, der grosse Schachmeister und Oppositionspolitiker: «Das Putin-Regime wird sich nicht länger als zwei Jahre halten. Kürzlich hatte ich gesagt, dass das Regime sich nicht länger als bis 2012 hält. Ich muss meine Prognose leicht korrigieren. Es hält sich bis 2010.» Boris Nemzow erklärte im März 2009: «Das derzeitige politische Regime von Putin hat noch ein Jahr in Reserve, höchstens eineinhalb.» Boris Beresowski, dieser Frankenstein, der Putin erschuf, hatte bereits 2003 prophezeit: «Das politische Zeitalter Putins wird kurz sein. Dieses System wird unbedingt noch in dieser Präsidenten-Amtsperiode seine Existenz beenden.» Garry Kasparow lebt im Exil, Boris Beresowski hat man erhängt aufgefunden, Boris Nemzow wurde an der Kremlmauer erschossen. Wishful thinking. Es ist immer naiv, an das Gute zu glauben. Bisher ist Putin der Sieger, in Russland und in der Welt.
Die Hauptaufgabe, die Putin sich gestellt hat, nämlich an der Macht zu bleiben, löst er durchaus erfolgreich, indem er das Staatswesen zerstört, die Selbstverwaltung ausschaltet, das gesamte Alltagsleben kriminalisiert und die Wähler zu Stimmvieh degradiert. Unzufriedene sind entweder ausländische Agenten oder nationale Verräter. Die Wahlen werden in eine Zirkus-Aufführung verwandelt. Die Versuche der Opposition, aus der virtuellen Welt in die reale zu treten, prallen am riesigen Repressionsapparat ab. Putin dreht das ganze Land «back to the USSR». Er setzt um, was Gorbatschow nicht vermochte, er erneuert den Totalitarismus, wobei er allerdings auf extrem archaische Massnahmen wie die Schliessung der Grenzen verzichtet.
Die heute regierenden Eliten sind die Erben der Perestroika. Das Ziel der Privatisierung des ganzen Landes ist erreicht worden. Die Fassade ist demokratisch eingefärbt. Die feudale Machtpyramide steht unerschütterlich. Das Volk hungert nicht und ist, wie die russische Geschichte lehrt, unendlich leidensfähig.
Der Krieg mit dem Westen ist Putins Methode, sich an der Macht zu halten. Putins Sieg besteht darin, dass er giftige Samen des Zweifels in das Wertesystem der liberalen Zivilisation eingestreut hat. Die im Westen vielerorts spürbare Enttäuschung über die Demokratie ist sein Triumph. Breite Schichten der westlichen Bevölkerung sind bereit, für den Kampf gegen den Terror ihre Freiheit zu opfern. Ihre Angst kommt Putin zugute, der sagt: Gegen Terror ankämpfen kann man nur mit totaler Kontrolle, mit dem Polizeistaat.
Der Traum von einer sich näher kommenden Welt ohne Grenzen hat sich in eine Welt voller Flüchtlinge verwandelt. Flüchtlingsströme sind Putins neuste gemeine Waffen. Je heftiger russische Flugzeuge Syrien mit bombardieren, umso mehr Menschen wollen weg von dort.
Wir sehen, mit welcher Effizienz die russischen Geheimdienste soziale Netzwerke nutzen, um eine Atmosphäre der Intoleranz und des Hasses zu erzeugen. Die Hacker des Kreml dringen in Computer westlicher Politiker ein, infizieren Systeme mit Trojanern, doch Putin hat die Welt mit dem Virus des Misstrauens und der Abschottung angesteckt. Der Brexit ist ein Sieg Putins über das vereinte Europa. Viele Türken, die in Deutschland, einem demokratischen Staatswesen aufgewachsen sind, stimmten für die Einführung der Diktatur in ihrer Heimat. Rechte populistische Parteien attackieren in ganz Europa demokratische Werte. Die Begeisterung für eine starke Persönlichkeit im Kreml schwillt an in einem Europa, das an seiner politischen Korrektheit zu ersticken droht.
Der neue amerikanische Präsident, dessen Sieg in der russischen Duma mit Champagner gefeiert wurde, überwirft sich mit Europa und zweifelt die Grundlagen des Atlantischen Bündnisses an. Der Westen ist gespalten, und auch das ist Wasser auf Putins Mühlen. Seine Verbündeten sind all jene, welche die Werte einer demokratischen Welt, die Rechte und Freiheiten des Individuums, Offenheit und Barmherzigkeit in Frage stellen.
Trotz all dieser «Siege» ist Russland heute ein sehr krankes Land, weil die herrschenden Eliten von Zukunftsangst befallen sind. Sie wollen die Zeit stillstehen lassen. Doch ihre Karriere baut auf ein äusserst unsicheres Fundament: das Leben eines einzigen Menschen. Putin wird irgendwann gehen; die herrschenden Eliten sind darauf angewiesen, dass der Putinismus bleibt.
Man benötigt kein magisches Fernrohr, um in die nahe russische Zukunft zu blicken. Die Machthaber tun alles, damit es keinen zweiten «Maidan» gibt. Und da ein ewiger Putin nicht möglich ist, werden sie eine «Operation Nachfolger» vorbereiten und weiterhin mit allen Mitteln Angst in der Gesellschaft verbreiten, denn eine verängstigte Bevölkerung kann einfacher regiert werden.
Doch wer schon kann versprechen, dass die «Operation Nachfolger» Erfolg hat? Putins Abgang wird das sensible Machtgefüge der Clans zerstören, die in seinem Umkreis um seine Gunst wetteifern. Die kolossale Pyramide der kriminellen Macht wird in sich zusammenbrechen und unter ihren Trümmern das ganze Land begraben.
Die Pläne, welche die demokratische Opposition für ein Russland nach Putin vorlegt, sind wunderbar. Das Russland der Zukunft wird mit freien Wahlen beginnen. Doch wer wird sie durchführen und nach welchen Regeln? Werden diese freien Wahlen in Tschetschenien unter der Führung von Kadyrow stattfinden? Und kann man sich sicher sein, dass bei wirklich freien Wahlen in Russland der «nationale Verräter» von der demokratischen Opposition gewinnt und nicht der Patriot, der gegen die «ukrainischen Faschisten» im Donbass gekämpft hat?
Totalitarismus ist ein Ergebnis der gemeinsamen Anstrengungen einer Gesellschaft. In Putins Russland konnte das Volk die Kontrolle über die Macht abgenommen werden, weil es diese Kontrolle gar nie inne hatte. Aus einer Bevölkerung, die auf den gütigen Zaren hofft, können nicht von einer Stunde auf die andere mündige Wähler werden.
Russland ist ein Gefängnisland mit einem spezifischen Rechtsverständnis. Ein Viertel der russischen Bevölkerung war inhaftiert. Wer selbst kein Häftling war, ist unter ehemaligen Häftlingen aufgewachsen. Was das Gefängnis nicht geschafft hat, hat die Armee vollendet. Der Gaunerjargon, die kriminelle Subkultur, die normative Kraft der «Gefängnismoral» beeinflussen die moderne russische Gesellschaft nicht nur, sie sind zu ihrem Fundament geworden. Das Gefängnis-Bewusstsein kennt nur ein Gesetz – das Gesetz des Stärkeren. Selbst bei den allerfreiesten Wahlen hätten Idealisten wie Václav Havel keine Chance.
Der Aufbau eines neuen Russlands ist unmöglich ohne umfassende Aufarbeitung der Vergangenheit. Es darf nicht geschehen, dass Beamte beim Aufbau eines neuen Staates mitwirken, die an Korruption und Verbrechen des Putin-Regimes beteiligt waren. Doch wer soll die unermesslich grosse Arbeit der Aufklärung über die Vergangenheit leisten? Was geschieht mit den Tausenden Richtern, die ihre von oben manipulierten Urteile gesprochen haben, mit den Zehntausenden bestechlichen Polizeibeamten, mit den Hunderttausenden Lehrern, die an Wahlfälschungen beteiligt waren?
Realistischer scheint das Szenarium eines endgültigen Zerfalls des russischen Imperiums zu sein. Als erstes geht Tschetschenien, dann werden sich die anderen Republiken des Nordkaukasus von Russland lösen, dann Tatarstan, Baschkirien. Anschliessend beginnt der Kampf der sibirischen Regionen um ihre Unabhängigkeit vom Zentrum unter der Losung: Schluss mit dem Raub unserer Bodenschätze durch Moskau! Was Russland bevorsteht, kann man sich vorstellen, wenn man in die Donbass-Region schaut, wo regionale mafiöse Gruppierungen um die Macht kämpfen und ihre kriminelle Ordnung etablieren.
Heisst das, Jugendliche, die protestierend auf die Strasse gehen, sollten lieber zu Hause bleiben? Was immer die Zukunft bringt, diese Leute erheben ihre Stimme, um ihre menschliche Würde zu verteidigen, und das heisst, die Würde der gesamten Menschheit. Wir sollten alles tun, was möglich ist, sie zu unterstützen.
Vor den olympischen Spielen von Sotschi rief ich hier dazu auf, Solidarität mit den Geiseln zu zeigen (und nicht mit der Bande, welche die Bewohner eines ganzen Landes zu Geiseln genommen hat) und Putins Spiele zu boykottieren. Die Schweiz baute in Sotschi ein Schweizerhäuschen, damit der Präsident des demokratischsten Landes der Welt dort dem Diktator höchstpersönlich die Stiefel lecken konnte.
Die Fussball-Weltmeisterschaft nächstes Jahr in Russland soll ein neuerlicher Sieg für Putin werden. Ich rufe alle demokratischen Staaten zum Boykott auf. Ich rufe dazu auf, mit den wunderbaren jungen Menschen, die in Russland für Demokratie und Rechtsstaat, Freiheit und Würde auf die Strasse gehen, Solidarität zu üben. Was für ein Fussballfest kann in einem Land gefeiert werden, in dem es politische Häftlinge sonder Zahl gibt?
Nach dem Sportfest in Sotschi kam die Annexion der Krim, dann der Krieg in der Ukraine, der Tausende Tote, Zehntausende Verwundete und Hunderttausende Flüchtlinge brachte. Was folgt auf den russischen Fussball-WM-Final?
Schämt ihr euch nicht?
Wer für die Freiheit kämpft, muss nicht nur gegen einen repressiven Staat angehen, sondern auch gegen die Gleichgültigkeit der anderen. Dabei liegt der Sinn des Lebens nicht allein im Überleben.
Unser Sohn ist drei Jahre alt. Wir gingen mit ihm in ein Kunstmuseum, wo wir durch die Säle spazierten und auf den Bildern der grossen Meister Hunde, Katzen, Vögel und Pferde suchten. Auf einem Bild war die schwangere Jungfrau Maria dargestellt. Unser Sohn fragte, warum sie so einen grossen Bauch habe. Ich sagte, sie habe ein kleines Kind darin, das bald geboren werde. Wir setzten unseren Rundgang fort. Ein paar Säle weiter lief unser Sohn wieder zurück – um nachzusehen, ob das Kind schon geboren war.
Im Jahr 1968 gingen zum Zeichen des Protests gegen die sowjetischen Panzer in Prag einige Menschen auf den Roten Platz und entrollten dort Plakate mit der Aufschrift «Für eure und unsere Freiheit». Sie wurden auf der Stelle verhaftet. Ich war damals sieben Jahre alt und wusste davon nichts. Auch unser ganzes riesiges Land erfuhr nichts von dieser Aktion. Das Leben dieser Menschen war zerstört, sie hatten viele Jahre Gefängnis oder Psychiatrie zu gewärtigen. Nach dem Zerfall der UdSSR wurde über sie geschrieben und ihr Schicksal verfilmt. Ihre Aktion war zum Symbol des Widerstands geworden, sie selbst zu Helden im Kampf für die Freiheit.
Als die Archive des KGB für kurze Zeit zugänglich waren, stellte sich heraus, dass im August 1968 auch in anderen Städten des riesigen Imperiums Menschen protestiert hatten und dafür ins Gefängnis kamen, doch von ihrem Protest, von ihrem zerstörten Leben hat niemand je erfahren. Die Bürgerrechtsorganisationen im Westen wussten nichts von ihnen, niemand forderte ihre Freilassung. Ihr Schicksal wurde nicht verfilmt, sie wurden nicht zu Helden. Sie erhielten keine Auszeichnungen, niemand stiess bei einem internationalen PEN-Kongress auf ihren Mut an. Märtyrerruhm wurde ihnen nicht zuteil, ihr Leiden vollzog sich still und ohne Aufsehen.
Für kurze Zeit schien es, als hätten diese couragierten Menschen das System besiegt, als seien ihre Opfer nicht umsonst gewesen. Doch der Sieg erwies sich als Illusion.
«Am 11. September 2016 kamen Kossijew, der Leiter des Straflagers, und drei seiner Mitarbeiter zu mir. Sie begannen, mich systematisch zusammenzuschlagen. An dem Tag verprügelten sie mich insgesamt viermal und traktierten mich auch mit Fusstritten. Nach dem dritten Mal drückten sie meinen Kopf in die Toilettenschüssel in meiner Zelle. Am 12. September 2016 kamen sie, fesselten mir die Hände auf dem Rücken und hängten mich an den Handschellen auf. Das ist unglaublich schmerzhaft für die Handgelenke, ausserdem werden dadurch die Ellbogengelenke verdreht, und man hat wahnsinnige Schmerzen im Rücken. Ich hing eine halbe Stunde so da. Dann zogen sie mir die Unterhosen aus und sagten, sie würden jetzt einen anderen Gefangenen holen, der mich vergewaltigen würde, wenn ich nicht bereit sei, den Hungerstreik abzubrechen.»
Das ist ein Ausschnitt aus einem Brief des politischen Gefangenen Ildar Dadin, der ins Gefängnis geworfen wurde, weil er ganz allein Mahnwachen am Kreml abgehalten und gegen den Ukraine-Krieg protestiert hatte, «für eure und unsere Freiheit». Bei einer seiner Mahnwachen trug er ein Plakat mit der Aufschrift: «Schweig! Und wenn sie morgen dich abholen, schweigt der Nächste!» Mein Land, das in den neunziger Jahren Atem geholt hatte, ist erneut im Sumpf von Angst und Schweigen versunken. Dem Bedürfnis nach Freiheit steht ein nicht minder starkes Bedürfnis nach Unfreiheit entgegen.
Für meinen Vater waren die Dissidenten, die für die Freiheit des Wortes kämpften, keine Helden, sondern Verräter. Er selbst war mit 17 Jahren als Freiwilliger in den Krieg gezogen, um die Heimat zu verteidigen. Seinen Vater – meinen Grossvater – hatte der Staat als «Volksfeind» umgebracht. Indem sie das Vaterland verteidigten, verteidigten die Sklaven ein Sklavenregime. Das ist nichts Neues. In seinem Drama über das alte Rom lässt Dürrenmatt Romulus sagen: «Vaterland nennt sich der Staat immer dann, wenn er sich anschickt, auf Menschenmord auszugehen.»
Wer für die Freiheit kämpft, muss nicht nur gegen einen repressiven Staat angehen, sondern auch gegen einen Grossteil von dessen Bevölkerung. Er kämpft für die Freiheit seines Volkes, doch dieses Volk sieht ihn mehrheitlich als Verräter an oder ist bestenfalls der Meinung, seine Opfer seien sinnlos. Wenn es ums Überleben geht, sind Erwägungen zum Aufbau der Zivilgesellschaft ungefähr so relevant wie die Regeln für das Eindecken einer festlichen Tafel, wenn man in der Schlange einer Suppenküche steht. Für die Mehrheit ist allein der Begriff Freiheit des Wortes diskreditiert und bedeutet die unbeschränkte Macht des Bösen.
Die Mehrheit ist stets überzeugt von ihrer Weisheit und der Rechtmässigkeit ihres Standpunkts. Die Weisheit der Mehrheit – das ist die über Generationen gesammelte Überlebenserfahrung. Diese Weisheit der Überlebenden klingt wie eine Anklage: für das Vaterland zu sterben, ein Kind aus einem brennenden Haus zu retten – das ist Heldentum, wen aber rettet ihr? Wozu sinnloserweise das Leben ruinieren, die Freiheit riskieren, Arbeit und Freunde verlieren, wenn sich sowieso nichts ändert? Vor allem aber opfert ihr nicht nur euch selbst, sondern auch die Menschen, die ihr liebt! Wer gab euch das Recht, das Leben eurer Nächsten zu zerstören? Ihr seid bereit, für etwas zu sterben, was es nicht gibt – für Worte. Auf der einen Waagschale sind die Menschen, die euch brauchen. Auf der anderen sind die Worte: die Pressefreiheit, die Bürgerrechte, die Einhaltung der Verfassung. Sind denn schöne Worte wirklich wichtiger als ein geliebter Mensch? Nur infantile Romantiker mit unterentwickeltem Verantwortungsgefühl können so handeln. Die Bereitschaft, für schöne Reden sein Leben zu lassen, ist verschleppter jugendlicher Maximalismus. Ihr seid Fanatiker! Es ist die Energie der Selbstzerstörung, die euch antreibt, ihr seid nicht erwachsen geworden, um ein Haus zu bauen, einen Baum zu pflanzen, einem Kind Liebe zu schenken. Dabei ist es so wichtig, sonntags mit seinem Sohn ins Museum zu gehen! Um abstrakter Ideale willen verweigert ihr euch dem realen Leben. Ihr rettet doch nur eure eigene Seele! Euer Heldentum ist mit der Innenseite nach aussen gewendeter Egoismus. Ist es vielleicht kein Egoismus, seine Seele zu retten und seine Familie zu ruinieren? Ihr seid lediglich eine biologische Anomalie, eine besondere Sorte Mensch mit reduziertem Selbsterhaltungsinstinkt, das ist wissenschaftlich bewiesen! Es gibt einen Typ Mensch mit einem extrem stark ausgeprägten Bedürfnis, sich aufzuopfern. Solche Menschen suchen den Kick im Märtyrertum – eine verzehrende Leidenschaft, die stärker ist als jede Droge. Solche Menschen leben nur noch dafür, sich aufzuopfern. Ihr lasst euch demütigen und fühlt euch dabei moralisch überlegen. Ihr empfindet euch als Auserwählte, als die Besten. Aber behauptet nur nicht, ihr hättet das für uns getan! Um dieses Opfer hat euch keiner gebeten! Und vor allem seid ihr naiv. Daran zu glauben, auf der sündhaften Erde könnten Freiheit, Ehre und Güte die Oberhand gewinnen, kommt dem Glauben an Wunder gleich. Kann man etwa das Leben entgleisen lassen für den Glauben an Worte, für den Glauben daran, dass Wunder möglich sind?
Die Angst ist eine Quelle des Lebens, sie ist so natürlich wie Atmen oder Essen. Das ist der Überlebensinstinkt. Diejenigen, die sich für Prinzipien opfern, lehnen sich gegen die Natur auf. Für sie liegt der Sinn des Lebens nicht im Überleben, sondern darin, die menschliche Würde zu bewahren.
Als man Boris Pasternak in den dreissiger Jahren bat, einen Brief zu unterschreiben, in dem die Erschiessung von «Volksfeinden» gefordert wurde, warf sich seine schwangere Frau ihm zu Füssen und flehte ihn an zu unterschreiben – um des Kindes willen. Er sagte: «Wenn ich unterschreibe, werde ich ein anderer Mensch sein. Und das Schicksal des Kindes eines anderen Menschen interessiert mich nicht.» Das ist nicht Heldentum, das ist etwas anderes. Es ist das Unvermögen, ein anderer Mensch zu sein als man selbst.
Einen Monat vor seinem Tod sagte Boris Nemzow in einem Interview: «Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob er bereit ist, Risiken einzugehen, oder nicht. Ich kann nur für mich sprechen. Ich bin froh, dass ich die Wahrheit sagen kann, dass ich mir selbst treu sein kann und nicht katzbuckeln muss vor den erbärmlichen, diebischen Staatsorganen. Die Freiheit ist ein teures Gut.»
Diese Menschen sind keine Opfer. Sie wählen jedes Mal aufs Neue bewusst die Freiheit. So oft sie die Gelegenheit hatten, sich selbst zu verleugnen – stets haben sie selbst ihre Wahl getroffen, auch wenn sie damit Gefängnis oder Tod wählten. Sie sind die wahrhaft freien Menschen.
Elias Canetti bemerkte einmal: «Ich frage mich, ob es unter denen, die ihr gemächliches, sicheres, schnurgerades akademisches Leben auf das eines Dichters bauen, der in Elend und Verzweiflung gelebt hat, einen gibt, der sich schämt.»
Ich habe das Gefühl, dass sie alle – diejenigen, die 1968 auf den Roten Platz gingen, Anna Politkowskaja, Boris Nemzow, Ashraf Fayadh, Malini Subramaniam und viele, viele andere – uns mit ihrem ganzen Leben fragen: Schämt ihr euch nicht?
Diese Menschen sind unbequem, wie das Gewissen. Die Menschen und ihre Schicksale sind ein lebendiger Vorwurf an jeden von uns.
Ich schäme mich.
Gerade, weil man nicht ihnen allen, den bekannten wie den unbekannten, Dankbarkeit und Anerkennung aussprechen kann, muss man diese konkreten Menschen gegenüber zum Ausdruck bringen, und in der Person des palästinensischen Dichters und der indischen Journalistin erhalten all diejenigen unsere Anerkennung, unsere Bewunderung und unsere Dankbarkeit, die immer wieder auf den Platz gingen und gehen, «für eure und unsere Freiheit», so gefährlich das auch sein mag. Unsere Dankbarkeit gilt diesen Tausenden und Abertausenden wunderbarer, mutiger Menschen, auch wenn wir all ihre Namen niemals erfahren werden.
«Sieben Menschen auf dem Roten Platz – das sind mindestens sieben Gründe, warum wir die Russen nie mehr werden hassen können», schrieb ein tschechischer Journalist über die Demonstranten von 1968. Indem sie ihren Kampf weiterführen, auch ohne Aussicht auf Erfolg, vollbringen Menschen wie sie zu allen Zeiten und in jedem Land etwas sehr Wichtiges: Sie retten die Ehre ihres Volkes und die Ehre der ganzen Menschheit. Durch ihren Kampf rechtfertigen sie unser aller Existenz auf dieser Erde. Sie tun das, um zu beweisen, dass die Werte, für die sie leiden, die wahren Werte sind. Sie tun es aus Liebe zum Leben. Sie tun es, damit jemand – an ihrer Stelle – sonntags mit den Kindern ins Museum gehen kann und damit wir an Wunder glauben.
Ich werde mit meinem Sohn noch einmal in das Museum gehen. Vielleicht ist ja das Kind inzwischen geboren.
Warum wir am Ende doch verloren haben
Mit Parade und Pomp wird am 9. Mai in Moskau des russischen Sieges über Hitlerdeutschland gedacht. Der Autor Michail Schischkin fürchtet, dass der Fiebertraum vom Krieg noch nicht ausgeträumt ist.
Mein Vater meldete sich freiwillig mit 18 Jahren. Er diente auf einem U-Boot in der Ostsee. Als ich klein war, wohnten wir in einem Keller auf der bekannten Moskauer Arbat-Strasse, über meinem Bettchen hing eine Foto seines U-Boots.
Ich war furchtbar stolz, dass mein Vater ein U-Boot hatte, immerzu zeichnete ich das Bild in meinem Schulheft ab. Jedes Jahr zum Tag des Sieges am 9. Mai holte Vater seine Matrosenuniform aus dem Schrank – die er wegen seines wachsenden Bauchs regelmässig umnähen liess – und brachte alle seine Orden darauf an. Es war wichtig für mich, stolz auf meinen Vater zu sein. Es hat einen Krieg gegeben, und Papa hat ihn gewonnen!
Als Erwachsener verstand ich, dass mein Vater 1944 bis 1945 deutsche Schiffe versenkte, die Flüchtlinge aus Riga und Tallinn evakuierten. Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen fanden in der Ostsee den Tod. Dafür bekam Vater seine Orden. Ich bin schon lange nicht mehr stolz auf ihn, verurteile ihn aber nicht. Es herrschte Krieg.
Nach dem Krieg trank er. Genau wie alle seine Kameraden von der U-Boot-Flotte. Vermutlich konnten sie nicht anders. Er war doch noch ein Junge, als er monatelang im Einsatz auf hoher See war, in ständiger Angst, in einem eisernen Sarg unterzugehen. So etwas lässt einen nicht mehr los.
Als in der Amtszeit Gorbatschows der Hunger anfing, bekam Vater als Kriegsveteran Lebensmittelrationen, darunter auch solche aus Deutschland. Für ihn war das eine persönliche Beleidigung. Er und seine Freunde hatten sich zeitlebens als Sieger gefühlt, und nun ernährte sie der besiegte Feind mit Almosen. Als Vater uns das erste Mal die Lebensmittelration brachte, betrank er sich und schrie: «Wir haben doch gesiegt!» Dann wurde er still und weinte und fragte Gott weiss wen, wendete sich aber an mich: «Sag, haben wir den Krieg gewonnen, oder haben wir ihn verloren?»
In seinen letzten Jahren zerstörte er sich mit Wodka. Alle seine U-Boot-Kameraden hatten sich da längst ins Grab gesoffen. Vermutlich beeilte sich mein Vater, seine Kampfgefährten wiederzusehen. Von seinem U-Boot war er der letzte Überlebende. Im Moskauer Krematorium verbrannte er in seiner Seemanns-Uniform.
An diesem 9. Mai, siebzig Jahre nach Kriegsende, werden einige der letzten Veteranen auf dem Roten Platz nach der Sonderprüfung vom Sicherheitsdienst zusammengebracht. Sie leben mittlerweile in einem Russland, in dem Putin alles erreicht hat, was ein Diktator sich wünschen kann. Das Volk liebt ihn, die Feinde fürchten ihn. Sein Regime fusst nicht auf wackligen Paragrafen der Verfassung, sondern auf unwandelbaren Gesetzen der Ergebenheit eines Vasallen zu seinem Souverän – vom Fuss der Pyramide bis nach ganz oben.
Vladimir Putins Diktatur des 21. Jahrhunderts vermeidet alle Fehler ihrer Vorgänger. Die Grenzen sind offen, alle Unzufriedenen werden unzweideutig aufgefordert, das Land zu verlassen. Die neue Auswanderungswelle wächst mit jedem Monat. Besonders die Elite verlässt das Land: Wissenschafter, Computer-Fachleute, Journalisten, Ingenieure, Unternehmer. Diese katastrophalen menschlichen Verluste schwächen das Land und stärken das Regime.
Für jene, die in Russland bleiben, gibt es ein bewährtes Rezept: den Krieg. Patriotische Hysterie im Fernsehen ist die Wunderwaffe des Regimes. Dank dem «Zombie-Kasten» ergibt sich für die Bevölkerung ein ideales Weltbild: Der Westen will uns vernichten. Wir sind gezwungen – wie schon unsere Grossväter –, einen heiligen Krieg gegen den «Faschismus» zu führen, bereit, alles für den Sieg zu opfern. Gegen diesen Krieg können nur «Nationalverräter» sein.
Unter jeder Ideologie – orthodoxes Christentum, Kommunismus und wieder Christentum – hat noch jedes Regime in Russland das Volk mithilfe des Patriotismus manipuliert. Mein Vater war sechs, als sie seinen Vater verhafteten. Mein Grossvater ging im Gulag zugrunde. Der Sohn wollte stolz auf seinen Vater sein, doch sein Vater war ein Volksfeind. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, hörte das drangsalierte russische Volk plötzlich aus den Lautsprechern: «Brüder und Schwestern!»
Die Niedertracht des jeweiligen Regimes besteht darin, dass es stets ein wunderbares Gefühl missbrauchte und auch weiterhin missbrauchen wird: die Liebe zur Heimat, die Bereitschaft, alles für sie zu opfern. Die Diktatur tritt an die Stelle der Heimat. Vater zog in den Krieg, um seine Heimat zu verteidigen, doch er verteidigte das Regime, das seinen Vater umbrachte.
Wünscht man seiner Heimat den Sieg oder die Niederlage? Eine seltsame Frage für jemanden, der sein Vaterland liebt. Die Frage stellt sich allerdings als gar nicht seltsam heraus, wenn es um eine Heimat geht, die jahrhundertelang weder das eigene Volk noch die anderen Völker ringsum friedlich leben liess. Im Bewusstsein des Volkes bleibt unklar, wo die Heimat aufhört und das verbrecherische Regime beginnt – alles ist verwachsen. Patriotismus ist Russlands heilige Kuh, Menschenrechte und Respekt vor dem Individuum haben dagegen geringen Stellenwert.
Die wichtigste russische Frage lautet: Wenn das Vaterland ein Monster ist, muss man es lieben oder hassen? Alles kommt hier zusammen, untrennbar verbunden. Vor langer Zeit formulierte es die russische Poesie folgendermassen: «Jenes Herz kann nicht lernen zu lieben, das müde geworden ist zu hassen!»
Auch der berüchtigte russische Serienmörder Andrei Tschikatilo war Vater, vielleicht sogar kein schlechter Vater. Wie soll sich sein Sohn zu ihm stellen? Tschikatilo brachte Dutzende Menschen um. Mein Vaterland dagegen verantwortet den Tod von Abermillionen, von fremden und eigenen Kindern, wobei seine eigenen in der Überzahl sind.
Und es hört nicht auf: Mein Vater kämpfte gegen das Böse des Faschismus, aber ein anderes Böses nutzte ihn aus. Er und Millionen sowjetischer Soldaten waren Sklaven, und sie brachten der Welt nicht die Befreiung, sondern neue Sklaverei. Das Volk opferte alles für den Sieg, aber die Früchte dieses Sieges waren Armut und noch grössere Unfreiheit. Der Sieg gab den Sklaven nichts, abgesehen vom Gefühl der Grösse des Imperiums ihres Herrn. Der grosse Sieg im Jahr 1945 bestärkte bloss ihre grosse Unfreiheit.
Im Gewaltkonflikt mit der Ukraine ruft man die Russen wieder in den Kampf gegen den «Faschismus». Einmal mehr greift ein Diktator zum Patriotismus, um seine Macht zu sichern. Hysterisch prasselt es von den Bildschirmen herab. Die Rede ist vom «grossen Russland», von der «Rückkehr der russischen Erde», dem «Schutz der russischen Sprache» oder dem «Sammeln der russischen Welt». Und immer wieder lautet der Appell: «Lasst uns die Welt vor dem Faschismus retten.»
Mit der Liebe zum Vaterland köderten die Regime die Menschen, und sie werden es weiterhin tun. Erneut ruft eine Diktatur ihre Untertanen zum Verteidigungskampf auf, um sich selbst zu schützen. Der Sieg von 1945 im «Grossen Vaterländischen Krieg» wird dabei gnadenlos ausgenutzt. Die Machthaber von heute haben dem russischen Volk das Erdöl und das Gas, die Wahlen und das Land gestohlen. Und auch den Sieg.
Die Geschichte wird wieder einmal nach dem Gusto der Macht umgeschrieben – was allein aufleuchten soll, sind der militärische Ruhm und die grossen Siege. Die «ruhmreiche Rückübernahme» der Krim steht schon als Kapitel in den Geschichtsbüchern. Das nächste Kapitel wartet darauf, geschrieben zu werden. Es könnte so lauten: Wie der verlorene Sohn kriecht die Ukraine auf Knien zurück in die Umarmung der russischen Welt. Die Clique, die im Kreml an der Macht ist, hat diese beiden tief miteinander verwurzelten Völker aufeinandergehetzt. Russen und Ukrainer aufeinanderzuhetzen, das ist eine unverzeihliche Niedertracht. Mein Vater war Russe, meine Mutter Ukrainerin. Manchmal denke ich: Gut, dass sie schon tot sind und nicht wissen, dass Russen und Ukrainer einander im Donbass umbringen.
Die Annexion der Krim brachte Putin die erwünschte Welle des Patriotismus. Weil diese Welle nun abebbt, muss er bald für eine neue, womöglich noch grössere Begeisterung sorgen. Die Diktatur braucht nicht einzelne Kampfhandlungen, sie braucht den Kriegszustand. Das Schlimmste steht uns deshalb noch bevor.
Der 9. Mai, wie er in Putins Russland mit Pomp gefeiert wird, hat nichts mit dem Sieg des Volkes zu tun, dem Sieg meines Vaters. Der 9. Mai ist kein Tag des Friedens und des Gedenkens an die Opfer. Es ist ein Tag des Waffengeklirrs, ein Tag der Aggression, ein Tag der Kriegserklärung gegenüber Fremden und Einheimischen, ein Tag der geheimen Leichentransporte, ein Tag der grossen Lüge und der grossen Niedertracht.
Natürlich wünsche ich meiner Heimat den Sieg. Aber wie soll sich dieser Sieg darstellen? Jeder Sieg Hitlers war eine Niederlage für die Deutschen, sein Fall umgekehrt ein grosser Sieg. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte hat sich gezeigt, wie ein total besiegtes Volk wiederauferstehen und weiterleben kann – ohne Fieberträume vom Krieg.
Russland dagegen ist vor unseren Augen aus dem 21. Jahrhundert in finstere Zeiten zurückgefallen. Es ist fast unmöglich, in einem Land zu leben, wo die Luft vorsätzlich mit Hass verpestet wird. Auf den grossen Hass folgte in der Geschichte stets das grosse Blut. Was erwartet mein Land? Wird es selbst zu einem riesigen Donbass?
Vater, den Krieg haben wir verloren.
Das Imperium der Lügen
Die Wahrheit abzustreiten, das hat in Russland nicht nur Tradition, sondern ist vielmehr Teil des Gesellschaftsvertrags. Auch deshalb wirkt der Westen im Ukrainekonflikt so hilflos
Als Kinder lasen wir alle das Buch Gelsomino im Lande der Lügner des Italieners Gianni Rodari. Darin kommt ein Junge in ein Land, das von einer Piratenbande eingenommen worden ist, die nun alle zum Lügen zwingt. Den Katzen wird befohlen zu bellen, den Hunden zu miauen. „Brot“ muss „Tinte“ genannt werden. Es ist nur Falschgeld im Umlauf, und die Einwohner werden über die Zeitung „Der musterhafte Lügner“ über die wichtigsten Nachrichten informiert.
Uns Kindern gefiel die Absurdität dieser Situation natürlich. Für die Erwachsenen lag das Geheimnis des unglaublichen Erfolgs dieses Buches allerdings darin, dass sie genau verstanden, über welches Land hier in Wirklichkeit geschrieben wurde. Orwell für Anfänger. Als die Kinder älter wurden, begriffen sie ebenfalls sehr schnell, dass sie in genau diesem Land lebten.
Die Lüge war allgegenwärtig. Die Zeitungen logen, das Fernsehen, die Lehrer. Der Staat betrog seine Bürger, die Bürger betrogen den Staat. So waren die allen verständlichen Spielregeln. Vom Kindergarten an gewöhnten wir uns daran.
Mit Plakaten überzeugte man die Bevölkerung, dass die „UdSSR – das Bollwerk des Friedens“ sei, und schickte gleichzeitig seine Panzer überallhin auf der Welt. Im Fernsehen berichtete man freudig über die Erfüllung der Fünfjahrespläne, doch die Regale in den Geschäften wurden fortwährend leerer und die Schlangen davor größer. Wir lebten in dem Land, „in dem der Sozialismus gesiegt“ hatte, in dem laut Gesetz alles dem Volk gehörte, doch in Wirklichkeit besaß das Volk nichts. Überhaupt gehörte niemandem etwas.
Wir lebten in diesem außergewöhnlichen Land voller Sklaven, in dem alle dem System gehörten. Diejenigen, die uns anführten, waren einfach die größten Sklaven. Niemand trug die Verantwortung für sein Land. Die Kolchose-Sklaven sind enteignet worden und ihnen war es egal, ob die Ernte heranwuchs oder nicht. Die Arbeiter-Sklaven soffen, und ihre Vorgesetzten schickten gefälschte Bilanzen ans Ministerium. Die regierenden Sklaven nahmen diese verdrehten Lügen als gültige Resultate in Empfang.
Über Jahrzehnte wurden eigene und fremde Leute angeschwindelt, und man störte sich nicht daran, dass niemand dem anderen glaubte. Unter dem erlogenen „Aufruf einer Gruppe von Genossen“ fiel man in die Tschechoslowakei ein. Man log, dass man uns nach Afghanistan eingeladen habe. Es wurde geschwindelt, wenn bei Flugzeugkatastrophen Fußball- oder Hockeymannschaften starben – denn solche Katastrophen kamen ja nur dort vor, im Westen. Die ganze Welt wurde angeschwindelt, als ein südkoreanisches Flugzeug abgeschossen worden war.
Chruschtschow wurde aus den offiziellen Bildern des Empfangs von Gagarin auf dem Roten Platz herausgeschnitten. Man log über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, zu jedem Anlass, egal ob wichtig oder unwichtig.
Meine Mutter unterrichtete damals in der Schule, doch ich habe zu der Zeit natürlich noch nicht realisiert, wie schwierig die Gestaltung des Unterrichts für sie und alle Lehrer war: Sie standen vor einer unlösbaren Aufgabe – die Kinder zu lehren, die Wahrheit zu sagen, und sie gleichzeitig auf ein Leben im Land der Lügen vorzubereiten. Nach dem geschriebenen Gesetz sollte man immer die Wahrheit sagen, doch das ungeschriebene hieß: Wenn du die Wahrheit sagst, wirst du Kummer ernten.
Sie lehrten uns Lügen, an die sie selbst nicht glaubten, weil sie uns liebten und uns retten wollten. Denn in unserem Land wurde mit Worten ein tödliches Spiel getrieben. Man musste die richtigen Worte aussprechen und die falschen verschweigen. Niemand zog diese Grenze offiziell, doch jeder spürte sie in sich. Die Dissidenten verstießen gegen diese Spielregeln – aufgrund ihres selbstmörderischen Verständnisses für Gefühle der persönlichen Wertschätzung (so lautete Solschenizyns berühmter Aufruf: Nicht nach der Lüge leben). Auch unerschrockene junge Leute verstießen dagegen – aus Dummheit.
Die Lehrer versuchten, diese wahrheitsliebenden Jugendlichen zu retten, indem sie ihnen eine belebende Dosis Furcht einimpften. War das im Moment ein bisschen schmerzhaft, so immunisierte es doch für das ganze folgende Leben. Vielleicht hatte man uns Chemie oder Englisch nur schlecht beigebracht, doch wir erhielten eine beispielhafte Erziehung in der schwierigen Kunst des Überlebens – das eine zu sagen, aber das andere zu denken und zu tun.
Diese Lüge darf keinesfalls als Sünde bezeichnet werden – in ihr konzentrierte sich die ganze Kraft der Vitalität, die Stärke der Überlebensgeister. Jeder, der geboren wurde, fand sich in diesem geschlossenen Kreis aus Lügen wieder. Doch warum? Wie konnte es so kommen? Ich kann mich erinnern, wie mich als Jugendlicher die einfache Erklärung überrascht hat, die ich dazu im Artikel Das Paradox der Lüge gelesen habe, den der verbotene Philosoph Nikolai Berdjajew 1939 im Exil über die Diktaturen von Hitler und Stalin geschrieben hatte: „Die Menschen leben in Angst, und die Lüge ist ihre Waffe zur Verteidigung.“ Die Machthaber fürchteten sich vor ihrem eigenen Volk und logen deshalb. Und die Bevölkerung machte bei dieser Lüge mit, denn sie fürchtete sich wiederum vor der Macht.
Die Machthaber und ihr Volk hatten einen Gesellschaftsvertrag miteinander geschlossen: Wir wissen, dass wir lügen und dass ihr lügt und werden weiter lügen, um zu überleben. Mit diesem «contrat social» sind Generationen groß geworden.
Ich weiß noch, wie wir vom Reaktorunglück in Tschernobyl erfahren haben. Ich arbeitete damals an einer Schule. In der Pause rannte ein sichtlich erregter Physiker zu uns ins Lehrerzimmer, der von einem Bekannten hinter vorgehaltener Hand über die Katastrophe unterrichtet worden war. Ihm glaubten wir sofort. Er, und nicht die Regierung, sagte, man solle die Kinder in die Häuser holen.
Die offiziellen Kanäle schwiegen noch lange, und dann berichteten sie zwar über die Ereignisse, beschwichtigten aber gleichzeitig, es bestehe überhaupt keine Gefahr. Die Bevölkerung wusste bereits, was das bedeutete: Wenn sie sagten, es gebe keine Gefahr, dann stand es nicht gut.
Ein gespaltetes Bewusstsein – das eine zu sagen und etwas anderes zu denken und zu tun – machte die Wirklichkeit einer ganzen Nation aus. Wenn sich eine Lüge von sich selbst abschottet, wird sie fähig, eine neue Realität zu konstruieren. Diese Realität sind wir. Und alle wir Russen, die heute leben, kommen aus ihr. Sowohl Regierungsbefürworter wie auch Oppositionelle.
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts fand in Russland ein Wunder statt. Die obersten Sklaven starben einer nach dem anderen, und unser Gefängnisstaat brach einfach in sich zusammen. Von Mitte der achtziger bis zu Beginn der neunziger Jahre erhielt mein Volk die einzigartige Möglichkeit, sein Leben neu aufzubauen, eigene Entscheidungen zu treffen. 1991 befreiten wir uns zwar von der Kommunistischen Partei, doch von uns selbst konnten wir uns nicht befreien. Unser gewohnter Gesellschaftsvertrag blieb auch nach dem Zerfall der UdSSR in Kraft.
Wir waren naiv. Alles erschien so einfach und offensichtlich: Unser Land ist von einer Bande von Kommunisten eingenommen worden, und wenn man die Partei verjagt, werden sich die Grenzen öffnen und uns eine Rückkehr ermöglichen in die Familie der Nationen, die nach den Gesetzen der Demokratie, der Freiheit und der Persönlichkeitsrechte leben. Die Worte klangen wie ein wunderbares Märchen über die unerreichbare Zukunft – Parlament, Republik, Verfassung, Wahlen.
Irgendwie dachten wir gar nicht daran, dass all diese Worte bei uns bereits Wirklichkeit waren – immerhin galt die Verfassung Stalins aus dem Jahr 1937 als „demokratischste Verfassung der Welt“ –, und auch an Wahlen nahmen wir regelmäßig teil. Wir vergaßen, dass alle guten Worte, wenn sie die Grenze zu unserem Heimatland überquerten, plötzlich eine ganz andere als ihre ursprüngliche Bedeutung annahmen.
Demokratie – das bedeutete Chaos. Parlament – ein Ruheposten für das Ganoventum. Brot – Tinte. Wer hätte damals gedacht, dass die Kommunistische Partei zwar verschwindet, wir aber dieselben bleiben – und mit uns auch all die guten Worte: Demokratie, Parlament und Verfassung wurden einfach zu Schlagstöcken im endlosen Kampf um Macht und Geld im neuen Russland.
Es erwies sich als unmöglich, die Wächter zu verjagen, denn jeder war sich selbst ein Wachposten. Wenn der Aufruhr im Sträflingslager nicht unterdrückt werden konnte, so hörte er irgendwie von selbst auf, und er endete einfach damit, dass die Leute in ihre Baracken zurückkehrten. Schließlich musste man weiterleben. Die Ordnung stellte sich von selbst wieder her. Die gleiche Ordnung wie früher – denn eine andere kannte dort niemand. Und wieder besetzten die Stärksten die besten Pritschen und drängten die Schwachen zum Abort.
Die kommunistische Lüge wandelte sich zu einer demokratischen. Die Leute wurden nun unter demokratischen Losungen ausgeraubt. Die Clique ehemaliger Partei- und Komsomolfunktionäre teilte alle natürlichen Ressourcen unter sich auf und beeilte sich, sie so schnell wie möglich ins Ausland zu verkaufen, um heute reich zu werden, ohne an die Zukunft des eigenen Landes zu denken. In diesem Licht sieht der unterdrückte, größte Teil der Bevölkerung heute die demokratischen Reformen der neunziger Jahre.
Denn hinter der Maskerade des 21. Jahrhunderts treten die ewigen russischen Konstanten überdeutlich hervor: ein Haufen Diebe, Beamte und Oligarchen, die den Reichtum des Landes an sich gerissen haben und keine Sekunde daran denken, mit der armen, versoffenen Bevölkerung zu teilen. Das Geld für die bald ausverkauften Bodenschätze fließt in den Westen und wird nicht in russische Straßen, Krankenhäuser oder Schulen investiert. Staatliche Mittel, die für soziale Zwecke zur Verfügung gestellt werden, kommen größtenteils nie an ihrem Bestimmungsort an, sondern verschwinden in den Taschen der Beamten.
Die Fingerabdrücke aus Lügen bleiben dieselben. So wie in der UdSSR schwindelt auch die russische Propaganda eine andere Realität vor. Die Automobilindustrie ist zusammengebrochen, die Flugzeugherstellung ebenfalls; Raketen werden zwar noch abgeschossen, doch sie stürzen regelmäßig ab; die Hälfte aller Nahrungsmittel wird importiert, Haushaltsgeräte kommen zu beinahe 100 Prozent aus dem Ausland. Das Land produziert praktisch nichts mehr, der Staatshaushalt gründet allein auf dem Verkauf von Öl und Gas, doch das Fernsehen erklärt der Bevölkerung, „Russland erhebe sich von den Knien“.
Putin begann seine Regentschaft sogleich mit Lügen. Als er den zweiten Tschetschenienkrieg vom Zaun brach, erklärte er gleichzeitig den Massenmedien den Krieg. Lügen umhüllten den Untergang des U-Bootes Kursk, Explosionen in Moskauer Wohnhäusern, die Tragödie in Beslan, die Geiselnahme und deren tödlichen Ausgang im Musicaltheater Nord-Ost.
Gleichzeitig mit der Zunahme der Lügen steigt die Popularität des Staatsführers. Lügen gibt es nur dort, wo man nach der Wahrheit sucht. Doch da, wo man nicht sucht, da gibt es auch keine Lügen. Allein nach der Wahrheit zu suchen, wird ungemütlich.
In Tolstois Roman Anna Karenina fragt Levin einen Bauern: „Michajlitsch, was hältst du vom Krieg? Was findest du? Sollen wir für die Christen kämpfen?“ Die Antwort: „Was soll man da denken? Zar Alexander Nikolajewitsch denkt doch für uns, das hat er immer gemacht. Er kennt sich da besser aus.“
Dem Großteil der Russen erging es schlecht in der marktwirtschaftlichen Pseudodemokratie. Das sich satt gegessene Land wurde von Sehnsucht ergriffen. Generation für Generation hat man den Menschen alles weggenommen und ihnen zur Kompensation das stolze Gefühl vermittelt, Bürger eines riesigen, ruhmreichen Imperiums zu sein. Für sie wurde gedacht, für sie wurde entschieden, sie wurden geleitet. Eine solche Leere empfindet wohl ein aus dem Armeedienst entlassener Berufssoldat. Plötzlich muss man Verantwortung für sein eigenes Leben übernehmen, den eigenen Weg finden, selbst denken.
Die Menschen vermissten die Eindeutigkeit, die Ordnung, die Obrigkeit. Die russische Schwermut. Sehnsucht nach einem eindeutigen Weltbild. Nach der Unterteilung in eigen und fremd. Nach einem weisen väterlichen Anführer. Nach einem großen Sieg. Nach der Größe des Heimatlands. Die Propaganda keimt auf diesem gut vorbereiteten Boden.
Die Fernsehbilder der Leiche Gaddafis waren für diejenigen, die mein Land in Geiselhaft genommen haben, ein Wink aus den Weiten des Weltalls. Hunderttausende Menschen, die sich mit den gefälschten Wahlen 2011 nicht abfinden wollten und sich auf den Plätzen Moskaus versammelten, zwangen den selbst ernannten Herrscher im Kreml zum Nachdenken. Der Sieg des Maidan und die würdelose Flucht von Wiktor Janukowitsch riefen Panik hervor und forderten sofortiges Handeln. Denn wenn die Ukrainer ihre Bande verjagen konnten, so könnte dies dem Brudervolk zweifellos als Beispiel dienen.
Als Erstes zog das Fernsehen in den Krieg. Das Medium zur Masseninformation wandelte sich in eine Massenvernichtungswaffe. Die Lüge ist die Verteidigungswaffe eines Regimes vor seinem Volk. Nun wurde ein von allen Diktaturen erprobtes Mittel herangezogen – ein äußerer Feind. Vor unseren Augen wandelten sich die Ukrainer zu „Ukrofaschisten“. So wurden die visionären Worte Churchills Wirklichkeit: „The fascists of the future will be called anti-fascists.“ Wieder wurden die Russen in einen Krieg gegen den Faschismus gerufen.
Zum x-ten Mal in der Geschichte beruft sich ein Diktator zur Sicherung seiner Macht auf den Patriotismus. Von den Fernsehbildschirmen hallt es nun hysterisch: „mächtiges Russland“, „wir erheben uns von den Knien“, „die Rückkehr der russischen Länder“, „die Verteidigung der russischen Sprache“, „das Sammeln der russischen Erde“, „wir retten die Welt vor dem Faschismus“. Und natürlich schreitet unser Führer ganz an der Spitze voran: Putin im Panzer, Putin im U-Boot, Putin im Flugzeug.
Abermals wird die Geschichte umgeschrieben, man lässt ihr nur noch kriegerische Siege und erkämpften Ruhm und unterstreicht die Losung des stalinistischen Gelehrten Michail Pokrowski: „Geschichte ist Politik, die sich der Vergangenheit zuwendet“ – und bei dieser Gelegenheit auch die Losung des totalitären Regimes in Orwells 1984: „Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht auch die Vergangenheit, und wer die Vergangenheit beherrscht, der wird auch in Zukunft herrschen.“ In die Schulbücher wurde bereits ein Kapitel über die ruhmreiche Rückkehr der Krim eingefügt. Das folgende Kapitel muss noch geschrieben werden: Kiew kriecht wie ein verlorener Sohn in die offenen Arme der russischen Welt.
Der Krieg mit der Ukraine passt vollständig in jenes Korsett aus Lügen, das ganzen Generationen vertraut ist. „Auf der Krim gibt es keine russischen Soldaten“, heißt es unverfroren. Den eigenen Leuten ist alles klar; der Gesellschaftsvertrag der Lüge behält seine Gültigkeit. Dann wird das Offensichtliche mit selbstzufriedenem Lächeln bestätigt: „Auf der Krim waren russische Truppen.“ Im Westen wundert man sich, wie man sein eigenes Volk so schamlos belügen kann. Doch die Bevölkerung nimmt das nicht als Lüge wahr. Krieg ist Krieg, wir verstehen doch alles, es geht darum, den Feind zu täuschen. Das ist kein Laster, sondern eine Tugend.
„In der Ukraine kämpfen keine russischen Soldaten.“ – „In der Ukraine gibt es keine russischen Panzer.“ – „Die Boeing wurde von Ukrainern abgeschossen.“
Das alles gab es schon oft, auch dass man über Leichen geht. Das sowjetische Radio übertrug einst folgende in Umlauf gebrachte Lüge: „TASS, die russische Nachrichtenagentur, teilt mit, dass sich kein sowjetischer Soldat auf dem Territorium Koreas befindet!“ So gab es auch keine sowjetischen Soldaten in Ägypten, in Algerien, im Jemen, in Syrien, in Angola, in Mosambik, in Äthiopien, in Kambodscha, in Bangladesch oder in Laos. Wenn sie das Glück hatten, am Leben geblieben zu sein und dann nach Hause kamen, wurde ihnen angeordnet: kein Wort!
Die Heimat verleugnete sie – erst in den neunziger Jahren erkannte man sie an und subsumierte sie als Teilnehmer kriegerischer Handlungen unter den Gesetzesparagrafen „Über die Veteranen“. In diesem Gesetz ist eine Aufzählung der „unsichtbaren Kriege“ aufgeführt, in denen unsere Soldaten und Offiziere gekämpft haben, deren Teilnahme jedoch kategorisch und grimmig von unseren Regierungen verneint wurde. Die zukünftigen Gesetzgeber werden auch die Ukraine in diese Liste aufnehmen müssen.
Ich erinnere mich, dass der Mutter eines meiner Klassenkameraden, der in Afghanistan gefallen war, verboten wurde, auf dem Grabstein den Ort seines Todes anzugeben. Heute, wenn die „Fracht 200“ aus der Ukraine nach Russland kommt, wird den Angehörigen der in der Ukraine Gefallenen auch nicht erlaubt, ihre Geliebten öffentlich beizusetzen. Wieder werden in meiner Heimat Begräbnisse im Verborgenen durchgeführt.
Niemand glaubt an die massenweisen Infarkte und Gehirnschläge, die jene Soldaten aus einer Ecke bei Rostow getroffen haben sollen, als sie im Urlaub waren – alle verstehen alles. Und niemand verletzt den «contrat social» der Lüge. Der Vater eines Fallschirmjägers, der ohne Beine aus der Ukraine nach Russland zurückgekommen ist, hat auf Facebook geschrieben: „Mein Sohn ist Soldat, er hat seine Befehle ausgeführt, deshalb hat er, was auch immer mit ihm geschieht, richtig gehandelt, und ich bin stolz auf ihn.“
Wenn Putin seinem eigenen Land ins Gesicht schwindelt, wissen alle, dass er lügt, und er selbst weiß, dass es alle wissen. Doch seine Wählerschaft ist mit seinen Lügengeschichten einverstanden.
Wenn Putin den westlichen Politikern unverfroren ins Gesicht lügt, schaut er mit offensichtlichem Interesse und nicht ohne Spaß auf ihre Reaktionen, sonnt sich in ihrer Fassungslosigkeit und Hilflosigkeit. Zu solchen Lügen sind sie nicht bereit. Die westlichen Politiker schwindeln anders, im demokratischen Europa herrscht ein anderer Algorithmus der Lüge. So können sie beispielsweise nicht ihre Soldaten zum Sterben schicken und sich gleichzeitig von ihnen lossagen wie in Russland. Das würde ihre Wählerschaft niemals verstehen und verzeihen.
Wird Europa diesem Tsunami der Lügen etwas entgegensetzen können, oder wird es den Putinischen Gesellschaftsvertrag akzeptieren?
Man muss die Ukrofaschisten zerschlagen. In der Ukraine gibt es keine russischen Panzer. Brot – ist Tinte.
Putins Schwarzes Loch
Russland befindet sich im Kriegszustand. Doch der Westen kuschelt noch und will seine Ruhe. Mit einem Brief an Europa will der russische Autor Michail Schischkin die Menschen wachrütteln.
“Der Tagesspiegel”, 25.09.2014
Ich erinnere mich, wie ich als Kind in einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift für Erwachsene über Schwarze Löcher im Weltall gelesen habe. Der Gedanke, dass diese Bruchstellen im Weltgefüge unseren Kosmos aufsaugen können, beunruhigte mich so lange, bis ich verstand, dass das alles so weit weg war, dass es nicht bis zu uns kommen konnte.
Doch jetzt hat ein Schwarzes Loch unsere Welt ganz in der Nähe durchbrochen. Und hat begonnen, Häuser, Straßen, Autos, Flugzeuge, Menschen und ganze Länder in sich aufzusaugen. Die Ukraine und Russland sind bereits in dieses Schwarze Loch gestürzt. Vor unseren Augen saugt es Europa auf. Dieses Loch im Weltgefüge ist die Seele eines sehr einsamen, alternden Mannes.
Fernsehbilder, die das Ende von Hussein, Mubarak und Gaddafi ins Gedächtnis gebrannt haben, waren Grüße, die ihm das Schicksal aus exotischen Ländern geschickt hat. Die Proteste Hunderttausender in Moskau, die dem selbst ernannten Herrscher die Freude seiner Inaugurationsfeier verdarben, wirkten wie ein Signal der sich nähernden Gefahr. Mit der beschämenden Flucht Janukowitschs wurde die Alarmsirene eingeschaltet: Wenn die Ukrainer es schafften, ihre Bande zu verjagen, so konnte dies nur ein Beispiel zur Nachahmung für das Brudervolk sein. Ohne Verzögerung stellte sich der Überlebensinstinkt ein.
Es gibt ein universelles Rezept zur Rettung einer Diktatur: Man muss sich einen Feind schaffen. Es braucht einen Krieg. Der Kriegszustand ist das Lebenselixier eines Regimes. In der patriotischen Ekstase vereint sich die Bevölkerung mit ihrem „nationalen Anführer“, und alle Unzufriedenen kann man des „nationalen Verrats“ beschuldigen.
Vor unseren Augen wandelte sich das russische Fernsehen von einem Mittel der Unterhaltung und Verblödung zu einer Massenvernichtungswaffe. Journalisten wurden zu einer besonderen Art von Truppe, vielleicht zur wichtigsten überhaupt, mehr wert als die strategischen Raketentruppen. Im Gehirn der Zombie-Nation festigte sich das Weltbild: Die Ukrofaschisten, die den Willen des Westens vollstrecken, führen einen Vernichtungskrieg gegen die „russische Welt“.
„Auf der Krim gibt es keine russischen Soldaten“, vermeldete man im Frühling der ganzen Welt mit scheelem Grinsen. Im Westen konnte man das nicht verstehen: Wie konnte Putin seinem Volk so unverfroren ins Gesicht lügen. Doch die Bevölkerung nahm das nicht als Lüge wahr: Wir verstehen unter uns doch alles, man betrügt schließlich den Feind, das ist keine Sünde, sondern reine Soldatentugend. Mit welchem Stolz wurde dann zugegeben: „Ja, es waren russische Soldaten auf der Krim!“
So sind wir in die sowjetischen Zeiten der totalen Lüge zurückgekehrt. Die Macht schloss damals mit ihrer Bevölkerung einen Gesellschaftsvertrag ab, nach dem wir über Jahrzehnte gelebt haben: Wir wissen, dass wir lügen und dass ihr lügt, und wir lügen weiter, um zu überleben. Unter diesem contrat social sind Generationen groß geworden. Man darf diese Lüge nicht einmal als Sünde bezeichnen, denn in ihr konzentrierten sich die Kraft der Vitalität und die Stärke des Überlebensdrangs. Der Überlebenswille im Gefängnis verlangt von einem Menschen bestimmte Qualitäten, einen bestimmten Aufbau der Psyche. Die Macht fürchtete sich vor ihrem eigenen Volk und log deswegen. Die Bevölkerung nahm an dieser Lüge teil, denn sie fürchtete sich vor der Macht. Die Lüge wurde zur Existenzsicherung einer Gesellschaft, die auf Gewalt und Furcht basierte. Doch Gewalt und Furcht sind zu wenig für so eine allumfassende Lüge.
Warum schreibt der Vater eines Fallschirmspringers, der ohne Beine aus der Ukraine nach Russland zurückgekommen ist, auf Facebook: „Mein Sohn ist Soldat, er hat seine Befehle ausgeführt, deshalb handelt er, egal, was mit ihm passiert, richtig, und ich bin stolz auf ihn“? Das menschliche Bewusstsein verbietet sich den Gedanken, dass dein Sohn loszog, sein Brudervolk umzubringen, und nicht bei der Verteidigung seines Vaterlandes vor realen Feinden zum Krüppel wurde, sondern wegen der panischen Furcht eines mittelmäßigen Oberstleutnants, der Angst hat, seine Macht zu verlieren, und wegen der Ambitionen eines Haufens von Dieben und Veruntreuern von Staatsgeldern, die seinen Thron umschwärmen. Wie soll man auch zugeben, dass das eigene Land, die eigene Heimat der gemeine Aggressor ist und der eigene Sohn – ein Faschist? Die Heimat steht doch immer auf der Seite des Guten. Wenn Putin deshalb seinem Land ins Gesicht lügt, so wissen alle, dass er lügt, und er weiß selbst, dass es alle wissen, aber seine Wählerschaft ist mit seinen patriotischen Großlügen einverstanden.
Wenn Putin den westlichen Politikern unverfroren ins Gesicht lügt, schaut er nicht ohne Spaß auf ihre Reaktionen, sonnt sich in ihrer Fassungslosigkeit und Hilflosigkeit. Er möchte, dass Kiew wie ein verlorener Sohn auf den Knien in den Schoß des väterlichen Imperiums zurückgekrochen kommt. Er ist überzeugt, dass Europa sich beruhigt und die Ukraine der brüderlichen Vergewaltigung opfert.
Die Sanktionen der westlichen Staaten gegen Russland sind Ausdruck einer zaghaften Hoffnung, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten könnten bei der russischen Bevölkerung Unzufriedenheit mit ihrem Regime hervorrufen und sie zu aktivem Protest animieren. Doch das ist leider eine vergebliche Hoffnung. Ein bekanntes russisches Sprichwort besagt: „Schlag die eigenen Leute, damit die anderen sich vor dir fürchten.“ Man kann sich nicht vorstellen, dass in Paris oder Berlin plötzlich ein Befehl erlassen wird, auf einen Schlag den Import von Nahrungsmitteln zu verbieten. Ein explosionsartiger Aufruhr würde das Land noch am selben Tag zersprengen.
Doch in Russland erhöhte eine solche Anordnung die bereits schon überbordende Zustimmung für den Machthaber nur. Putin kennt den Unterschied zwischen seiner Macht und der Macht der europäischen Demokratien. Demokratische Regierungen tragen Verantwortung für ihre Bevölkerung und ihre Zukunft, in einer Diktatur aber gibt es nur die Verantwortung zur Ausführung von Befehlen. Jeder Diktator hofft auf seine Unsterblichkeit, und wenn dies schon nicht möglich ist, so ist er doch bereit, alle mit sich in das Schwarze Loch zu schleppen, die er verachtet. Und er verachtet alle, eigene und fremde Leute.
Putin weiß, dass der Westen nicht bereit ist, die rote Linie, die er schon längst hinter sich gezogen hat, zu überschreiten. Diese Linie bezeichnet die Bereitschaft, Krieg zu führen. Für die menschliche Psyche ist es schwierig, von der Nachkriegszeit in die Vorkriegszeit überzugehen. Die Mittel des informativen Massenterrors in Russland halfen den Russen, diesen Schritt zu vollziehen. Russland befindet sich bereits im Kriegszustand. In einem unerklärten Krieg gegen den Westen. Särge mit gefallenen russischen Soldaten sind aus der Ukraine in die russischen Städte gebracht worden. Psychologisch hinkt Europa hinterher, es kuschelt noch in der entspannten Vorkriegswelt. Man will weiter seinen Spaß haben. Aber jetzt ist Schluss mit der Spaßgesellschaft.
Die Europäer sind noch nicht bereit für die neu eingetretene Realität. Lasst uns in Ruhe! Macht alles wieder so, wie es war: Arbeitsplätze, Gas, Frieden! Keine Waffenlieferungen an die Ukraine! Im Zeitalter der Atomwaffen darf auf keinen Fall wegen eines Ortes wie Mariupol ein kriegerischer Konflikt vom Zaun gebrochen werden! Soll die Welt wirklich in einer Katastrophe versinken, nur weil die Ukraine nach Europa möchte? Schließlich spricht Putin perfekt Deutsch! Die Amerikaner wollen uns mit den Russen entzweien! An allem sind die amerikanischen Imperialisten und die europäischen Bürokraten schuld! Warum braucht es Sanktionen, wenn diese auch uns treffen? Moskau verteidigt in der Ukraine seine Interessen! Vielleicht sind in Kiew ja wirklich Faschisten an der Macht? Warum sollen wir die dann unterstützen und mit Russland streiten? Putin schlägt Frieden vor! Wir wollen Frieden!
Putins Rechnung scheint aufzugehen: Eher wird die westliche Bevölkerung, die durch wirtschaftliche Wirren und die Möglichkeiten eines Krieges aufgeschreckt ist, ihre Regierungen neu wählen und die Putin-Feinde durch Putin-Versteher ersetzen, als dass die Russen wegen wirtschaftlichem Zerfall und steigenden Preisen auf Lebensmittel auf die Straßen gehen. Putin hat Europa seinen contrat social vorgeschlagen. Und mit jedem weiteren Menschen, der bereit ist, ihn einzugehen, wird das Schwarze Loch größer.
Man muss endlich verstehen: Das Nachkriegseuropa steckt bereits wieder in der Vorkriegszeit.
Michail Schischkin – Poet gegen Zar
Sternstunde Philosophie
Russland führt gegen die Ukraine einen Bruderkrieg und gefährdet damit auch seine eigene Zukunft. So sieht es der in der Schweiz lebende russische Schriftsteller Michail Schischkin. Er bezeichnet den Präsidenten Russlands als «Zar Putin». Das Gespräch mit Schischkin führt Norbert Bischofberger.
Aschenputtel und Teremok
Das Putinsche Regime hat die Ukraine mit einem Bürgerkrieg und mit Blut an sich gefesselt.
Seit einigen Monaten wohne ich nun schon unweit eines lebhaften östlichen Basars. Rundum stehen Moscheen. Schwarz verhüllte Frauen verstecken ihre Gesichter vor mir und werfen mir stechende Blicke zu. Doch ich lebe nicht im Osten, sondern in einer europäischen Hauptstadt. Welcome to London!
Europa. Ein homonymes Wort. Ein Begriff trägt mehrere Bedeutungen. Wie viele genau? Ich fürchte, für diese Antwort würde kein Duden ausreichen.
Für welches Europa sind die Ukrainer auf dem Maidan auf die Barrikaden gegangen? Söhne, Ehemänner und Väter der himmlischen Hundertschaften haben ihr Leben für Europa geopfert. Wären die Bewohner von Brüssel, Strassburg oder Den Haag bereit, für die Europäische Union zu sterben? Die Einwohner von Paris, Monaco oder Berlin? Ich bezweifle es. Denn wir sprechen hier von verschiedenen Europa.
Ich bin in einem Land von Sklaven aufgewachsen, meine Eltern waren Sklaven, und mir wurde dasselbe Schicksal vererbt. Wir waren durch einen Stacheldrahtzaun von Europa getrennt. Europa war für uns ein Märchen, ein Mythos. Europa – es wurde zum russischen Mythos über ein menschenwürdiges Leben. Für Generationen gebildeter Menschen, die hinter dem Eisernen Vorhang versteckt waren, verkörperte Europa vor allem europäische Werte: in erster Linie Persönlichkeitsrechte, Wertschätzung der menschlichen Würde, Freiheit. Europa bedeutete all das, was uns verwehrt war.
Und genau für dieses Europa sind die Ukrainer auf den Euro-Maidan gekommen. Nicht für die Europäische Union, verkörpert durch die Beamten in Brüssel, sondern für ein menschenwürdiges Leben bei sich zu Hause haben sie sich gegen die kriminellen Banden erhoben, die in Kiew gewirtschaftet haben und heute noch immer in Moskau herrschen. «Für eure und unsere Freiheit!» Das kann der Diktator im Kreml der Ukraine nicht verzeihen – und wird es auch nie.
Genau deswegen wird Europa im russischen Fernsehen mit Faschismus gleichgesetzt. Und mehrere zehn Millionen Russen, für die das staatliche Fernsehen die Hauptinformationsquelle bildet, glauben, dass der Westen die Ukraine für einen Krieg gegen Russland instrumentalisiert. Das Regime hat die Mittel der Masseninformation zur Massenvernichtungswaffe umgemünzt. Die Propaganda vernichtet Gehirne und Seelen. Die Menschen werden zu Patrioten-Zombies. Und der «TV-Zombiekasten» hämmert ein eindeutiges Bild in ihre Köpfe: Die heilige Rus ist von Feinden umzingelt. Der Feind ist der Westen. Europa ist gleichbedeutend mit Faschismus, gegen den schon unsere Grossväter gekämpft haben und vor dem wir nun unsere Heimat schützen müssen.
So sieht der Blick von aussen aus, von dort, wo Europa kein Aschenputtel sein kann.
Europa-Aschenputtel – das ist das Europa der Europäer. Europa von der Kehrseite her betrachtet. Europa als Knotenpunkt von Problemen, Finanzkrisen, Staatsschulden und einer Übermacht der Bürokratie. Das Europa der Beamten, die den Bauern zeigen, wo und wie sie auf ihren Feldern wirtschaften sollen. Europa, das in den Flüchtlingswellen aus Asien und Afrika zu ertrinken droht.
Das Gefühl Europas als gemeinsames europäisches Haus, über das sich seine Erbauer, die den Zweiten Weltkrieg überlebt haben, so freuten, hat sich mit der Zeit aufgelöst. Das passiert mit jedem grossen Neubau. Nach der gemeinsamen «house warming party» verlernen es seine Bewohner allmählich, die Gemeinsamkeiten zu spüren. Alltagsprobleme und andere Wirren verhindern ein Leben in guter Nachbarschaft und trennen diejenigen voneinander, die nebeneinander wohnen. Denn was kann man von Nachbarn schon erwarten? Der eine verschmutzt den Eingang, der andere lärmt in der Nacht, der dritte zahlt die Miete nicht, und wieder ein anderer versucht mit solcher Beflissenheit die allgemeine Ordnung herzustellen, dass er allen auf die Nerven geht.
Wofür liebt man solche Nachbarn? Und wofür liebt man ein solches Europa? Sein Zerfall folgt der Zentrifugalkraft, er ist eine völlig natürliche Reaktion. «Ich will nicht nach Europa», sagt Europa.
Wir nehmen Luft nur wahr, wenn es nicht genug davon hat. Die europäischen Werte sind die Luft, mit der Europa atmet. Wenn die Europäer ihren wirklichen Reichtum nicht bemerken – Freiheit, Rechte, Demokratie, Gewaltenteilung, ein unabhängiges Justizwesen, echte und nicht gefälschte Wahlen –, wenn sie das alles nicht bemerken, dann steht es um Europa noch nicht so schlecht. Finanzkrisen sind eine heilsame Krankheit, mit der die Gesellschaft leben kann. Es gibt genügend Mittel dagegen, und sie wirken.
Und was das verlorene Gefühl einer «europäischen Gemeinschaft» angeht, so kann in dieser Situation die ukrainische Krise – die in Wirklichkeit natürlich eine russische ist – eine Chance für Europa sein. Wie seltsam das auch klingen mag. Eine Krise, Gefahr oder Bedrohung zwingt den Kontinent, Europa von neuem zu definieren, zu verstehen, woraus es besteht, wo seine Grenzen liegen und ob es die überhaupt gibt.
Es ist die Chance, sich vor einem drohenden Krieg wieder als einheitliches Europa zu erkennen. Denn im 21. Jahrhundert gibt es keine lokalen, weit entfernten Kriege mehr. Jeder Krieg wird ein europäischer sein. Und dieser europäische Krieg hat schon begonnen.
Vor knapp zwei Jahren habe ich einen Aufsatz über die Zukunft Europas geschrieben. Ich habe sie mit Teremok verglichen, einer kleinen Hütte aus einem russischen Volksmärchen. Das Märchen ist kurz: In einem Wald lebten einst die Tiere in einem kleinen, gemütlichen Haus – Teremok. Eines Tages klopfte ein Frosch an die Tür: «Tock, tock, wer wohnt im Teremok? Lasst mich hinein, ich möchte auch bei euch wohnen.» Man liess ihn hinein, und alle fanden es schön und gemütlich in ihrem Haus. Auch den Hasen Lampe und Reineke Fuchs liess man ins Haus hinein – für alle gab es im Teremok Platz. Doch dann kam der Bär. Alle Versuche von Meister Petz, ins Teremok-Haus einzudringen, misslangen. Da wurde der Bär wütend und setzte sich auf das Häuschen. So endet Teremok und damit auch das Märchen.
Ich habe über die Zukunft geschrieben, doch wie es scheint, hat diese Zukunft bereits begonnen. Alle Länder, die den sowjetischen Stacheldrahtzaun überwinden konnten und sich geografisch auf dem europäischen Kontinent wiederfanden, bemühten sich darum, im gleichnamigen gemütlichen Häuschen zu leben.
Doch nicht alle erwiesen sich als würdig, den hohen Titel eines Europäers zu tragen. Geografie und Wunschvorstellungen sind das eine, doch die Auswahl, wer ins Töpfchen und wer ins Kröpfchen kommt, etwas ganz anderes. – Die Ukraine wollte ins europäische Märchenhaus. Doch die russische Realität hinderte sie daran.
Die wichtigste Konsequenz, die der Alleinherrscher im Kreml aus dem Lehrbuch des Maidan gezogen hat, ist folgende: Wenn die Ukrainer es geschafft haben, ihre Bande zu verjagen, warum sollte das nicht auch den Russen gelingen?
Das Fundament der gesamten russischen Politik der letzten Zeit bildet diese Furcht. Die Angst eines einsamen, alternden Mannes, der genau weiss, wie Diktatoren enden. Er weiss, dass ein ehrenvoller Abgang in die Pension ein Luxus ist, den er sich nun nicht mehr erkaufen kann. Auf pensionierte Usurpatoren wartet das Gefängnis. Deshalb muss Putin bis zum bitteren Ende um die Macht kämpfen – was auch immer das ihn kosten wird. Gleichzeitig weiss er, dass das einzige lebenserhaltende Elixier einer Diktatur Feinde und ein Krieg sind. Menschenleben sind für ihn unwichtig – ob Russen oder Ukrainer, sie alle sind Abschaum.
Der Kreml wird alles daran setzen, dass Kiew keinen Einlass ins europäische Märchenhaus erhält. Er lässt die Ukraine nicht Aschenputtels Schuh überziehen. Im Grimmschen Märchen nützte es den Schwestern nicht einmal, die Zehen oder die Fersen abzuschneiden. Das Märchenreich bleibt der Ukraine jetzt für immer verschlossen: Es hilft auch nicht, den Donbass oder die Krim abzuschneiden: «Rucke di guh, rucke di guh, Blut ist im Schuh!» Das Putinsche Regime hat die Ukraine mit einem Krieg und mit Blut an sich gefesselt.
Der Anschluss der Krim hat Putin eine Welle des Patriotismus beschert. Diese Welle wird früher oder später zusammenbrechen, dann braucht er eine andere.
Für Diktaturen sind nicht die eigentlichen Kriegshandlungen wichtig, sondern der Zustand des Krieges. So kann man alle Feinde des Regimes als «nationale Verräter» ausgrenzen und verfolgen. A la guerre comme à la guerre. Ein Leben nach den Gesetzen des Kriegszustands erlaubt die Kontrolle der eigenen Staatsangehörigen.
Der grösste Trumpf bleibt da gut versteckt in der Hosentasche: ein grosser Terroranschlag in Russland. Brutal, mit einer hohen Opferzahl. Als Organisatoren kann schon jetzt ein «rechter Sektor» ausgemacht werden, den die Putinschen Mittel der Massendesinformation jetzt schon aktiv zu neuen Taliban aufbauen. So wird man mit einer weiteren Welle des Patriotismus versorgt: Kämpfe im weit entfernten Donbass sind das eine – wenn der «rechte Sektor» aber die eigenen Kinder in unserem Haus tötet, so ist das etwas ganz anderes. Das sind Faschisten, die von Europa unterstützt werden. Es war logisch, einen Krieg gegen den Taliban-Terror in Afghanistan zu führen. Ein Krieg gegen den Terror des «rechten Sektors» wird uns also nach Europa führen.
So oder so werden die Errichtung grauer Zonen ohne Rechte und Gesetzmässigkeiten auf dem Territorium der Ukraine, der Zusammenbruch des ukrainischen Staates, das Aufbauschen einer Kriegshysterie die Nahrung des Putinschen Regimes in den kommenden Jahren sein. Resultat des mehrjährigen Krieges in Ex-Jugoslawien und der Instabilität auf dem Balkan war eine Massenemigration in die europäischen Länder. Europa erwartet eine unvergleichlich grosse Flüchtlingswelle aus der Ukraine.
Und in Russland selber wird der Sauerstoffhahn für alle Unzufriedenen zugedreht: Wem es nicht gefällt, im Putin-Regime zu leben, der wird unzweideutig aufgefordert, das Land zu verlassen – die Grenzen stehen offen. Wir stehen an der Schwelle einer neuen grossen Wanderungsbewegung. Es wird nicht einfach werden für Europa.
Umso mehr muss sich Europa wieder vermehrt mit seiner eignen Identität auseinandersetzen. Es muss aufhören, sich als Aschenputtel zu fühlen und sollte sich auf seine einheitliche Kraft und Stärke besinnen. Das Europa des 21. Jahrhunderts ist viel zu klein geworden, als dass noch jedes europäische Land seinen eigenen Brei kochen und nur an sich selber denken könnte.
Es ist für die Europäer noch nicht zu spät, sich von ihrem engstirnigen nationalen Denken zu befreien, um globale Probleme anzugehen, die Europa und die gesamte Menschheit herausfordern. Unsere ganze Welt ist unser Teremok.
Michail Schischkin über Europa
Am 8. und 9. Mai 2014 diskutierten in Berlin Schriftsteller und Politiker aus 25 Ländern über ihre Europa-Vorstellungen. Tina Mendelsohn hat den Schriftsteller Michail Schischkin interviewt.
Schriftsteller-Konferenz zu Europa
Ist der Krieg schon da?
Ein Gespräch zwischen Außenminister Frank-Walter Steinmeier, dem russischen Schriftsteller Michail Schischkin und der Autorin Mely Kiyak über unseren taumelnden Kontinent.
Von Ijoma Mangold
DIE ZEIT Nr. 19/2014, 30. April 2014
1988 gab es schon einmal eine internationale Schriftstellerkonferenz unter dem Motto “Ein Traum von Europa”. Sie nahm vieles von dem vorweg, was ein Jahr später die weltpolitische Lage umkrempelte. In diesem Jahr treffen sich am 8. Mai wieder 30 Autoren aus über 20 Ländern in Berlin zu einer Europäischen Schriftstellerkonferenz, um den “Traum von Europa” weiterzuträumen. Initiiert wurde die Konferenz von den Schriftstellern Mely Kiyak, Nicol Ljubić, Antje Rávic Strubel und Tilman Spengler sowie dem deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der hier bereits mit zwei der Teilnehmer diskutiert.
DIE ZEIT: Während in der Bevölkerung Europa-Überdruss herrscht, ist mein Eindruck, dass es unter den Schriftstellern nur euphorische Pro-Europäer gibt. Sind Schriftsteller geborene Europäer?
Mely Kiyak: Mein Eindruck ist das gar nicht. Ich kenne Autoren, die europaskeptisch sind, die am liebsten den Euro abschaffen würden und die zunehmend rechtes Gedankengut in ihr literarisches Programm aufnehmen.
ZEIT: An wen denken Sie da?
Kiyak: Zum Beispiel an Leon de Winter, Ralph Giordano oder Richard Wagner. Letzterer begreift Europa explizit als christliches Abendland. Es ist wohl eher so: Man hat es gerne, wenn Schriftsteller die Europaliebhaber geben und das verkaufen, was die Politik da macht, in der Hoffnung, dass es dann irgendwie unangestrengter, unterhaltsamer klingt, als wenn ein Politiker von Wirtschaftswachstum und Sicherheit spricht.
ZEIT: Deshalb hat sich in den vergangenen Jahren die Formulierung durchgesetzt, Europa brauche ein neues Narrativ. Können Schriftsteller die ideelle Attraktivität von Europa lebendiger machen?
Frank-Walter Steinmeier: Der “Traum” von Europa steht nicht für Entrücktes, sondern er trägt uns auch über Phasen der Ernüchterung und Enttäuschung. Kultur ist doch zumindest ein, wenn nicht der Anziehungspunkt von Europa! Die Grundlage dafür ist die Freiheit von Kunst und Kultur. Schriftsteller sollten sich nicht instrumentalisieren lassen. Was ich allerdings manchmal vermisse, ist eine Debatte über Europa jenseits der Politik.
ZEIT: Die Idee Europas als Zukunftsprojekt war ja schon einmal stärker in den Herzen verankert.
Steinmeier: Außerhalb Europas erlebe ich immer wieder, wie junge Menschen, auch Künstler und Schriftsteller, noch von Europa träumen und beflügelt werden. Alles, was für uns selbstverständlich ist, steht dort vielerorts für eine Sehnsucht und ganz konkrete politische Forderungen. Ein anderes Bild haben wir in der Tat, wenn wir in die Länder der Europäischen Union schauen. Hier wird Europa zunehmend als Zumutung wahrgenommen. Diese negativen Assoziationen mit Europa müssen wir überwinden. Dafür müssen wir die in den letzten Jahren immer größer gewordene Distanz zwischen Kultur und Politik verringern. Politik muss der Kultur wieder zuhören, und Kultur sollte ihrerseits bei praktischen politischen Fragen das Wort erheben. Mein Gefühl ist, dass die Bereitschaft unter Künstlern, sich politisch zu engagieren, eher nachgelassen hat.
Kiyak: Der Schriftsteller spricht erst einmal für sich. Die Politiker organisieren den Staat, die Schriftsteller reflektieren die Gesellschaft. Allerdings beobachte ich auch, dass es bei bestimmten Diskursen so eine merkwürdige Verstummung gibt und dann nur noch Politiker sprechen. Das hängt mit der Sorge der Schriftsteller zusammen, sich für politische Zwecke vereinnahmen zu lassen und den Leser damit zu verstören.
ZEIT: Kann es sein, dass man als russischer Schriftsteller automatisch viel politischer ist, weil das System seinerseits nicht so gleichgültig reagiert?
Michail Schischkin: Russland ist schon ein besonderes Land, und russische Schriftsteller sind ein besonderes Volk. Mir kommt es merkwürdig vor, wenn wir in diesen Tagen abstrakt über Europa und Kultur diskutieren. Heute ist Europa ein Schiff, und der Krieg ist schon da, und da kommt schon ein Torpedo – wir wissen nicht, ob der Torpedo das Schiff Europa erreicht oder nicht. Wir wissen nicht, was morgen geschieht. Die Leute, die diesen Torpedo schicken, das sind auch Schriftsteller! Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Schriftsteller in Russland die Annexion der Krim in einem offenen Brief an Putin unterstützt haben. Sie können sich die aufgeladene Atmosphäre in Russland nicht vorstellen. Seit Jahren wurde das Fernsehen in Russland zu einem Massenvernichtungsmittel gemacht, und viele Schriftsteller haben da gerne mitgewirkt. Das Fernsehen vernichtet die Seelen und vernichtet die Gehirne der Menschen. Wenn ich sehe, wie die Menschen in Russland weinend den Anschluss der Krim bejubeln und die Trikolore schwenken und schreien vor Glück, tut mir das weh, denn sie sind Opfer dieses Propagandakrieges. Die russische Regierung selbst ist schon zur Geisel ihrer eigenen Propaganda geworden. Sie haben den ersten Schritt auf der Krim gemacht, jetzt müssen sie den zweiten Schritt tun.
Steinmeier: Die Geister, die sie riefen, werden sie nicht wieder los. Hier waren Zauberlehrlinge der Propaganda am Werk.
ZEIT: Als Sie die europäische Schriftstellerkonferenz planten, hatte keiner mit dem Ukraine-Thema gerechnet. Was man lange als Phrase abgetan hat, Europa als Friedensprojekt, steht einem nun wieder mit ganz anderer Vitalität vor Augen.
Steinmeier: Wir stecken gegenwärtig in einer Krise, die die schwerste in Europa seit dem Ende des Kalten Krieges ist. Die europäische Friedensordnung steht auf dem Spiel. Wenn wir nicht achtgeben, droht die Rückabwicklung des zivilisatorischen Fortschritts, den wir nach der Auflösung des Ost-West-Konfliktes erleben durften. Dass sieben Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg Grenzen korrigiert werden, ist, glaube ich, in seinen politischen Konsequenzen noch gar nicht zu übersehen. Das zu verhindern sollte im Interesse aller liegen.
Schischkin: Für mich ist eine solche Zeit der Krise eine Chance für Europa, sich wiederzufinden. In der Ukraine hat alles mit der europäischen Idee angefangen: Die Ukraine wollte nach Europa. Unter Europa versteht man im Osten nicht dieses Knäuel von Problemen. Für Russland ist Europa der Mythos vom menschlichen Leben. Ein Ideal dessen, wie man das Leben organisieren muss, mit freien Wahlen, mit ehrlichen Gerichten und so weiter. In der jetzigen Krise kann den Menschen in der Ukraine nur diese Idee vom menschlichen Leben einen Ausweg bieten. Sonst droht das Ende Europas, nämlich eine Flut von Flüchtlingen. Es braucht nur ein paar Stunden, um von der Ukraine hierherzukommen und um Asyl zu ersuchen, und dann ist die Welle schon da.
ZEIT: So, wie Sie Europa mit den Segnungen von Demokratie und Rechtsstaat gleichsetzen, kann man das auch als eine westliche Interessenpolitik sehen, durch die sich Russland bedroht fühlt.
Schischkin: Jetzt sprechen Sie wie die russische Propaganda!
ZEIT: Wir sind wieder an einem Punkt, an dem sich die Idealvorstellungen und die Realpolitik hart im Raume stoßen. Ich nehme an, dass Sie, Herr Steinmeier, anders als Herr Schischkin, Russland eine Einflusssphäre zugestehen.
Steinmeier: Wir müssen erkennen, dass wir in unterschiedlichen außenpolitischen Kategorien denken. Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, freie und soziale Marktwirtschaft, all das sind fundamentale Grundsätze für unser Handeln. Auf dieser Grundlage laden wir andere ein, gemeinsam mit uns Politik zu machen. Russland hat zum Teil andere Kategorien in der Außenpolitik, die mehr der Zeit vor 1989, ja manche würden sogar sagen: vergangenen Jahrhunderten, verbunden sind. Hier spielen geopolitische Kategorien wie Macht, das Denken in Einflusszonen nach wie vor eine dominierende Rolle.
Schischkin: Was mich ein bisschen stört: Wenn Sie Russland sagen, dann meinen Sie nicht das Volk Russlands, sondern diese kriminelle Bande, die die Macht dort usurpiert hat und die ganze Bevölkerung zur Geisel genommen hat. Man muss nicht nach Sotschi fahren und Solidarität mit den Geiselnehmern zeigen. Die Pflicht Europas ist es, den Menschen dort zu helfen, sich von ihren Geiselnehmern zu befreien! Deswegen sind die Sanktionen so wichtig. Nicht aber Sanktionen gegen die Bevölkerung; es gibt etwa 200 bis 300 Familien, die die Macht haben. Für sie war Putin ein Stabilitätsfaktor. Wenn sie sehen, dass er zum Risikofaktor wird, werden sie ihn in zwei Minuten fallen lassen. Gegen diese Familien muss man Sanktionen verhängen, das wird funktionieren.
Steinmeier: Wäre Politik und besonders Außenpolitik so einfach, hätten wir ein paar Probleme weniger auf der Welt. Die Erfahrungen der letzten Zeit zeigen uns doch aber, dass man nicht grundsätzlich gegen Sanktionen sein muss, dass man aber aufpassen muss, dass man nicht unversehens in einen Automatismus hineingerät, der einen in einen Krieg hineinstolpern lässt, den eigentlich keiner wollte. Und Sie müssen immer damit rechnen, dass die andere Seite – vielleicht aus ganz irrationalen Gründen und mit selbstschädigenden Folgen – auch unter dem Druck von Sanktionen ihr Verhalten nicht ändert. Deshalb: Alles auf eine Karte setzen, das ist falsch und gefährlich. Sie müssen in einem Konflikt immer wieder Exit-Möglichkeiten schaffen, die neue Lösungsansätze zulassen.
Schischkin: Aber man muss etwas tun, sonst haben wir die Situation des Zweiten Weltkriegs wieder: zuerst das Sudetenland, dann Polen, dann Frankreich und so weiter.
Steinmeier: Dass Sie mir sagen, man muss etwas tun … Ich mache 24 Stunden am Tag nichts anderes!
Kiyak: Aber das “man”, von dem Sie, Herr Schischkin, sprechen, schließt ja mich und Sie ein. Wenn wir darüber sprechen, wie Politik es schaffen kann, dass man auf einem Kontinent friedlich miteinander lebt, dann müssen wir auch fragen, was wir Kulturschaffenden dazu beigetragen haben. Warum stört das eigentlich Menschen eines bestimmten Territoriums, dass sie unter der Fahne eines bestimmten Landes leben, warum möchten sie lieber unter der Fahne eines anderen Landes leben – diese Fragen müssen wir viel stärker diskutieren, als wir das in den vergangenen Jahren getan haben. Im vergangenen Jahr, als wir anfingen, unsere Konferenz zu planen, da war der Krisenherd die Türkei. Da gab es die Gezi-Proteste. Da lagen hinter der Türkei 30 Jahre Bürgerkrieg, 3.000 zerstörte Dörfer, 40.000 ermordete Menschen unter den Augen der Weltöffentlichkeit, während man gleichzeitig über den EU-Beitritt der Türkei verhandelte. Da müssen wir doch endlich fragen: Was sind eigentlich die Grundlagen dafür, dass ein Volk in Ruhe lebt? Wir landen bei all diesen Konflikten am Ende immer bei etwas Kulturellem: Man will seine Identität bewahren, seine eigene Sprache sprechen, seine Traditionen leben und seine Gewohnheiten nicht ändern. Wieso stört es Menschen auf der Krim, die sich als russischstämmig identifizieren, unter einer ukrainischen Fahne zu leben? Das zweite große Problem: Die europäischen Gesellschaften konstruieren am laufenden Band Minderheiten, zum Beispiel die Sinti und Roma aus Rumänien, die Muslime und so weiter. Wie kann es in einem vereinten Europa Minderheiten geben?
Steinmeier: Sie meinen, dass wir alle irgendwo Minderheiten sind?
Kiyak: Wir sind Europäer, was sonst? Europa wurde geschaffen, damit gerade keine Minderheiten konstruiert werden und man nicht wie Barbaren übereinander herfällt.
ZEIT: Woher kommt das Identitätsbedürfnis? Vor 200 Jahren waren die Schriftsteller die treibenden Kräfte, um Nationalidentitäten durchzusetzen. Sie lieferten die Geschichten, die Dramen dazu. Ich habe das Gefühl, jetzt haben sie eine neue Aufgabe übernommen, sie sind immer noch die Identitätslieferer, aber das Banner lautet Europa.
Steinmeier: Auf der anderen Seite stellen wir aber auch fest, dass das gar nicht so einfach ist. Es gibt ein europäisches Kulturerbe, zum Beispiel in der Gestalt der europäischen Aufklärung, aber aktuelle Ausprägungen der Kultur folgen sehr oft den jeweils eigenen historischen und sprachlichen Gestaltungsformen. Deshalb ist das Europäische einer Literatur gar nicht einfach zu beschreiben. Was die Haltung der Schriftsteller zu Europa angeht, gibt es Begeisterung für die Idee des Abstands von nationalem Stolz oder gar Eifer, aber es gibt wenig Begeisterung für den Alltag Europas. Robert Menasses Buch Der europäische Landbote ist da die Ausnahme. Menasse ist mit einer sehr kritischen Vorstellung nach Brüssel gereist und war dann erstaunt, wie viele begeisterte junge Leute er in diesen europäischen Institutionen kennenlernte. Aber vielleicht gibt es noch einen ganz anderen Aspekt zum Thema Identität. Der Bedeutungsschwund von politischen Grenzen führt dazu, dass die Identitätssuche im Sprachlichen und Traditionalen umso stärker wird.
Schischkin: Was hat europäische Identität mit der Sprache zu tun? Ich finde: gar nichts. Ich würde nie über europäische Politik oder über Putin in meinen Romanen schreiben, das ist die Arbeit der Journalisten. Ein Schriftsteller kann das tun, was die Publizisten nicht können. Ein Beispiel aus der Musik: Wenn ich die unsterbliche Musik von Rachmaninow höre, dann werde ich in diesem Augenblick auch ein wenig unsterblich. Das kann nur die Kunst. Das ist das Privileg der Kunst. Ich muss über die Sachen schreiben, die in meinem Leser das Gefühl der menschlichen Würde wecken. Und wenn diese menschliche Würde da ist, dann wird er selber entscheiden, ob er für oder gegen Putin, für oder gegen Europa ist.
Kiyak: Mich stört immer diese Rede von europäischer Kultur und Pro-Europäertum. Die europäische Kultur ist die Summe aller von Europäern gesprochenen Sprachen, ihrer ausgeübten Religionen, ihrer Erzählungen, Lieder und ihrer Gebräuche.
Schischkin: Und minus die Grenzen! Denn die Grenzen gehören zum mittelalterlichen Bewusstsein.
Kiyak: Die Grenzen sind so flüchtig, sie ändern sich alle paar Jahrzehnte.
Steinmeier: Wirklich?
Schischkin: Freie Menschen brauchen keine Grenzen, nur die Diktatoren brauchen Grenzen.
Steinmeier: Erlauben Sie mir Widerspruch: Gerade den Diktatoren muss die Freiheit ihre Grenzen aufzeigen!
Kiyak: Vor 25 Jahren hatten wir hier auch eine Grenze – und sie ist weg. Zwischen Kroatien und Serbien gibt es plötzlich eine Grenze, die Leute müssen unterschiedliche Buslinien nehmen, die eine führt nach Europa hinein, die andere davon weg. Es ist ja nicht nur so, dass nur die Menschen über die Grenzen gehen, die Grenzen gehen ja auch über die Menschen. Und trotzdem bleibt der Mensch da mit seiner Sprache und seiner Kultur. Bis gestern waren die Menschen auf der Krim Ukrainer, jetzt sind sie Russen, aber was bedeutet das für die Menschen, die dort leben? Da stimmen die Begriffe für mich nicht. Auch wenn man sagt: Europäische Kultur ist Aufklärung und Humanismus. Ich komme aus einem Land, in dem vor 100 Jahren Christen verfolgt wurden, wo es den ersten Völkermord der jüngeren Geschichte gegeben hat. Und dann gehen meine Eltern in ein Land, in dem es den zweiten Völkermord gegeben hat. Meine anatolische Großmutter fand den ersten Völkermord an Christen schrecklich und den zweiten an Juden auch. War sie dadurch europäisch, weil sie Völkermorde ablehnt? Ist es europäisch, human zu denken, ein Mensch zu sein?
ZEIT: Also gibt es doch eine Reibungsfläche zwischen dem literarischen Diskurs und dem politischen. Für den politischen Diskurs sind Grenzen natürlich wesentlich, während aus der Perspektive der Menschenbeschreibung Grenzen etwas Äußerliches sind.
Kiyak: Wenn ein Schriftsteller einen Familienroman über drei Generationen schreiben möchte, ist doch vollkommen klar, dass er das nicht innerhalb bestimmter Staatsgrenzen tun kann. Der literarische Diskurs ist etwas anderes. Bisher ist es so: Wir gucken, was die Politiker mit diesem Kontinent machen, und dann kommentieren wir das. Wieso ist es nicht umgekehrt? Wieso können nicht Schriftsteller Visionen, Wünsche, Forderungen in die Welt setzen, und die Politiker müssen sich dazu verhalten?
Steinmeier: Weil Schriftsteller oft literarisch ergreifen, was Politik erst später begreift. Deswegen auch unsere Idee, den Ansatz der Schriftstellerkonferenz des Jahres 1988 neu fruchtbar zu machen. Warum? 1988 war das Jahr vor dem Fall der Mauer – und trotzdem hat diese Schriftstellerkonferenz etwas vorweggenommen, was sich in der Politik erst später ereignet hat. Der Zerfall der Sowjetunion. So eine Standortbestimmung schwebte uns vor. Gerade mit der aktuellen Brisanz der Ukraine-Krise, die sicher auch zu kontroversen Diskussionen Anlass geben wird.
Schischkin: Darf ich noch eine kurze Frage, die für mich sehr wichtig ist, an Sie stellen, denn nicht oft treffe ich mich mit Politikern von solchem Rang: Ich bin freier Schriftsteller, also kann ich selber entscheiden, wem ich die Hand gebe. Wenn ich weiß, dass der Typ ein krimineller Schurke ist, dann werde ich kein handshake machen, das ist meine freie Wahl. Was spüren Sie, Herr Steinmeier, was fühlen Sie, wie rechtfertigen Sie sich, wenn Sie einem kriminellen Schurken wie Putin die Hand drücken?
Steinmeier: Vor drei Jahren – während der “Arabellion” – wurden in den Medien triumphierend Fotos herumgereicht, auf denen auch zum Beispiel ich beim Händedruck mit Mubarak zu sehen war. So als ob die Fotos bewiesen, dass man auf der falschen Seite der Geschichte gestanden hätte. Die Lage ist doch komplizierter: Es gibt in den Vereinten Nationen ungefähr 40 Staaten, die unseren kontinentaleuropäischen Vorstellungen von Demokratie und Rechtsstaat entsprechen, die anderen 160 sind mehr oder weniger weit davon entfernt. Viele folgen anderen Prinzipien ihrer innerstaatlichen Ordnung, manche auch sehr radikalen, autoritären, um nicht zu sagen brutalen. Ich kann mich entscheiden, was ich anspreche, und werde Problematisches nicht außen vor lassen. Ich kann nicht meine außenpolitischen Kontakte auf diejenigen beschränken, mit denen wir keine Probleme haben. Die Aufgabe der Außenpolitik ist nicht regime change an möglichst vielen Orten der Welt, sondern eine Vision von einer friedlicheren Welt und dafür zu sorgen, dass aus meistens ja unübersehbaren Unterschieden und Konflikten nicht Gewalt, Blutvergießen und neuer Krieg entstehen.
Michail Schischkin: “Sotschi ist eine Schande für das ganze Land”
Sie sind ein Symbol für Misswirtschaft und Propaganda: Der russische Autor Michail Schischkin übt harte Kritik an den Olympischen Spielen. Dahinter stehe eine «Bande von Kriminellen», die mit viel Geld das Image Russlands aufpolieren wolle.
«Als Künstler muss ich nicht über utin schreiben», sagt der russische Schriftsteller Michail Schischkin. «Aber als Bürger – als Russe – muss ich tun, was ich kann.»
Und das tut er. Während er in der Schweiz vor allem als Autor tätig ist, wird er in Moskau zum Aktivisten: Da protestiert er auf den Strassen, in Gesprächen, in Interviews – Schischkin will aufklären.
Dabei setzt der Autor klare Zeichen: Im letzten Frühjahr hat er sich offen mit dem Kreml angelegt. Er hat sich geweigert, mit der offiziellen russischen Schriftstellerdelegation an eine Buchmesse nach New York zu reisen. Er wollte nicht das Image von Putins Russland in der Welt polieren.
Um das Bild nach aussen gehe es nun auch bei den Olympischen Spielen: «Putin missbraucht die Spiele, um sein Image aufzupolieren. Er betrachtet den Anlass als seinen persönlichen Erfolg.»
50 Milliarden Dollar lässt sich Russland dieses Prestigeprojekt kosten. Es sind die teuersten Olympischen Spiele der Geschichte, vier Mal so teuer wie ursprünglich veranschlagt.
Für Schischkin sind sie ein Zeugnis der Misswirtschaft in Russland. Soviel Staatsgelder wurden noch nie geklaut, sagt er: «In Russland wird nichts produziert. Dafür wird der eigenen Bevölkerung Gas, Erdöl und Bodenschätze weggenommen – und in den Westen verkauft.» Nur: Die Erträge würden nicht mit dem eigenen Volk geteilt.
Dafür liess Russland eine gigantische Anlage für die Olympischen Spiele in Sotschi bauen. Die Zeitungen berichten von Korruption und Veruntreuung. Was nach den Spielen mit der riesigen, schnell gebauten Betonlandschaft geschieht, ist noch völlig offen. Glamourös soll es werden – zumindest während der Olympischen Spiele.
Michael Schischkin vergleicht es mit den Dörfern des russischen Fürsten Potemkin vor über 200 Jahren: Fassaden, nichts dahinter. Oberflächlich beeindruckend, aber ohne Substanz. «Gelder, die eigentlich für Schulen oder Krankenhäuser gedacht waren, wurden nur für dieses Potemkinsche Dorf ausgegeben. Das ist Schmach und Schande für das ganze Land.»
Einige boykottieren die Olympischen Winterspiele, zum Beispiel der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck. Hätte auch die Schweiz die Spiele boykottieren sollen?
Darüber urteilen will der in der Schweiz lebende Schriftsteller Schischkin nicht. Doch seine Meinung ist klar, was eine Reise nach Sotschi bedeutet: «Eine Bande von Kriminellen hat das ganze Land als Geisel genommen. Die Wahlen wurden gefälscht, im Kreml sitzen die Usurpatoren.» Die Olympischen Spiele seien dabei wie ein Test für andere Länder: «Wollen sie Solidarität mit den Kriminellen zeigen – oder wollen sie die Solidarität mit den Geiseln zeigen?»
Für die Sportler hat Michail Schischkin Verständnis. Für sie sei es keine leichte Entscheidung, haben sie doch ein Leben lang dafür trainiert. Sie seien denn auch Verlierer dieser Spiele: «Es sollte ein Fest des Sports sein – sollte. Aber unter diesen Umständen ist dies unmöglich.»
Russischer Autor: “Putin wird den Kreml nicht lebendig verlassen”
Der Russe Michail Schischkin nimmt kein Blatt vor den Mut, wenn es um seine Heimat geht. Der im Solothurnischen Kleinlützel lebende Schriftsteller hat sich in einem offenen Brief gegen Putin ausgesprochen – und wurde als Verräter beschimpft.
Interview mit Michail Schischkin von Dimitri Hofer
Der im solothurnischen Kleinlützel lebende Schriftsteller Michail Schischkin sorgte dieses Frühjahr für Schlagzeilen, als er sich weigerte, als Teil der offiziellen Delegation Russlands an der renommierten New Yorker Buchmesse teilzunehmen. Ende November reiste der Regimekritiker als offizieller Repräsentant des Gastlandes Schweiz an die Buchmesse in Moskau. Im Gespräch schildert er seine Erfahrungen in der russischen Hauptstadt, prangert Missstände im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen in Sotschi an und erklärt, wieso er für Russland trotz allem optimistisch ist.
Herr Schischkin, wie fühlte es sich an, Vertreter eines anderen Staates im eigenen Heimatland zu sein?
Michail Schischkin: Es klingt merkwürdig, aber ich fühlte mich in der richtigen Position. Ich stehe heute mit einem Fuss in der russischen Kultur, mit dem anderen aber fest in der Schweiz. Daher bin ich in beiden Ländern zuhause, und dies ist für einen Kulturschaffenden ein grosser Vorteil. Ich verstehe mich als Bindeglied und Vermittler zwischen den zwei Völkern und deren Kulturen.
Wo zeigt sich diese Verbindung bei Ihrer Arbeit als Autor?
Ich möchte diese Frage gerne mithilfe eines aktuellen Beispiels beantworten. Mein liebster Schweizer Schriftsteller ist Robert Walser, der jedoch im russischen Bewusstsein leider überhaupt nicht präsent ist. Ich sehe es deshalb als meine kulturelle Pflicht an, ihn in Russland einzuführen. Ich habe seinen Spaziergang ins Russische übersetzt und einen Essay über Walser geschrieben. Diese Texte erschienen diesen November zur Buchmesse in Moskau. Ich möchte meine Liebe zu Walser mit meinen russischen Lesern teilen. Nicht nur sein Schreiben ist eine Lektion für alle Schriftsteller, sondern auch sein Leben. Zum Beispiel seine Kompromisslosigkeit.
Die angesprochene Kompromisslosigkeit bewiesen Sie, als Sie es ablehnten, als offizieller Vertreter Russlands an der Buchmesse in New York teilzunehmen. Mit welchen Gedanken flogen Sie nach Ihrem Entscheid im November nach Moskau?
Als ich mich im Frühjahr in einem offenen Brief gegen das Putin-Regime aussprach, wurde von offizieller Seite eine Hetzkampagne gegen mich lanciert. Ich wurde als Nestbeschmutzer und Verräter bezeichnet, der von der westlichen Lebensweise beeinflusst sei und daher jeglichen Bezug zu Russland verloren habe. Als ich vor einigen Wochen meine Koffer packte, war ich deshalb auf alles gefasst.
Welche Erfahrungen machten Sie während des Aufenthalts in Ihrem Heimatland?
Meine schlimmsten Befürchtungen sind glücklicherweise nicht eingetreten. Ich konnte nur positive Erfahrungen mit nach Hause bringen. Immer wieder kamen in Russland unbekannte Menschen auf mich zu und dankten mir sowohl für meine Bücher als auch für mein klares politisches Statement gegen das menschenverachtende und korrupte Regime. Die Unterstützung meiner Landsleute machte mich als Autor und als Bürger Russlands sehr glücklich.
Diese Aussage bringt mich zur Kernbotschaft eines Ihrer Essays, in dem Sie über die Zweiteilung der russischen Gesellschaft in eine prowestliche und eine durch und durch patriotische Gruppe schreiben.
Es geht um die Information. Diejenigen Russinnen und Russen, welche sich über verschiedene Kanäle und das Internet informieren können, sind prowestlich. Das heisst, sie wollen keine verfälschten Wahlen und keinen Usurpator an der Macht haben. Diejenigen, die jedoch nur die staatlichen Medien konsumieren, haben ein mittelalterliches Bild der heiligen Insel Russland, die von Feinden umgeben ist. Im russischen Staatsfernsehen wird heute fast pausenlos Stimmung gegen den Westen gemacht. Und die Menschen glauben die Lügen, weil sie keine anderen Informationen haben.
Eine Informationspolitik wie vor dreissig Jahren.
Noch schlimmer. Vor dreissig Jahren war Kalter Krieg. Heute besitzt Russland aber keine Feinde mehr. Dennoch konstruiert das russische Regime einen imaginären Krieg gegen den Westen, um die Menschen an der kurzen Leine zu halten und an der Macht zu bleiben. Dieser Krieg dient als Vorwand, um viel Geld zu unterschlagen. Die Propagandamaschinerie in Russland wird von Tag zu Tag schlimmer. Ich schäme mich momentan wirklich für mein Land. Dieses Regime und seine Politik sind Russlands unwürdig. Dabei möchte ich doch, wie jeder Mensch, stolz auf meine Heimat sein.
Was müsste geschehen, damit Sie wieder stolz auf Russland wären?
Putin muss weg. Ich bin mir sicher, dass nach seinem Abgang in Russland natürliche Veränderungen eintreten werden. Es wird Tauwetter herrschen, das Land wird sich gegen den Westen öffnen. Russland kann sich verändern, nur unternimmt das jetzige Regime alles, damit dies nicht geschieht. Putin wird an der Macht bleiben und auch dort sterben. Lebendig wird er den Kreml nicht verlassen. Eine Revolution, wie sie zurzeit in Kiew stattfindet, ist in Russland heute, leider, nicht möglich.
Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck und der französische Staatspräsident François Hollande sorgten mit ihrem Verzicht eines Besuchs der Olympischen Winterspiele in Russland für Aufsehen. Seit kurzem ist bekannt, dass die beiden Bundesräte Didier Burkhalter und Ueli Mauer nach Sotschi reisen werden. Ein richtiger Entscheid?
Man muss sich dessen bewusst sein: Wenn die Schweiz nach Sotschi fährt, macht sie sich zu einem Komplizen eines Systems mit politischen Häftlingen. Wenn sie Sotschi unterstützt, unterstützt sie das Regime von Wladimir Putin, zu dessen Symbol der Austragungsort am Schwarzen Meer geworden ist. Die ausländischen Sportler werden, ob sie wollen oder nicht, vom Regime missbraucht und dem russischen Volk als Unterstützer Putins präsentiert werden.
Also müssten die Schweizer Sportler die Olympischen Spiele boykottieren?
Das müssen sie selber entscheiden. Ich glaube, dass es für etliche Sportlerinnen und Sportler keine einfache Entscheidung ist. Viele Sportler haben nur einmal in ihrem Leben die Möglichkeit, an einem solchen Grossanlass teilzunehmen. Aber es geht nicht nur um individuelle Erfolge im Leben. Stellen Sie sich vor: eine Bande hat das ganze Land, die Bevölkerung als Geiseln genommen. Wollen Sie Ihre Solidarität mit den Banditen oder mit den Geiseln zeigen?
Eineinhalb Monate vor Beginn der Olympischen Spiele begnadigte Wladimir Putin den seit zehn Jahren inhaftierten Kreml-Kritiker Michail Chodorkowski. Ist seine Freilassung bloss ein politischer Schachzug oder steckt mehr dahinter?
Diese Begnadigung ähnelt eher einer Hinrichtung nach zehnjähriger Folter. Jahrelang hat sich dieser mutige Mensch geweigert, ein Begnadigungsgesuch einzureichen, durch welches er seine Schuld anerkannt hätte. Seine unbeugsame würdige Haltung machte Chodorkowski zu einem Symbol des Widerstandes. Nun hatte er eine Alternative: noch ein dritter Prozess und weitere Jahre im Gefängnis oder eine Begnadigung mit sofortiger Freilassung. Hinzu kommt, dass sich die gesundheitliche Lage seiner Mutter stark verschlechterte. Sicher freut es jeden, dass er endlich freigelassen wurde. Aber das ändert nichts an der Lage in Russland: jeder kann nach Gutdünken des Regimes verhaftet oder freigelassen werden. Und nach den Olympischen Spielen werden weitere Leute verhaftet werden.
Trotz allem sind Sie für die Zukunft Russlands optimistisch. Aus welchen Gründen?
Es gibt Gesetze der Natur. Genauso gibt es Gesetze, nach welchen sich Gesellschaften entwickeln. Am Anfang herrschte überall das Recht des Stärkeren, aber irgendwann bildeten und bilden sich noch immer Institutionen heraus, welche die Schwächeren vor den Stärkeren schützen. Jeder in Russland möchte in einer Demokratie leben, in der seine Rechte geschützt werden. Die Frage ist nur, wie man den Schritt aus dem mittelalterlichen Feudalsystem hin zu einem System, in dem der Richter einzig und allein dem Gesetz dient, vollziehen kann. Russland versuchte bereits zweimal, diesen Schritt zu gehen. Im Sommer 1917 scheiterte man am Ersten Weltkrieg und während der Perestroika am Nichtvorhandensein eines Bürgertums. In den letzten zwanzig Jahren konnte jedoch in den russischen Grossstädten endlich ein Bürgertum entstehen, das schon die ganze Welt bereist hat und eine andere, demokratische Gesellschaftsordnung kennt. Diesen Leuten fällt es nun schwer, in sowjetische Zeiten zurückzukehren. Aber gerade in diese Zeitmaschine will das Regime alle hineinstopfen.
Aber diese Menschen gehen weg aus Russland.
Das ist das Problem. Wenn die Elite seit der Perestroika das Land nicht verlassen hätte, würde Russland heute ganz anders aussehen. Russland hat auf diese Weise in den letzten zwanzig Jahren Millionen gut ausgebildeter Menschen verloren. Dafür kamen Millionen Gastarbeiter aus Zentralasien ins Land, die kein Russisch sprechen. Das kulturelle und technische Niveau ist deshalb in den vergangenen Jahren stark gesunken. Von diesem Weggang profitiert aber das Regime. Der Premierminister Medwedew erklärte im Frühjahr, dass sie niemanden in Russland halten wollen. Jedem stehe es frei, zu gehen. Diese Leute brauchen nur Erdöl und Gas, Menschen brauchen sie nicht.
Der russisch-siamesische Zwilling
Von Michail Schischkin
“Du. Kulturmagazin”, Nr.838, Juli, 2013
Revolutionen aller Zeiten und Länder mögen Waisenkinder. Betrachten wir doch einmal die Schweiz. Johann Pestalozzi, Ehrenbürger des revolutionären Frankreichs, gibt das Helvetische Volksblatt heraus, wichtigstes Sprachrohr der Regierung der Helvetischen Republik, in dem der Bevölkerung die Werte der Revolution näher gebrach werden: Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, menschliche Würde, demokratische Verfassung usw. Als sich die begriffsstutzige Bevölkerung aber weigert, einen Eid auf die revolutionäre Republik abzulegen, unterstützt er die Entscheidung seiner Freunde in der Regierung, zur Abstrafung eine französische Truppe nach Nidwalden zu schicken. Resultat dieses beispielhaften Blutbades war eine Schar heimatloser Waisenkinder, an denen Pestalozzi nun seine pädagogischen Theorien zur Anwendung bringen konnte.
Diese Theorien studierte ich, als ich mich am pädagogischen Lenin-Institut in Moskau auf die Prüfungen vorbereitete. Wir lernten auch das pädagogische Werk des sowjetischen Pestalozzi – Anton Makarenko, der im GULAG Kinderkolonien ins Leben gerufen hatte. Ich erinnere mich, dass sich schon damals in meinem jungen Kopf der Gedanke festsetzte, dass die Eltern, wenn sie denn am Leben und nicht im Namen der grossen Ideen der Revolution umgebracht worden wären, ihre Kinder kaum Pestalozzi, Makarenko oder irgend einem anderen berühmten Pädagogen ausgehändigt hätten.
Mein Vater war vier Jahre alt, als sein Vater verhaftet und umgebracht worden ist. Für grosse Revolutionen ist ein verkümmertes Leben ein Staubkörnchen, sie rechnen in Millionen.
Warum also finden Revolutionen trotzdem statt?
Wörter, die einmal ihren Weg in die Sprache fanden, bleiben, doch ihr Geschmack ändert sich. Das Wort „Revolution“ trat im 18. Jahrhundert in die russische Welt ein, zusammen mit den Europäern, die unter Peter I. ins Land strömten. Bis zu diesem Zeitpunkt kamen die Russen mit dem Wort „Meuterei“ zurecht. Eigentlich wollte Peter nur die Armee für die Kriege mit Europa modernisieren und von den modernsten Militärtechnologien Gebrauch machen. Er schickte nach Gastarbeitern, doch es kamen Menschen. Sie brachten Wörter mit sich. Und in diesen Wörtern versteckten sich bisher in Russland unbekannte Ideen: Freiheit, Republik, Parlament, Personenrechte, menschliche Würde, Revolution.
Über wenige Generationen führten diese Wörter die wichtigste russische Revolution durch: sie wandelten die Nation zu einem siamesischen Zwilling, mit einem gemeinsamen Körper, aber Köpfen, die einander nicht verstanden. Seither existieren in Russland zwei Bevölkerungen, die zwar beide russisch reden, sich mental aber widersprechen. Der eine Kopf ist gespickt mit europäischer Bildung, liberalen Ideen und der Vorstellung, Russland gehöre der allgemein-menschlichen Zivilisation an. Dieser Kopf weigert sich, unter einer patriarchalen Diktatur zu leben, fordert Freiheit, Rechte und eine Verfassung. Der andere Kopf hat seine eigene Vorstellung von der Welt: Die heilige Rus’ – eine Insel, umgeben von feindlichem Ozean, und nur der Vater im Kreml kann dieses Land und sein Volk retten.
1825 fand der erste Versuch einer Revolution in Russland statt. Pro-westliche, europäisch gebildete Offiziere machten sich den Verzicht des Grossfürsten Konstantin auf den Thron zu Nutze, führten ihre Soldaten in Petersburg auf den Senatsplatz und befahlen ihnen, eine Verfassung zu fordern. Auf die Frage eines alten Generals, der sich über die Deklamationen der Soldaten, die weder lesen noch schreiben konnten, wunderte – „Brüder, was braucht ihr denn für eine Konstitution?“ – antworteten diese: „Wie, was für eine? Die Frau unseres rechtmässigen Zaren Konstantin!“
Das ganze russische 19. Jahrhundert war eine Vorbereitung auf die revolutionäre Katastrophe, die das Land anfangs des 20. Jahrhunderts ereilte. Die gebildete Klasse – die Intelligenzija – erklärte der Regierung den Krieg. „Sturz der Selbstherrschaft“ und „Revolution“ wurden zu Zauberwörtern, welche die Seelen und Herzen der belesenen jungen Männer und Frauen erfüllten. Sie belagerten das autokratische Regime wie eine Festung. Als Rammbock diente die russische Literatur. Die Machthaber des Verstandes – die Literaturkritiker – proklamierten den Nutzen der Bücher im revolutionären Kampf zur wichtigsten ästhetischen Direktive. Revolution wurde so zum Geschmack der Epoche. Ziel der Revolution war ungeteiltes Glück. Deshalb schien es so wonnevoll, im Gefängnis zu leiden und am Galgen zu sterben und zu guter Letzt auszurufen: „Es lebe die Revolution!“
Wer für den Triumpf der Revolution gestorben ist, hatte mehr Glück als diejenigen, die bis zu ihrem Sieg überlebten. Eine russische Volksweisheit besagt: „Einem schlechten Zaren darf man nicht den Tod wünschen.“ Der „Tyrann“ Nikolaj II. entpuppte sich aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts zum stillen, harmlosen Märtyrer der Revolution.
Ausnahmslos alle russischen Revolutionäre kannten die letzten Worte des Girondisten Pierre Victurnien Vergniaud, die er unter dem Schafott sagte: „Die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder.“ Sie kannten die Worte und dachten sich wohl, es ginge auch anders. Ging es nicht. Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder, ihre Väter, Mütter, Grossmütter, Grossväter, Geliebten. Besonders liebt sie Waisenkinder.
Heute ist das Wort „Revolution“ im russischen Bewusstsein diskreditiert. Die historische Erfahrung verband es dauerhaft mit jener bis dahin noch unbekannten Tragödie, die jede russische Familie erfasste. In Amerika, wo dem Wort „revolution“ noch der Mythos der Nationsgründung anhaftet, kann ein Schriftsteller es sich erlauben, sein Melodrama Revolutionary road zu nennen – in Russland würde niemand ein so betiteltes Buch kaufen. Alles, was mit „Revolution“ verbunden ist, hat einen negativen Beigeschmack, man möchte so schnell als möglich von diesem Revolutionsweg abkommen, möglichst weit davonrennen und sich davor verstecken. Niemand möchte in Russland noch eine blutige Revolution. Doch der russisch-siamesische Zwilling kann so auch nicht weiter leben. Rollte die Welle „blumiger“, „samtener“ und „blutloser“ Revolutionen bis nach Russland? Die Epitheta scheinen ihren Einfluss auf den emotionalen Inhalt des Wortes „Revolution“ auszuüben. Die letzte Protestwelle in Moskau erhielt den Namen „Revolution der weissen Bänder“.
Die heutige Situation erinnert stark an die Ereignisse der hundertjährigen Vergangenheit. Zum Jubiläum der Revolution von 1917 kommt Russland wieder mit der Losung „So kann man nicht weiter leben“ daher. Das 20. Jahrhundert hat die russische Geschichte in ein Möbiusband eingeschlossen. Jedes Mal, wenn das Land versucht, eine demokratische Gesellschaft aufzubauen, Wahlen, ein Parlament und eine Republik einzuführen, findet es sich in einem totalitären Imperium wieder. So war es 1917, so geschah es zu Beginn der 90er Jahre.
Die Besonderheit der russischen Diktatur des 21. Jahrhunderts beinhaltet, dass die Grenzen offen sind. Ja, das Regime ist sogar äusserst glücklich darüber, wenn alle Unzufriedenen das Land verlassen. Das Ideal Putins konnten wir im Mai des vergangenen Jahres am Fernsehen während seiner „Inauguration“ zum selbsternannten Präsidenten mitverfolgen. Ein gepanzerter Wagentross mit abgedunkelten Scheiben defilierte durch die leergefegten Strassen Moskaus. Diese riesige, lebendige Stadt, durch die Polizei von einer Bevölkerung gesäubert, die sich gerade erst einen neuen Regenten „gewählt“ hatte, hinterliess einen unheimlichen Eindruck. Leere Städte – das ist der heissersehnte Traum des neuen Diktators und seiner Diktatur. Das frühere, sowjetische Regime war von seinen Sklaven abhängig, deshalb waren auch die Grenzen zu, damit die Sklaven nicht fliehen konnten. Das neue Regime ist nur noch von „Röhren“ abhängig: von Gas- und Ölpipelines, die das Volksvermögen nach Westen pumpen. Dabei hat niemand vor, das so verdiente Geld mit der Bevölkerung zu teilen. Niemand investiert in Russland in die Infrastruktur, im Land wird nichts produziert, das ganze Kapital bleibt im Ausland und wird für Paläste und Yachten in Nizza oder Fussballclubs in London ausgegeben. Deshalb erscheint die vollständige Abwesenheit einer Bevölkerung, mit der man etwas teilen müsste, die ideale Variante für die Macht zu sein. Doch leider gibt es noch eine Bevölkerung. Und sie fühlt sich betrogen und beraubt.
Nach zwanzig Jahren neuen Russlands wurde klar, dass die demokratische Umgestaltung nur in Worten durchgeführt wurde, welche die Banditenstruktur des ganzen Staatssystems verdecken. Eine Mafia in der Art, wie sie in anderen Ländern existiert – also parallel zur Regierung – gibt es in Russland nicht. Die russische Cosa nostra hat sich mit der Regierung verwachsen. Die staatlichen Strukturen sind die russische Mafia, der grösste Feind des Gesetzes und der Bevölkerung. Die Bande früherer Partei- und Komsomolfunktionäre teilte alle natürlichen Ressourcen unter sich auf und beeilt sich, diese so schnell als möglich zu verkaufen, um noch heute reich zu werden, ohne an die anderen oder die Zukunft des eigenen Landes zu denken. So werden die demokratischen Reformen der 90er Jahre heute von der unterdrückten Mehrheit der Bevölkerung wahrgenommen. Zu offensichtlich durchdringen die ewigen russischen Konstanten die Maskerade des 21. Jahrhunderts: ein Haufen von Dieben, Beamten und Oligarchen riss den Reichtum des Landes an sich und spuckt auf die verarmte, sich betrinkende Bevölkerung. Das Geld für die verkauften Bodenschätze fliesst nach Westen und wird nicht in Strassen, Spitäler oder Schulen in Russland investiert. Die staatlichen Mittel, die für soziale Ziele zur Verfügung gestellt werden, erreichen diese grösstenteils nicht, sondern verteilen sich auf die Taschen der Beamten. Ein einfaches Prinzip wurde zur Ideologie des neuen Russlands: „Klettere an die Macht und bediene dich!“ Es erstaunt also nicht, dass sich an die staatliche Partei „Einheitliches Russland“ die präzise Formulierung des Bloggers und Oppositionsführers Alexej Navalnyj geheftet hat: „Partei der Banditen und Diebe“.
Das, was vor unseren Augen heute in Russland passiert, wiederholt auf erstaunliche Weise die Bewegungen zur 1917er Revolution vor hundert Jahren. Wie damals, so haben sich auch heute auf einem Territorium zwei in Glaube und Kultur völlig verschiedene Nationen gebildet, obwohl beide russisch sind und dieselbe Sprache sprechen. Ein Teil der Bevölkerung lebt in der Provinz – er umfasst viele Millionen verarmter, ungebildeter, sich betrinkender, mental im Mittelalter zurückgebliebener Menschen. Der zweite Teil konzentriert sich auf die beiden russischen Hauptstädte, ist gebildet, wohlhabend, hat die ganze Welt bereist und besitzt europäische Vorstellungen über den demokratischen Aufbau einer Gesellschaft. Für die einen kann nur Zar-Stalin mit eiserner Hand Ordnung in Russland herstellen. Für die anderen ist die ganze russische Geschichte ein blutiger Sumpf, aus dem man das Land zu liberalen europäischen Strukturen heraus führen muss.
In Russland läuft immer das selbe Spiel nach denselben Regeln für drei Spieler ab: Das Volk, ganz nach der genialen Formulierung Puschkins am Ende von Boris Godunov, schweigt, die sich herausbildende aktive Gesellschaft fordert eine „schweizerische“ Volksherrschaft und erklärt der Regierung den Krieg, den Machthabern schliesslich bleibt es, entweder abzutreten oder Schrauben enger anzuziehen. Die Möglichkeit, freiwillig und in Ehren abzutreten, hat der heutige Herr des Kreml verpasst, in dem er gefälschte Wahlen organisierte. Nun hat er keinen anderen Ausweg, als an der Macht zu bleiben, bis es nicht mehr weiter geht. Das Regime zieht die Schrauben enger.
Die gefälschten Wahlen in die russische Duma im Dezember 2011 waren die Initialzündung. Die von den arroganten Machenschaften der Machthaber empörte Bevölkerung explodierte, die Proteste wurden auf die Strasse getragen. Innert weniger Tage ist Russland erwacht, wurde zu einem völlig neuen Land. Plötzlich zeigte sich, dass Menschen, die nicht mehr in mittelalterlichen Verhältnissen leben können und wollen, nicht eine marginale Minderheit darstellen, sondern dass es sehr viele von ihnen gibt. In Moskau stellen sie sogar die Mehrheit. In den Menschen sind die Gefühle wieder erwacht, die sie schon vor zwanzig Jahren beflügelten. „Das ist unsere Stadt, das ist unser Land und es ist uns nicht einfach egal!“
Die endlich geborene Mittelklasse ist erwacht und spürt ein erstes Mal ihre Kraft. Dutzende Millionen Menschen haben gelernt, unter dem „wilden“ Kapitalismus zu leben: ihre materiellen Probleme ohne die Teilnahme der Regierung zu lösen, unter den Bedingungen der rohen Konkurrenz zu existieren und ihren Familien einen normalen Lebensstandard zu ermöglichen. All das hat zum Erwachen eines bürgerlichen Bewusstseins geführt – plötzlich zeigt sich, dass die russische Gesellschaft sich nicht mehr damit zufrieden geben will, unter Erniedrigungen in einer Autokratie zu leben. Das Bewusstsein ist gewachsen und vom Putinschen Verbrecherregime wird es ihm zunehmend übel! So kann man nicht mehr weiter leben!
Das Regime verteidigt sich, so gut es kann, und setzt auf den zweiten Kopf des russisch-siamesischen Zwillings. Für den Grossteil der Bevölkerung ist das Fernsehen noch immer die einzige Informationsquelle. Durch diesen „Zombikasten“ kontrolliert und manipuliert die Macht ihre Bürger, in dem sie ihnen immer dasselbe Weltbild in den Kopf hämmert: Die heilige Rus’, umgeben von Feinden, und nur der Vater im Kreml kann das Land vor inneren und äusseren Feinden schützen. Der Diktator lässt die Muskeln spielen, so wie auch Saddam Hussein und Muammar Gaddafi bis zur letzten Minute mit ihren Muskeln gespielt haben. Die Kraft von Diktatoren gründet einzig auf der Furcht ihrer eigenen Bevölkerung.
Die Waffe der neuen russischen Opposition – ist das Wort. Das Regime hat alle Unzufriedenen ins Internet-Ghetto geschickt. Dieses Ghetto brodelt und tritt über seine Grenzen. In Russland wird ein Krieg um den Verstand geführt. Und es ist klar, wer ihn gewinnt. Im Kampf zwischen Diktatoren und dem freien Wort hat schlussendlich noch immer das Wort gesiegt.
Revolutionen ereignen sich, weil der Mensch sie braucht, um sich als Mensch zu fühlen. Sonst gäbe es sie nicht. Es braucht diese Momente im Leben, in denen du dich nicht mehr länger erniedrigen lassen kannst und auf die Strasse gehst, um deine menschliche Würde zu verfechten.
Übrigens: Russland führt die weltweite Rangliste der verlassenen Kinder an – ganz ohne Revolutionen.
Der Schriftsteller Michail Schischkin im Interview: “Eine kriminelle Bande hat die Macht usurpiert”
Der Schriftsteller Michail Schischkin hat gerade ein Jahr als DAAD-Stipendiat in Berlin verbracht. Im Tagesspiegel-Interview spricht er über das Regime in Russland – und seine Leidenschaft für Deutschland.
Von Manfred Flügge
“Der Tagesspiegel”, 26.06.2013
Michail Schischkin, unsere Wege haben sich seltsam gekreuzt, schon vorgeburtlich: Ihr Vater war Matrose auf einem sowjetischen U-Boot, das Jagd auf deutsche Flüchtlingsschiffe gemacht hat. Es hätte das Schiff versenken können, mit dem meine Mutter 1945 von Königsberg nach Dänemark floh. Begegnet sind wir uns aber erst an einem Ort in Nordfrankreich, der mir viel bedeutet. Und nun haben Sie ein Jahr in Friedenau verbracht, zwei Häuser neben meiner ersten Berliner Adresse. Schicksal?
Ja, klar. Man bekommt vom Schicksal alles, was im Leben wichtig ist: die Eltern, die Heimat, die Sprache. Auch die Bücher. Ein Schriftsteller tut nur so, als habe er die Freiheit, diesen oder jenen Roman zu schreiben. Du kannst deinen Roman nicht wählen, genauso wenig wie dein Kind.
Sie sind nun zum dritten Mal für längere Zeit in Berlin. Erinnern Sie sich an den ersten Besuch?
Berlin wirkt immer inspirierend auf mich. Hier ist mein letzter Roman zu mir gekommen: Briefsteller. Zum ersten Mal kam ich 1976 bei einem Schüleraustausch, da war ich 15. Einem Jungen aus der erbärmlichen Sowjetunion kam Ost-Berlin wie das Paradies vor. Zwei Wochen haben auch für die erste Liebe gereicht. Sie hieß Anita. In einer Fremdsprache fällt es leichter, eine Liebeserklärung zu machen. Als ich ein paar Jahre später in meiner Muttersprache eine Liebeserklärung machen wollte, scheiterte ich: Zum ersten Mal machte ich die schmerzhafte Erfahrung, dass alle Wörter tot sind und den Sinn nur verzerren. Ich konnte das, was ich fühlte, nicht in Worte fassen. So wird man vielleicht zum Schriftsteller. Die Sprache wird zum Gegner. Es bleibt nur ein Weg: Man muss die toten Wörter wieder lebendig machen, damit man über die Liebe sprechen kann. Jede echte Prosa ist eigentlich eine Liebeserklärung an Gottes Welt.
In Frankreich glaubt man, das Deutsche sei unpoetisch.
Nicht nur in Frankreich. In unserer Schule wurden die Schüler in zwei Fremdsprachen-Gruppen eingeteilt. Alle wollten Englisch lernen, niemand Deutsch. Die Lehrer drohten: „Wenn du schlechte Noten hast, kommst du in die deutsche Gruppe!“ Ich hatte gute Noten, aber das Pech, dass meine Mutter die Schuldirektorin war. Sie sagte: „Mischa, ich weiß, du hast es verdient, in die englische Gruppe zu gehen, aber du wirst Deutsch lernen. Dann können mir die anderen Eltern nicht vorwerfen, ich hätte dich bevorzugt.“
Ein echter Schicksalsschlag!
Meine Einstellung änderte sich, als ich in der Abschlussklasse in russischer Übersetzung Mein Name sei Gantenbein las. Ich war total überwältigt, denn bei uns war fast alles verboten, was für die Entwicklung der Literatur im 20. Jahrhundert wichtig war. Nicht einmal Nabokov oder Joyce wurden publiziert. Dank Max Frisch kamen die Errungenschaften der westlichen Prosa wie durch einen Trichter in mich hinein. Ich habe dann Stiller im Original aufgetrieben und mit dem Wörterbuch gelesen. So begann meine Liebe zur deutschen Sprache, die bis heute anhält. Viel später übrigens wurde ich von Max Frisch enttäuscht, aber das hatte nichts mit der Sprache zu tun.
Welche deutschen Autoren haben Sie geprägt?
Als Germanistikstudent musste ich ja alles lesen, was bei uns an der pädagogischen Lenin-Hochschule unterrichtet wurde, vor allem Klassiker aus dem 18. und 19. Jahrhundert und viele DDR-Autoren. Ich hatte aber mein eigenes Programm. Ich weiß noch, wie ich Rilke, Borchert, Hesse, Jünger, Handke, Celan, Benn, Ilse Aichinger mit großem Interesse las. Inzwischen ist für mich ein Autor sehr wichtig geworden, der in der Sowjetunion völlig unbekannt war: Robert Walser. In diesem Jahr habe ich seinen Spaziergang ins Russische übersetzt und einen großen Essay über ihn geschrieben Walser und Tomzack. Ich hoffe, der Text erscheint bald auch auf Deutsch.
Bei Wikipedia findet man sechs Personen mit Ihrem Familiennamen plus einen Autor. Mir hat ein Bekannter einen Text aus dem 18. Jahrhundert geschenkt, in der ein erfundener Pastor Flügge vorkommt. Man sollte sich seine Vorfahren gut aussuchen oder ausdenken.
Stimmt. Meine Vorfahren waren einfache Bauern aus dem Tambow-Gebiet. Als ich 18 war, begab ich mich auf die Suche nach meinen „echten“ Verwandten und stieß in der Brockhaus-Enzyklopädie auf meine Ururgroßmutter Olympiada Petrowna Schischkina, die als „Fräulein“ am Hof des Zaren Nikolaus I. lebte und historische Romane verfasste. Das Problem ist nur, dass die Hoffräulein immer Jungfrauen sein mussten. Wer weiß, vielleicht hat sie einen unehelichen Zarensohn zu ihren Verwandten nach Tambow geschickt.
Die persönliche Vorgeschichte ist das eine. Das andere ist die Präsenz der jüngsten Vergangenheit. In Berlin ist sie besonders massiv. Die NS-Zeit ist omnipräsent, in Bauten, Gedenktagen, Museen.
Der Vater meiner norwegischen Übersetzerin Marit Bjerkeng war im Krieg in Sachsenhausen interniert. Vor einem Monat hat sie uns besucht und seine KZ-Sachen wie Kleidung und Löffel mitgebracht, für das Museum. Mit meinen russischen Erfahrungen glaubte ich, dass solche Erinnerungsstücke der Familie gehören und zu Hause aufbewahrt werden müssten. In Russland weiß man nie, was für die Museen morgen wichtig und was aus der Geschichte unwichtig sein wird. Die Vergangenheit ist bei uns nie eine Tatsache, sondern immer eine Streitfrage, deshalb ist es auch nicht möglich, sie wie die Deutschen zu bewältigen. Nur die Omnipräsenz der Geschichte, auch des „Dritten Reichs“, erlaubt die demokratische Entwicklung hierzulande. In Russland läuft die Zeit zurück in Richtung Mittelalter.
Woran glaubt man überhaupt, wenn man in der Sowjetunion aufgewachsen ist, deren Zerfall miterlebt hat und die enttäuschende Entwicklung danach?
Wer hätte vor dem Zerfall der Sowjetunion an ihre schnelle Auflösung geglaubt? Und doch ist dieses Wunder passiert. Warum sollten nicht andere Wunder passieren? Im Moment sieht es aber eher nach dem Gegenteil aus: Willkommen in der Diktatur des 21. Jahrhunderts! Die Grenzen sind offen, weil das Regime keine Bevölkerung braucht, die Erdöl- und Gas-Pipelines reichen ihm vollkommen. Eine kriminelle Bande hat die Macht im Lande usurpiert, pumpt die Bodenreichtümer in den Westen. Wozu mit der Bevölkerung die Einkünfte teilen? Das Geld wird auch im Westen investiert, in Paläste an der Côte d’Azur und in Fußballklubs, aber nicht in Russland. Im Lande wird nichts produziert, das meiste Geld wird von den Beamten gestohlen. Für die Unzufriedenen wurde das Internetghetto geschaffen, doch die meisten haben als einzige Informationsquelle das staatliche Fernsehen. Durch den „Zombie-Kasten“ werden die Leute manipuliert und bekommen ein mittelalterliches Weltbild serviert: Das heilige Russland ist von einem Ozean von Feinden umzingelt und nur der Vater im Kreml kann die Nation retten.
Napoleon hat gesagt, die Politik ist das Schicksal. Kann man nicht für die Russen wie für die Deutschen von heute sagen: Die Vergangenheit ist das Schicksal?
Einerseits ist es so. Wo wäre die deutsche Demokratie ohne die totale Niederlage im Krieg und ohne Neuanfang mit Unterstützung der westlichen Demokratien? Aber im Fall Russland wäre das eine Art Rechtfertigung. Mit einer solchen Vergangenheit lässt sich keine Demokratie aufbauen. Die Situation heute ist erniedrigend für jeden Russen, der eine Vorstellung von der menschlichen Würde hat. Und wird jeden Tag noch erniedrigender. Werden sich auch unsere Kinder und Enkelkinder mit der Erniedrigung weiter abfinden? Soll unsere Sklaven-Vergangenheit unser künftiges Sklaven-Schicksal bestimmen?
Wo bleibt das Positive?
Der erste Versuch der russischen Demokratie scheiterte 1917 am Krieg. Der zweite nach dem Zerfall des Kommunismus scheiterte am Fehlen der bürgerlichen Mittelschicht. Die Chancen für einen dritten Anlauf sehen besser aus. Und kein Diktator herrscht ewig, dafür wird schon das Schicksal sorgen.
Michail Schischkin, 1961 in Moskau geboren, studierte Germanistik und Anglistik. 1995 zog er in die Schweiz.Er lebt in einem kleinen Ort bei Basel, kehrt oft nach Moskau zurück und nimmt Anteil an der politischen Entwicklung. Seit 1994 publiziert er Romane und Essays; das deutsche Publikum entdeckte ihn 2011, als er den Internationalen Literaturpreis – Haus der Kulturen der Welt für den Roman „Venushaar“ erhielt. Gerade verbrachte er ein Jahr als Stipendiat des DAAD in Berlin. Zuletzt erschien sein Roman „Briefsteller“ (DVA, München 2013). Der Berliner Autor Manfred Flügge, der das Gespräch geführt hat, kennt Schischkin seit einem gemeinsamen Aufenthalt in der Villa Mont Noi an der französischbelgischen Grenze. Sein Buch „Muse des Exils – Das Leben der Malerin Eva Herrmann“ erschien 2012 bei Insel.
“Als russischer Autor darf man nicht schweigen”
Das Gespräch mit Michail Schischkin führt Martha Schmid.
“Frankfurter Rundschau”, 03.04.2013
Keine Propaganda für Putins Regime: Michail Schischkin verweigert in einem offenen Brief die Teilnahme an der New Yorker Buchmesse. Er schäme sich für die Entwicklung in seinem Land, begründet der Schriftsteller. Das Schreiben sorgt für Aufsehen.
Der seit 1995 in Zürich, Moskau und Berlin lebende russische Schriftsteller Michail Schischkin, 52, schämt sich für die Entwicklung in seinem Land und verweigert in seinem offenen Brief an die Föderale Agentur für Presse und Massenkommunikation seine Teilnahme an der offiziellen Schriftstellerdelegation für die New Yorker Buchmesse BookExpo America vom 30. Mai bis 1. Juni
Herr Schischkin, Sie haben wichtige russische Preise erhalten, zuletzt für Ihren inzwischen in 26 Sprachen übersetzten Roman Briefsteller den hochdotieren Preis Bolschaja Kniga, das große Buch. Nun lehnen Sie aus „ethischen Erwägungen“ die Einladung zur Teilnahme an der offiziellen russischen Schriftstellerdelegation unter Hinweis auf die Situation im letzten Jahr ab. Warum? Was hat sich so sehr geändert in Russland?
Die Ereignisse des letzten Jahres haben die Situation in Russland stark verändert. Anstoß der Protestbewegung waren die verfälschten Parlamentswahlen. Auch die Präsidentschaftswahlen wurden zur Farce. Die Verachtung der total korrumpierten Macht dem eigenen Volk gegenüber hat die Menschen empört. Anstatt in Dialog mit der Opposition zu gehen, hat das Regime die „Schrauben angezogen“. In den letzten Monaten hat die Regierung der entstehenden Zivilgesellschaft den Krieg erklärt. Die illegitime Duma verabschiedet Gesetze, die das Land in das Mittelalter zurückwerfen. In Gefängnissen sitzen Dutzende politische Häftlinge. Die Gerichte sind zu Handlangern der Machthabenden geworden. Und das staatliche Fernsehen, die einzige Informationsquelle für die Mehrheit der Bevölkerung, baut das alte Weltbild wieder auf: Russland, das Heilige Land, ist von Feinden umzingelt; nur der starke Mann Putin kann dem Chaos und dem Westen widerstehen; die Unzufriedenen sind allesamt Agenten des Westens. Dieses offizielle Russland will ich nicht vertreten.
In den letzten Tagen sind Nichtregierungsorganisationen wie auch die Friedrich-Ebert-Stiftung in Moskau und die Konrad-Adenauer-Stiftung in St. Petersburg durchsucht worden. Ist das ein Beispiel für die Auswirkungen der jüngsten Gesetze?
Genau. Hunderte und Tausende von NGOs in Russland wurden über Nacht zu „ausländischen Agenten“. Die Worte haben ja den Beigeschmack der Stalin-Zeit! Die deutschen Stiftungen haben den Dialog mit Putins Regierung gesucht und nun wurden deren „Agenten“-Computer beschlagnahmt.
Sie bezeichnen das russische System als Diktatur des 21. Jahrhunderts. Wie sieht diese Diktatur aus?
Ja, wir haben in Russland eine Diktatur des 21. Jahrhunderts: Die Grenzen sind offen und alle, die mit dem Regime unzufrieden sind, können gehen. Die Mehrheit der Bevölkerung wird durch das Fernsehen manipuliert und die Intellektuellen sind verbannt in das Internet-Ghetto. Auf den oppositionellen Webseiten können sie unbehelligt ihren Frust austoben, aber das Fernsehen verbreitet in dem gigantischen Land nur die Information, die das Regime für nötig hält.
Wir haben eigentlich eine sehr eigenartige Situation: zwei Nationen, die sich Russen nennen, russisch sprechen und das gleiche Territorium bewohnen, aber mental ganz unterschiedlich sind. Der größte Teil der Bevölkerung glaubt dem Fernsehen, dass das Ausland das einzige Ziel hat, Russland zu vernichten, und nur der Vater der Nation es retten kann. Der viel kleinere Teil der Bevölkerung lebt vor allem in den Großstädten, hat höhere Bildung und ist bereits viel in der Welt gereist. Dieses Russland meint, dass wir uns den europäischen liberalen Werten schnellstens anschließen müssen. Diese Russen glauben, dass wir zur Weltvölkerfamilie gehören und die demokratische Gesellschaftsordnung auch bei uns einführen müssen.
Fürchten Sie, dass die Schriftsteller gezielt zu politischen PR-Zwecken aus dem ,Ghetto‘ herausgeholt werden?
Die Föderale Agentur für Presse und Massenkommunikation, unser Propaganda-Ministerium, hat die Aufgabe, das ins Schwanken gekommene Image von Putins Russland zu polieren, dazu bieten sich die Internationalen Buchmessen sehr gut an. Es ist die Pflicht jeden Staates, eigene Schriftsteller im Ausland zu unterstützen, Beiträge für die Übersetzungen zu zahlen, Autoren zu Buchmessen einzuladen etc., aber das Regime in Russland missbraucht die Schriftsteller zu seinen Zwecken. Als Teil einer offiziellen Delegation repräsentiert man ja nicht nur sich selbst und seine Bücher, sondern auch das offizielle Russland. Ich will „das menschliche Antlitz“ des Regimes nicht spielen und werde meine Bücher am russischen Stand nicht unter Putins Porträt vorstellen. Ich will nicht missbraucht werden.
Wie haben Ihre russischen Schriftstellerkolleginnen und -kollegen auf Ihren Brief reagiert?
Es hat mich sehr gefreut, dass mein Brief in Russland wie eine Bombe einschlug. Offensichtlich habe ich den Nerv der heutigen Gesellschaft getroffen und die scharfe Diskussion über das Verhalten der Intellektuellen dem Regime gegenüber provoziert. Leider haben wir in der letzten Zeit oft erlebt, dass bekannte Theaterleute, Dirigenten und andere Künstler öffentlich ihre Loyalität gegenüber Putin bekundet haben. Die kulturellen Einrichtungen hängen vom Staat ab und jeder hat Angst vor Putins Rache. Deshalb war ich sehr froh, dass mein Brief eine Welle von Unterstützung ausgelöst hat.
Auf der Webseite von „Radio Echo Moskau“, der Hauptinformationsquelle für die Intellektuellen, wurde eine Befragung durchgeführt und 90 Prozent der Befragten haben meine Position unterstützt. Die öffentliche Unterstützung kam von den Menschen, deren Meinung für mich bedeutend ist, wie von Boris Akunin, dem wichtigsten oppositionellen Schriftsteller. Die Schriftsteller, die mit der offiziellen Delegation zu der Buchmesse nach Amerika gehen wollten, hat mein Brief vor ein Problem gestellt. Am klarsten hat das Olga Slawnikowa formuliert: Schischkin ist frei und kann frei entscheiden, aber „wir hier sind Geiseln der Macht“. Leider richtet sich der Frust mancher Autoren in Russland nicht gegen das Regime, das sie als Geiseln genommen hat, sondern gegen den Autor des Briefes mit der Absage, dieses Regime zu repräsentieren. Das ist ein bekanntes Phänomen: Die unfreien Menschen können einem freien seine Freiheit nicht verzeihen.
Sie beschreiben in Ihrem Brief einen Gegenentwurf zum aktuellen Russland. Diese Utopie liest sich wie die Verfassung etwa der Schweiz oder Deutschlands. Was aber kann denn Russland nun zur Demokratie führen?
Ich will ein anderes, freies Russland repräsentieren, ein Land mit freier Presse, freien Wahlen und freien Menschen. Und die einzige Waffe der Opposition in Russland ist die Information, das freie Wort. Schreiben und Lesen in Russland ist jetzt wie früher der Kampf für die menschliche Würde. Ohne die Texte, die im Internet geschrieben und gelesen werden, wäre die Protestwelle der letzten Monate in Russland nicht möglich. Wichtig ist, dass immer mehr Menschen in Russland freie Information bekommen. Als russischer Autor darf man nicht schweigen. Ich glaube, nur das freie Wort kann Russland zur Demokratie führen.
Offener Brief an die Föderale Agentur für Presse und Massenkommunikation
27.2. 2013
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich danke Ihnen für die Einladung, an den Veranstaltungen der offiziellen russischen Delegation auf der internationalen Buchmesse «BookExpo America 2013» vom 30. Mai bis 1. Juni dieses Jahres in New York teilzunehmen.
Mir ist klar, dass die Teilnahme an einer solchen Buchmesse sehr wichtig für einen Schriftsteller ist, da sie zur Verbreitung seiner Bücher in Amerika und anderen Ländern beiträgt. Sie bietet einmalige Möglichkeiten, Kontakte zu amerikanischen Verlegern und Lesern zu knüpfen, zumal der englischsprachige Buchmarkt für Autoren aus Ländern wie Russland nach wie vor praktisch unzugänglich ist. Dies gilt um so mehr, als sämtliche Kosten für Reise und Unterbringung in den USA, Flug usw. (und das ist ein ordentlicher Betrag) von offizieller russischer Seite übernommen werden.
Nichtsdestotrotz lehne ich das Angebot ab. Und zwar nicht, weil «mein Terminkalender es nicht erlaubt», sondern aus ethischen Erwägungen.
In der Vergangenheit habe ich mehrmals ähnliche Angebote angenommen, als Teilnehmer russischer Autorendelegationen internationale Buchmessen zu besuchen, aber die Situation hat sich im letzten Jahr verändert.
Jedes beliebige Land, das etwas auf sich hält, unterstützt durch verschiedene Stiftungen und Organisationen die Verbreitung der Werke seiner Schriftsteller im Ausland, fördert Übersetzungen, lädt ein zur Teilnahme an internationalen Buchmessen usw. In Norwegen ist zum Beispiel Norla dafür zuständig, in der Schweiz ist es Pro Helvetia. Selbstverständlich repräsentiert ein Schriftsteller, wenn er an einer offiziellen Delegation teilnimmt, nicht nur sich selbst und seine Bücher, sondern auch sein Land, seinen Staat.
Die politische Entwicklung Russlands, und besonders die Ereignisse des letzten Jahres, haben zu einer für seine Bürger und seine große Kultur absolut unannehmbaren und erniedrigenden Situation im Land geführt. Als Russe und als russischer Staatsbürger schäme ich mich ob der Ereignisse in meinem Land. Wenn ich als Teilnehmer einer offiziellen Delegation eine Buchmesse besuche und von den Möglichkeiten profitiere, die sich dadurch für mich als Autor eröffnen, verpflichte ich mich gleichzeitig dazu, den Staat zu repräsentieren, dessen Politik ich als schädlich für das Land ansehe, ein offizielles System, das ich abstoßend finde.
Ein Land, in dem ein kriminelles, korruptes Regime die Macht ergriffen hat, in dem der Staat eine Verbrecherhierarchie ist, in dem sich Wahlen in eine Farce verwandelt haben, in dem die Gerichte den Machthabern dienen und nicht dem Gesetz, in dem es politische Gefangene gibt, in dem das Staatsfernsehen zur Hure gemacht wurde, in dem Usurpatoren stapelweise wahnsinnige Gesetze verabschieden, die die Gesellschaft ins Mittelalter zurückversetzen, ein solches Land kann nicht mein Russland sein. Ich kann und will nicht an einer offiziellen russischen Delegation teilnehmen, die dieses Russland repräsentiert.
Ich will und werde ein anderes, mein Russland vertreten, ein von den Usurpatoren befreites Land, ein Land, dessen Behörden nicht das Recht auf Korruption schützen, sondern die Rechte des Individuums, ein Land mit freien Medien, freien Wahlen und freien Menschen.
Selbstverständlich ist das meine persönliche Entscheidung, die ich nicht mit den anderen nach New York eingeladenen Autoren abgestimmt habe – jeder Mensch ist frei, entsprechend seinen eigenen Vorstellungen von Ethik und Zweckmäßigkeit zu handeln.
Mit freundlichem Gruß
Michail Schischkin
Über die Grenze
Von Michail Schischkin
Das erste Mal kam ich im Sommer 1989 in den Westen. Ich erinnere mich sehr gut an das wunderbare Gefühl beim Grenzübertritt. Es in Worte zu kleiden, gelang mir allerdings erst, als ich später in den Briefen eines russischen Reisenden von Nikolai M. Karamsin auf diese Sätze stieß: „Es scheint, als hätte die hiesige Luft etwas Belebendes. Ich hole leichter und freier Atem, ich trete fester auf, mein Kopf erhebt sich mehr, und mit Stolz denke ich daran, dass ich ein Mensch bin.“ Diese Worte wurden genau 200 Jahre vorher geschrieben, im Jahre 1789. Offenbar gibt es im Bild der Russen von ihrem Vaterland etwas Konstantes.
Andere Ländergrenzen hatte ich schon früher passiert: Ich war bereits in Ungarn, der Tschechoslowakei und der DDR gewesen, aber das waren ja keine richtigen Grenzen. In den Ländern des „sozialistischen Lagers“ hatte ich absolut nicht mit Stolz daran gedacht, dass ich ein Mensch bin. Schließlich waren wir in diesen Ländern die Besatzungsmacht. Selber Sklaven, hielten wir uns auch andere als Sklaven.
Ich verbrachte damals eine Woche bei Freunden in Ostberlin und ging jeden Tag über die Mauer auf die Westseite. Denn ich kam aus einem Land, in dem die Perestroika auf der Tagesordnung stand, und hatte ein Visum für die Bundesrepublik in meinem Pass. Meine Berliner Freunde wunderten sich, beneideten mich und ärgerten sich. Ich versuchte, sie davon zu überzeugen, dass auch sie bald frei sein würden. Sie glaubten es nicht. Ich weiß noch, wie ich mir die Mauer von der Westseite besah: weit und breit kein Wachposten; wem es gerade einfiel, der hinterließ Graffitis. Ich borgte mir bei jungen Leuten eine Spraydose mit grüner Farbe und schrieb auf Russisch: „СКОРО! BALD!“ Ich habe bis heute ein Foto davon. Wie ich Buchstaben auf die Mauer male. Noch ohne ein einziges graues Haar. Ich war jung und glücklich, sonderlich bewusst war ich mir dessen nicht.
Ich bin im Jahr des Mauerbaus geboren. Aber die Mauer war nur für den Westen das sichtbare Symbol der Grenze. In unserer Kindheit war die Grenze unsichtbar. Und sie zog sich nicht durch das Land, sondern durch jeden Einzelnen. Wenn ein Mensch im Gefängnis geboren wird und aufwächst, bleibt der Stacheldraht in seiner Seele. Meiner Generation, geboren und aufgewachsen im Gefängnis, hat man die Freiheit gegeben, aber den Stacheldraht hat man nicht aus der Seele entfernen können.
Ende der achtziger Jahre war die Zeit der Hoffnungen: Man konnte zusehen, wie das Gefängnis zerfiel. Verbotene Bücher wurden ge-druckt. Man konnte auf einmal sagen, was man denkt. Auch im wörtlichen Sinn kam die Freiheit: Mein Bruder kehrte aus Iwdel zurück, einer Strafkolonie im Nordural. Er war 1984 verhaftet worden, unter Andropow, als sie die Schrauben anzogen. Damals fürchtete das ganze Land, das werde lange anhalten. Wenn unsere Generalsekretäre eine robustere Gesundheit gehabt hätten, würden wir noch heute im „entwickelten Sozialismus“ leben und die Parteitage der KPdSU feiern. Aber 1989 kam mein Bruder vorzeitig frei. Meine Mutter hatte auf ihn gewartet und starb erst danach. Sie hatte schon ein paar Jahre Krebs, quälte sich entsetzlich, wollte unbedingt sterben, brachte es aber nicht über sich, wollte noch Saschas Rückkehr erleben.
Symbol der neuen Freiheit war das Visum: So wirkte sich der Fall des Eisernen Vorhangs konkret aus. Weder mein Vater noch meine Mutter hatten je die Grenze überschritten. Die richtige Grenze. Mein Vater witzelte: „Ich bin wie Puschkin.“ Das war als Trost gemeint. Puschkin hat man auch nicht aus dem Land gelassen, na und, er verbrachte sein ganzes Leben in Russland, das hat ihn nicht im Geringsten daran gehindert, zum Stolz der Nation zu werden. Dabei war mein Vater in Wirklichkeit doch im Westen gewesen, gegen Ende des Krieges, in Finnland. Auf einem der dort stationierten sowjetischen U-Boot-Stützpunkte. Mit achtzehn Jahren war er als Freiwilliger in den Krieg gezogen, um, wie er sagte, seinen Bruder zu rächen. Sein älterer Bruder Boris war im Sommer 1941 irgendwo in Karelien bei Kandalakscha umgekommen, ich habe bis heute den fremdartigen Ortsnamen im Ohr. Ich erinnere mich, wie mir Großmutter den unleserlichen Zettel mit der „Benachrichtigung“, dass ihr Sohn verschollen sei, zeigte und wie sie sich die Tränen abwischte. In ihrem Zimmer hingen Fotos von ihm. Als Kind war ich stolz auf meinen Onkel Borja, er war ein Held, er hatte gegen die Faschisten gekämpft.
Aber noch stolzer war ich auf meinen Vater. Während des Krieges war er U-Boot-Matrose in der Ostsee. Ich malte sein U-Boot „Schtschuka-310“, das an der Wand hing, in mein Schulheft und freute mich sehr, wenn Vater am 9. Mai, dem Tag des Sieges, seine Matrosenuniform herausholte und sich mit all seinen Auszeichnungen schmückte. Die Uniform nähte er wegen seines stetig wachsenden Bauchumfangs Jahr für Jahr um. Erst als Erwachsener begriff ich, dass Vater in den Jahren 1944/45 deutsche Schiffe versenkt hatte, die Flüchtlinge aus Riga und Tallin evakuierten. Hunderte, wenn nicht Tausende kamen im Wasser der Ostsee um, dafür hatte Vater seine Auszeichnungen bekommen. Heute bin ich nicht mehr stolz auf ihn, verurteile ihn aber auch nicht. Er hat sich für seinen Bruder gerächt. Es herrschte Krieg, und mein Vater war in diesem Krieg auf der Siegerseite.
Vor kurzem, im vorigen Jahr erst, habe ich erfahren, dass mein Onkel Borja damals, im Sommer 1941, nicht umkam, sondern in Gefangenschaft geriet. Ich war auf der Präsentation der norwegischen Über-setzung meines Buches Venushaar in Tromsø und sah in dem dortigen Museum eine kleine Ausstellung zu den Kriegsgefangenenlagern der Deutschen. Sie evakuierten bei ihrem Rückzug aus Finnland ihre Lager in das Gebiet von Tromsø. Das Wort aus der Kindheit fiel mir wieder ein: Kandalakscha. Meine Übersetzerin half mir, eine Anfrage an die norwegischen Archive zu richten. Auf Anhieb fand sich eine Kopie der Karteikarte des Kriegsgefangenen Boris Schischkin, man sandte sie mir per Mail zu. Stalag 309. Man hatte ihn, stand auf der Karte, aufgrund einer Denunziation im Juli 1942 erschossen.
Mich erstaunte, dass jemand auf dieser Karte auch eine handschriftliche Übersetzung ins Russische hinzugefügt hatte. Es stellte sich heraus: Alle diese Archive waren nach dem Krieg nach Russland überführt worden und werden bis heute in Podolsk bei Moskau aufbewahrt. Nach der Perestroika waren sie kurze Zeit zugänglich, westliche Historiker kopierten sie. Da hatten meine Großmutter und mein Großvater also so lang gelebt und nichts vom Schicksal ihres Boris erfahren. Das Land, für das Boris starb, ihr eigenes Land, hatte ihnen all das verheimlicht.
Die Informationen über sowjetische Kriegsgefangene wurden der Bevölkerung vorenthalten, Krieg ist Krieg. Und in Wirklichkeit führte der Staat ja Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Meine Angehörigen, die Menschen, an denen mir am meisten liegt, haben ihr ganzes Leben in einem Gefängnis gelebt, in einem Land, das sie ausnutzte und verachtete.
In der Perestroikazeit, als die Lebensmittel knapp wurden, bekam Vater als Veteran Lebensmittel zugeteilt, die Spenden kamen aus Deutschland. Das empfand er als eine persönliche Demütigung. Seine Freunde und er hatten sich ein Leben lang als Sieger betrachtet, und nun sollte er von den Almosen des besiegten Feindes zehren müssen. In seinen Augen war der Zusammenbruch der Sowjetunion eine Niederlage in demselben Krieg, den er damals mit dem ganzen Land zusammen geführt hatte. Mein Vater hasste Gorbatschow. Ich mochte Gorbatschow auch nicht, aber nicht deshalb, sondern weil er den Zusammenbruch der UdSSR und des ganzen sowjetischen Systems mit aller Macht aufhalten wollte. Mein Vater und ich betrachteten die Geschichte, die sich vor unseren Augen abspielte, von verschiedenen Ufern. Wir waren einander schon lange nicht mehr nah.
Vater trank. Das war die Krankheit der Generation, die den Krieg erlebt hatte. Er war achtzehn, als er monatelang in einem U-Boot hockte, in ständiger Angst, in diesem Eisensarg unterzugehen. So etwas lässt einen das ganze Leben nicht mehr los. Ich weiß noch, wie ich ihn als Geste der Versöhnung zu meiner Hochzeit einlud. Er betrank sich, zettelte eine Schlägerei an, ein Freund und ich mussten ihn packen und mit dem Taxi nach Hause bringen. So etwas konnte ich ihm schwer verzeihen.
Der August 1991 war ebenfalls ein Einschnitt zwischen der widerlichen sowjetischen Vergangenheit und einer, wie es damals aussah, lichten Zukunft voller Hoffnungen. Wir glaubten, das 20. Jahrhundert sei für unser Land über Gebühr blutrünstig gewesen, nun breche ein menschliches Leben nach neuen Gesetzen an, nach Gesetzen, die die Menschenwürde respektieren. Aber die Hauptsache war: Es würde kein Blutvergießen mehr geben. Dass der Militärputsch, der das Leben Tausender Menschen hätte kosten können, fast ohne Blutvergießen ausging, war ebenfalls symbolisch. Das Land bezahlte die Freiheit mit dem Tod dreier junger Männer. Wir gingen zu ihrem Begräbnis. Symbolisch war auch, dass es sich dabei um einen Orthodoxen, einen Moslem und einen Juden handelte. Auf der Beerdigung sagten alle, die drei hätten ihr Leben für unsere gemeinsame Heimat, ein neues freies Russland geopfert. Und wir glaubten, das sei das letzte Blut gewesen, das in unserem Land fließt. Leider war es das erste Blut des neuen Russland. Die Zeit der Hoffnungen näherte sich ihrem Ende. Die Zeit der Enttäuschungen brach an.
Im Oktober 1993 nahm die neue „demokratische“ Macht schon selbst das eigene Volk in Moskau unter Panzerbeschuss. In den Straßen der russischen Städte floss unendlich viel Blut bei kriminellen Auseinandersetzungen. 1995 begann der Tschetschenienkrieg. Hinter der demokratischen Rhetorik des neuen Russland traten die Umrisse des alten, ewigen Russland hervor. Offenbar ist es das eherne Gesetz aller Revolutionen, dass sie von Menschen gemacht werden, die bereit sind, ihr Leben für die Freiheit ihres Landes, für die Menschenwürde zu opfern. Die Besten kommen um. Dann ergreifen Schufte und Geschäftemacher die Herrschaft, und das alte Lied beginnt.
Ich kann mich erinnern, mit welch gemischten Gefühlen ich die Ereignisse auf dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew im Fernsehen verfolgte. Die orangene Revolution! Es war eine Freude, die glücklichen Gesichter der jungen Leute zu sehen, die für ihre Menschenwürde auf die Straße gegangen waren. Und der Gedanke, dass sie in ein paar Jahren auf die Anführer, die sie auf den Platz geführt hatten, in ein paar Jahren schimpfen und sie verachten würden, war bitter. Leider kam es dann wirklich so. Die arabischen Revolutionen der letzten Zeit verlaufen nach demselben Muster. Sie werden von Menschen gemacht, die bereit sind, für Freiheit und Menschenwürde ihr Leben zu opfern, die Besten kommen um, und prompt beginnt das alte Lied. Wir werden es ja sehen.
1991 haben wir uns von der Kommunistischen Partei befreit, vermochten aber nicht, uns von uns selbst zu befreien. Der Eiserne Vorhang hatte die Welt einfacher gemacht. Die hermetisch geschlossenen Grenzen hatten den Behörden die Aufgabe, das Feindbild aufrechtzuhalten, erleichtert. Wir waren umzingelt von Feinden, und man musste alle Kräfte des Staates einsetzen, um unsere sakrosankten Grenzen zu bewachen. Die Heimat legte mehr Wert auf Panzer und Raketen als auf Jeans und Wurst. Es sah so aus, als sei der Westen auch an der alltäglichen sowjetischen Armut schuld.
Für uns, für meine Generation dagegen war alles Verbotene, Westliche ein Lichtblick, egal ob es um Musik, Film, Mode oder Ideologie ging. Nach der Devise: Die Feinde unserer Feinde sind unsere Freunde. Ich weiß noch, dass wir beim Eishockeyspiel den Kanadiern gegen unsere eigenen Leute die Daumen drückten. Sogar der Kampf um den Puck galt uns als Symbol des Kampfs der beiden Systeme. So war die Welt vor dem Sündenfall. Alles schien einfach und klar. Eine Bande von Kommunisten hatte unser Land an sich gerissen, und wenn man die Partei zum Teufel jagte, würden sich die Grenzen öffnen, und wir würden in die Weltfamilie der Völker zurückkehren, die in Übereinstimmung mit den Gesetzen von Demokratie, Freiheit und Achtung der Rechte des Individuums leben. Die Worte Parlament, Republik, Verfassung, Wahlen klangen wie ein herrliches Märchen einer unerreichbaren Zukunft.
Wir bedachten irgendwie nicht, dass wir all diese Worte in Wahrheit schon kannten: Stalins Verfassung von 1937 war „die demokratischste der Welt“, und auch zu Wahlen gingen wir regelmäßig. Wir hatten vergessen, dass alle schönen Worte, wenn sie über die Grenze unseres Vaterlands dringen, ihren ursprünglichen Sinn einbüßen und alles Mögliche heißen, nur nicht das, was sie eigentlich bedeuten. Wer hätte damals gedacht, dass die Kommunistische Partei abtritt und wir bleiben und all diese schönen Worte – Demokratie, Parlament, Verfas-sung – sich nur als Knüppel im unendlichen Gerangel um Macht und Geld im neuen freien Russland entpuppen sollten.
Seit der Revolution im August sind zwanzig Jahre vergangen. Wir leben längst in einer Welt ohne Grenzen. Ein russischer Schriftsteller kann in Amerika, in der Schweiz oder in der Antarktis wohnen. Wichtig ist nicht, wo einer wohnt, sondern was er schreibt. Ich bin aus familiären Gründen in der Schweiz gelandet und habe meinen Lebensunterhalt mit Übersetzungen verdient. Ein paar Jahre habe ich beim Migrationsamt des Kantons Zürich gearbeitet.
Bei den wenigen Begegnungen fragten mich meine Kollegen aus Russland immer verwundert: „Wie kannst du nur in dieser langweiligen Schweiz schreiben? Ohne russische Geschichten? Ohne die tagtägliche russische Anspannung?“ Sie hatten Recht: Die russische Literatur steht unter Hochspannung. Aber ich finde, der Schriftsteller gleicht einem Soldat, der gelobt, das Teuerste herzugeben, was er hat; im Gegenzug ist die Obrigkeit dann aber verpflichtet, ihn mit allem Notwendigen zu versorgen: mit Stiefeln, Ausrüstung, Essen. So hat mich die Obrigkeit in der Schweiz mit Geschichten und einer Spannung eingedeckt, die ich selbst in Russland schwerlich hätte finden können. Ich dolmetschte die Befragungen der Flüchtlinge aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Geschichten, die nicht schrecklich sind, gab es da nicht. Ich war in die Schweiz ausgereist und im Epizentrum des russischen Schmerzes gelandet. Die Befragungen der Asylbewerber konnten sich den ganzen Tag hinziehen. Das ist keine Arbeit im üblichen Sinn. Du trittst den Dienst an und gerätst für acht Stunden in die Hölle. Es kamen Russen, Mongolen, Usbeken, Tschetschenen. Alle, die einst zum russischen Kulturkreis gehört hatten.
Da sagt ein Mann, er sei gefoltert worden. Von weißrussischen Milizionären. Weil er seinen demokratischen Überzeugungen nicht abschwor. Er zeigt die ausgeschlagenen Zähne und die total verkrüppelten Hände: Man hatte ihm geschmolzenes Paraffin unter die Haut gespritzt. Es verbindet sich mit dem Fleisch, die Hände schwellen an, blähen sich zu unförmigen Kissen auf und werden dann steif. Der Beamte, der diesen Fall bearbeitet, muss entscheiden, ob diese Geschichte wirklich geschehen oder erfunden ist. Es ist ein hoffnungsloser Irrglaube, zu meinen, man könne entscheiden, ob ihn weißrussische Milizionäre wegen seiner Überzeugungen gequält oder ob seine Kollegen sich gerächt haben, weil er seine Schulden nicht zurückzahlen konnte. Klar ist allein: Man hat ihm tatsächlich das Paraffin unter die Haut gespritzt. Und zwar irgendwo im russischen Kulturkreis.
Ich werde nie die Familie vergessen, die aus einer großen Provinzstadt Russlands stammte. Der Vater behauptete, er habe gegen die Korruption der lokalen Behörden in seiner Region gekämpft. Seine Frau, die Kinder und ihn selbst habe man wiederholt auf der Straße zusammengeschlagen. Der jüngste Sohn war von einem Auto überfahren worden. Danach rief man ihn an und sagte ihm, das sei die letzte Warnung. Die Eltern fürchteten nun um das Leben des älteren Sohns und um ihr eigenes und ersuchten deshalb um politisches Asyl in der Schweiz. Später habe ich zufällig über Bekannte erfahren, die aus derselben Stadt stammten: Der Mann war Unternehmer und hatte einen Haufen Schulden, die er nicht zurückzahlen konnte. In Russland Unternehmer zu sein, ist eine heikle Angelegenheit. Wer seine Schulden nicht zurückzahlen kann, an dem statuiert man zu Zwecken der Abschreckung ein Exempel. Die Familie befand sich also tatsächlich in großer Gefahr. Aber wie fließend die Grenze zwischen einem erfolglosen Unternehmer und einem verfolgten Regimegegner ist, zeigt das Beispiel des Oligarchen Michail Chodorkowski oder des ehemaligen Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow, der mit seiner Frau die Einwohner seiner Stadt um etliche Millionen erleichtert hat und jetzt politische Anschuldigungen gegen den Kreml erhebt.
Der Beamte, der über das Schicksal des Flüchtlings zu entscheiden hat, ist nicht zu beneiden. Einer der Mitarbeiter, für den ich die Befragungen dolmetschte, hieß – unwahrscheinlich genug – Peter Fischer. Scheinbar ein nichtssagender Name, aber man assoziiert: Petrus, den Fänger von Fischen und Menschen, den Wächter des Paradieses. Denn sie bestürmen ihn, als wollten sie ins Paradies. Manche lügen und suchen sich durchzuschummeln. Einer hält ein Kind mit ausgerissenen Fingernägeln an der Hand. Und in ihrem Inneren tragen sie alle die Welt, aus der sie fliehen.
Aber die Prüfung des Asylgesuchs hat ein ganz anderes Ziel, als Menschen zu retten. Alle kann man nicht retten. Asyl wird nur gewährt, um zu zeigen, dass der Rechtsstaat einwandfrei funktioniert. Wollte man wirklich menschlich handeln, müsste man allen Leuten, deren Leben in Gefahr ist, Asyl gewähren. „Juristisch“ gesehen, muss man nur den „Politischen“ einen Rettungsring zuwerfen. Unter dem Deckmantel des „gesunden Menschenverstandes“ gebietet es ein erbarmungsloser Selbsterhaltungstrieb, nicht alle Rettung suchenden Russen oder Afrikaner in die westlichen Länder zu lassen. Alles läuft auf einen Kompromiss hinaus. Darum entscheidet die Quote. Letztlich hängt das Schicksal dieser Menschen von einer statistischen Quote ab. Es erhält nur eine ganz bestimmte Anzahl von Flüchtlingen pro Jahr einen positiven Bescheid.
In jeder der Geschichten, die dem Beamten erzählt werden, lassen sich problemlos widersprüchliche Details finden. Einen Anlass, die Ge-schichte als unglaubwürdig einzustufen und einen negativen Bescheid auszustellen, findet man immer. All das musste unweigerlich Grundlage für einen Roman werden. Mein Protagonist arbeitet als Dolmetscher in der „Flüchtlingskanzlei des Verteidigungsministeriums des Paradieses“. Nach dem Erscheinen des Romans Venushaar verlor ich den Job. Verständlicherweise. Ein Dolmetscher sollte nur eine körperlose Luftschwingung sein. Wer braucht einen Dolmetscher, der mehr ist als ein Dolmetscher?
Der Statistik zufolge begehen im „Paradies“ Schweiz täglich vier Menschen Selbstmord. Drei Männer und eine Frau. Offenbar hängen Glück und Unglück der Menschen weder mit den Grenzen noch mit dem Regime zusammen. Ich erinnere mich, wie meine Mutter mir vor ihrem Tod ihr Tagebuch zu lesen gab, das sie in ihrer Schul- und Studentenzeit geführt hatte. Es handelte sich um Aufzeichnungen vom Ende der vierziger und Beginn der fünfziger Jahre. Man weiß ja aus Büchern, was das für eine Zeit war: die angeklagten jüdischen Ärzte, die Jagd auf die sogenannten Kosmopoliten, Angst, Denunziationen, totale Armut. Eine finstere Zeit. Aber in dem Tagebuch fand sich nichts davon. In diesem Heft sieht man ein Mädchen, das glücklich ist, weil es wunderbare Bücher liest, glücklich, weil die Sonne draußen scheint, glücklich, weil es regnet. Sie lebt ganz in der freudigen Erwartung der Liebe. Einer ungeheuren Liebe, die ihr Leben ganz erfüllen soll. Sie ist überzeugt davon, diese Liebe wird kommen, wozu wäre sie sonst auf dieser Welt? Ich las und begriff nicht, wie sie derart naiv hatte sein können. Begriff sie denn gar nicht, was um sie herum geschah? Nach ihrem Tod vertraute ich das ganze Familienarchiv meinem Bruder an, bevor ich ausreiste. Mutters Tagebuch, die ganzen Fotoalben, die sie für uns und die Enkel zusammengestellt hatte. Sie hatte die Fotos, die sich in Tüten stapelten, eingeklebt, mit Überschriften versehen und am Rand irgendwelche Familiengeschichten notiert. Das Haus meines Bruders brannte ab. Nichts blieb erhalten, weder die Familienalben noch das Tagebuch.
Irgendwann begriff ich: Es handelte sich keineswegs um die Naivität eines jungen Mädchens, sondern um die tiefe Weisheit dessen, der sie auf diese Erde geschickt hat. Millionen von Jahren waren ohne sie verstrichen. Millionen Jahre werden ohne sie verstreichen. Sie kann nichts dafür, dass sie in jener Zeit und an jenem Ort auf die Welt kam und Finsternis antraf, ein Leben, das wir in eine Hölle verwandelt hatten. Sie aber war auf die Erde geschickt worden, um Liebe zu schenken. Wie eine Kerze erhellte sie mit ihrer Liebe die Finsternis für die Menschen um sich herum.
Traurig, dass du die wichtigsten Dinge im Leben erst zu verstehen beginnst, wenn die dir Nahestehenden schon aus dem Leben gehen und die wichtigste, die einzige Grenze übertreten, die uns wirklich voneinander trennt. Oder anders herum? Vielleicht ist das die letzte Grenze, deren Überwindung allein wahres Verständnis und wahre Nähe möglich macht? Und vielleicht kann ich, wenn ich jene letzte Grenze überschritten habe, bei meiner Mutter und meinem Vater um Ver-zeihung für all das bitten, wozu ich zu Lebzeiten nicht gekommen bin.
Wir werden ja sehen.
Das Imperium der Sprache: ein russisches Puzzle
Von Michail Schischkin
“Passagen – Passages: Pro Helvetia Kulturmagazin” 36, 2004
Man könnte es mit einem Puzzlespiel vergleichen: Allein betrachtet ist jeder Russe ein Unikum, ein Puzzleteil mit einer einzigartigen Form und einem einmaligen Bildchen, zusammengesetzt ergeben die Teile ein Imperium. Die Russen haben die Eigenart, sich stets zu einem Imperium zusammenzufügen, sei es nun zu einem orthodoxen, einem kommunistischen oder postkommunistischen oder wie auch immer.
Nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs gab es in Russland eine erste Demokratie, doch diese dauerte nur wenige Monate und artete schnell in eine allgemeine Anarchie aus, was den Kommunisten half, ihre Diktatur aufzubauen. Die ‚zweite russische Demokratie’ seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hält nun schon mehrere Jahre an und geht vor unseren Augen ihrem Ende zu. Die Bevölkerung ist zu erschöpft von dem Chaos und der Gesetzlosigkeit dieser Epoche ‚demokratischer Umwandlungen’, sehnt sich zu sehr nach Ordnung.
Dabei ist wichtig, dass das neue Putin’sche Imperium nicht gegen den Willen des Volks existiert, sondern dessen Wünschen und Vorstellungen entspricht. In Russland liebt man starke Zaren, die schwachen mag man nicht, verehrt werden die Tyrannen und gehasst jene, die die Tyrannei mässigen wollen. So war es mit Iwan dem Schrecklichen und Boris Godunow, so war es mit Stalin und Gorbatschow, und dies nicht etwa, da das hartnäckige Klischee auf die Russen zutrifft, sondern weil sie ihre Lehre aus der über Generationen hinweg gemachten Erfahrung mit dem Überlebenskampf gezogen haben: In Russland heisst die Alternative zur Diktatur nicht Demokratie, zu Unfreiheit nicht Freiheit, sondern Diktatur versus Anarchie, Ordnung versus Chaos.
Mit Beginn der Perestroika begann ich an einer Schule zu unterrichten. Russland ist eine umgestülpte Schweiz, dort zählt ein Lehrer mit seinem lächerlichen Gehalt auf der sozialen Leiter weniger als hierzulande ein Saisonnier. Mir schien damals, für Russland sei eine Zeit für ein neues Lebens angebrochen. Ein neues russisches Leben, so dachte ich, könne und müsse bei den Kindern anfangen, in der Schule. Ich widmete der Lehrtätigkeit sechs Jahre, doch dann gestand ich mir meine Niederlage zu und ging. Ich hatte mein Bestes gegeben und war gescheitert. Die Schule ist, genauso wie das Gefängnis oder die Armee, ein Spiegelbild des Landes. Ich versuchte, in der Schule ‚Demokratie einzuführen’, die Kinder verstanden dies aber nur als Diktatur ohne starke Hand. Etwas Ähnliches ist auch in Russland ganz allgemein vorgegangen.
In Russland hat stets eine Straflagermentalität geherrscht: Die zur Obrigkeit gehörenden Schufte bekommen die besten Pritschen in der Zelle, nehmen den Schwachen die Kleider und die Lebensmittel weg. Sie sorgen auch für die Ordnung, eine eigene, kriminelle Ordnung. Und wer im Gefängnis aufgewachsen ist, kennt keine andere Ordnung.
Das neue Russland erinnert in einem fort an das alte, allzu deutlich schimmern die ewigen russischen Kontraste durch die Masken des 21. Jahrhunderts hindurch: die Diebesbande der Oligarchen hat die Reichtümer des Landes an sich gerissen und denkt nicht daran, sie mit der armen, sich im Alkohol zugrunde richtenden Bevölkerung zu teilen. Das Geld, das sie machen, indem sie die Bodenschätze verhökern, lassen sie in den Westen fliessen, so auch in die Schweiz, es in Strassen, Spitäler oder Schulen im eigenen Land zu investieren, ist ihnen fremd.
Als Symbol dieser Beziehung zu sich selbst, zu seinem Volk und Land kann man auch den unlängst erfolgten Kauf des Chelsea Fussballclubs durch einen der russischen Neureichen anführen. Dies war eine dreiste Ohrfeige, die ein ehemaliger Komsomolzen-Funktionär seinem eigenen Volk erteilte. Wie viel Nützliches hätte man wohl mit diesen Millionen von Dollars in der russischen Provinz, die in Arbeits- und Wegelosigkeit versinkt, machen können? Für jeden Russen ist das eine Erniedrigung. Und wie soll man das jenen Schweizern erklären, die Geld, Kleider, alte medizinische Ausrüstung sammeln, um sie nach Russland zu schicken?
Auch die russische politische Demokratie der letzten Jahre bringt das zum Ausdruck. Die demokratischen Wahlen in Russland haben im Grunde gar keinen Sinn, sie spiegeln einfach die Innenpolitik wieder, und diese läuft auf einen Kampf der Mächtigen um ein Stück des Kuchens heraus. Die einfachen Wähler werden zwar an die Urnen gelassen, aber nicht an den Kuchen. An den Parlamentswahlen sind eigentlich nur die Kandidaten wirklich interessiert, verleiht doch ein Mandat zu einem Abgeordnetensitz vor allem einmal Immunität, was in Russland enorm wichtig ist, schliesslich bist du heute ein Magnat und herrschst über ein Aluminium- oder Erdölimperium, aber vielleicht morgen ein Sträfling auf seiner Lagerpritsche. Wir sehen das alles nicht zum ersten Mal.
Es heisst, dass Generationen vergehen müssten, um diesen mentalen Teufelskreis zu durchbrechen, um die sklavische Haltung sich selber wie auch dem andern gegenüber zu ändern, die in der Redewendung „bist du der Vorgesetzte, bin ich der Dummkopf, bin ich der Vorgesetzte, bist du der Dummkopf“ zum Ausdruck kommt. Doch wo, an welcher Stelle müsste dieser Kreis durchbrochen werden, wenn in Russland der Mensch bereits im Kindergarten und dann in der Schule nach diesem Prinzip erzogen und endgültig in der Armee danach geformt wird. Die Armee ist die wahrste Sklavenuniversität des Volkes: Im ersten Jahr wird aus dir ein Sklave gemacht und, willst du überleben, so wirst du auch einer, im zweiten Jahr dann bist du es, der aus anderen Sklaven macht, da du inzwischen bis tief in die Seele zu einem geworden bist.
Was ist es, das im neuen Imperium, das wie ein Phönix aus der Asche auferstanden ist, die Russen verbindet? Welche Ideologie? Keine. Die Freiheiten der letzten Jahre haben die Russen sehr vielfältig werden lassen. Ausser der Sprache und der Gemeinsamkeit der Schicksale verbindet sie nichts mehr: Das neue Russland ist ein besonderes ‚Imperium der Sprache’.
Die Zaren begründeten ihr Recht auf das Leben ihrer Untertanen damit, dass die Macht ihnen von Gott gegeben sei, die Kommunisten legitimierten ihre Parteidiktatur durch ‚wissenschaftliche’ Thesen wie etwa die folgende: „Die Lehre von Marx ist allmächtig, da sie wahr ist.“ Welche Götter nun können das neue Imperium ‚heiligen’, das nur auf der gemeinsamen Sprache gründet? Wer sind die wahrlich sakralen Figuren in Russland, die alle Regime und Ideologien überlebt haben? Die Dichter, die Schriftsteller. Puschkin stellte den Dichter in Russland den Zaren gleich.
Der Unterschied besteht darin, dass die Zaren einander ablösen, Puschkin aber ist geblieben, und jedes Regime ist bestrebt, durch eine überschwängliche Verehrung eines Dichters von diesem die ‚segnende’ Legitimation zu erhalten. «Puschkin, unser Ein und Alles!» tönte es 1937; während im ganzen Land der Terror wütete, wurde gleichzeitig mit viel Pomp und Glorie das Puschkin-Jubiläum begangen und sassen die Henker zitternd vor Angst hinter den Rednertribünen. Die Grandiosität, mit der nun im Putin’schen Russland das 200jährigen Jubiläum Puschkins gefeiert wurde, stellt sogar die Ehrenbezeigungen der Stalinzeit in den Schatten. Während die Regierung einen Krieg gegen das eigene Volk in Tschetschenien führt, ertönte es abermals von überall her: «Puschkin, unser Ein und Alles!»
Und trotzdem hat sich Russland inzwischen verändert. Im Antlitz meines Landes machen sich Züge bemerkbar, die ein von Grund auf anderes Bild ergeben. Mein Land hat sich geöffnet und ist anderen sogenannten demokratischen Ländern im Guten wie im Schlechten ähnlich geworden. Es ist ja nicht so wichtig, dass ich in der Schule nichts zu erreichen vermochte. Viel wichtiger ist, dass ich mit den Kindern so arbeiten konnte, wie ich es für notwenig hielt. Und wenn es mir nicht gelang, so war das meine persönliche Niederlage. Vielleicht war ich ganz einfach ein schlechter Lehrer. An meine Stelle in meiner Schule wird ein anderer junger Lehrer kommen, der vielleicht diesen verfluchten Teufelskreis der Sklaverei zu durchbrechen vermag. Und auch wenn er es nicht erreicht – wichtig ist, dass ihm die Möglichkeit gegeben wird, es zumindest zu versuchen.
Die Richtung, in die sich das neue Russland bewegt, ist leider all zu offensichtlich. Unabhängige Zeitungen und Fernsehkanäle müssen schliessen. Das Volk stimmt in den Wahlen nicht für das Programm der demokratischen Parteien, die eine Niederlage nach der anderen erleiden, sondern für die chauvinistischen Sprüche der radikalen und regierenden Kräfte. Noch kann ich in Russland alles kritisieren, was mir an ihm missgefällt, seine Kriege wie auch das Diebespack der Oligarchen, das Parlament wie den Präsidenten, so wie in jeder anderen Demokratie auch. Ich kann ein- und ausreisen, veröffentlichen, denken und sprechen. Ein solches Russland gab es zuvor noch nicht. Jetzt existiert es. Aber wie lange noch?
Ich bin ein Optimist und glaube daran, dass jeder neue Tag dieser Freiheit eine Garantie dafür ist, dass beim nächsten Mal die ‚dritte russische Demokratie’ noch länger währen wird.
Wege der Erniedrigung
«Essen ist etwas Natürliches, es macht Freude, ist leicht und angenehm und nicht beschämend von Anfang an; beim Geschlechtsverkehr ist alles sowohl ekelerregend wie auch beschämend und schmerzhaft. Nein, das ist nichts Natürliches!» Diese Worte legte Leo Tolstoi Posdnyschew in den Mund, dem Protagonisten seiner Kreutzersonate, der seine Frau umgebracht hat und in der Eisenbahn erzählt, wie es dazu gekommen ist. Der Text ist eine Kampfansage an die Natur und ihren Schöpfer, der da gesagt hat, seid fruchtbar und mehret euch. Eine Kriegserklärung an das unaufhaltsam vorwärts strebende Leben.
Das schwierige Verhältnis des grossen russischen Schriftstellers zur Sexualität mag einen westlichen Leser erstaunen, im Grunde ist jedoch die gesamte russische Kultur durchdrungen von einer Sexphobie. Einerseits zittern die männlichen Helden der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts in der Regel vor den Frauen und erweisen sich jeweils in den entscheidenden Momenten als Versager. Anderseits haben die holden Turgenjew’schen Mädchen und Frauen, die das Streben nach hohen Idealen den Niederungen der sinnlichen Freuden vorziehen, die Denkmuster und Vorstellungen ganzer Generationen von russischen Leserinnen geprägt.
Wahre Liebe ist im Raum der klassischen russischen Literatur nicht mit Geschlechtsverkehr vereinbar. Im Text der Texte, das heisst in Puschkins Eugen Onegin, lieben Tatjana und Onegin einander, doch körperliche Nähe ist zwischen ihnen nicht möglich. Ein gesundes Mass scheint sich in Russland nicht zu finden. Auf die Kreutzersonate, diesen passionierten Aufruf zur Selbsterlösung durch sexuelle Abstinenz, erwiderte Tolstois Frau Sophia Andrejewna mit einem eigenen Roman, in dem ein reines, nach Seelenheil strebendes weibliches Wesen von einem Mann und dessen sexueller Gier in den Sumpf der fleischlichen Liebe herabgezogen wird. Wäre sie nicht mit dem Verfasser von Krieg und Frieden und Anna Karenina verheiratet gewesen, so wäre aus ihr vielleicht eine erfolgreiche Romanautorin geworden, doch wie kann sich denn in der Federkunst versuchen wollen, wer den Schreibtisch mit Tolstoi in Person teilt? Ihr auf seine Art bemerkenswertes Buch, das nicht minder von Misstrauen, ja Hass auf die «tierische Geschlechtsvereinigung» geprägt ist, hat nie einen breiten Leserkreis gefunden.
Tolstois Plädoyer für die Enthaltsamkeit, seine Kampfansage an die körperliche Liebe, in der er eine Sünde sah, war nur die Spitze des Eisbergs, darunter verbarg sich ein der gesamten russischen Kultur innewohnender Hass auf den Körper. Das ständige Erwarten des Weltuntergangs, bestärkt durch die endlose Kette der kriegerischen Auseinandersetzungen innerhalb und ausserhalb des Imperiums sowie durch tägliche körperliche Gewalt in Familie und Staat, bildete den Nährboden für die im russischen Bewusstsein tief verwurzelte Abneigung gegenüber dem Sexuellen. Die russische Suche nach dem Heilsweg gedieh in religiösen Sekten, die unerbittlich waren gegen die körperliche Lust. In Europa hätte es wohl kaum zur Bewegung der Skopzen kommen können, die im Russland des 19. Jahrhunderts ein eigenes Phänomen darstellte. Die russischen Bauern verstanden die Beschneidung Jesu Christi als Kastration, sie wollten Christus imitieren, indem sie sich vom Bösen im eigenen Körper befreiten. In der Kastration sahen sie die notwendige Voraussetzung für die Errettung der eigenen Seele.
Das Amputieren der Geschlechtsteile wurde bei den Skopzen zur rituellen Praxis. Es gab zwei Stufen der Entmannung. Mit Bindfaden wurden die Hoden zusammengeschnürt und mit einem glühendheissen Messer abgeschnitten. Doch das war nur die erste Stufe, da damit die Wollust noch nicht besiegt war. Um sich endgültig von der Lust zu befreien, wurde das Glied gleich an der Wurzel weggeschnitten, und um das unkontrollierte Abgehen von Urin durch die Öffnung der Harnröhre zu verhindern, wurde ein Zinnzapfen hineingesteckt. Das Beschneiden der Frauen dem Ideal der Reinheit zuliebe liess eine grössere Vielfalt chirurgischer Eingriffe zu: Die Brustwarzen wurden abgeschnitten oder weggebrannt, oft die Brüste ganz amputiert, die Klitoris herausgeschnitten, die kleinen und grossen Schamlippen entfernt. Auch staatliche Verfolgungen konnten die Skopzen-Bewegung nicht aufhalten. Sie breitete sich in den zentralen russischen Gouvernements, aber auch bis nach Sibirien und in die Metropolen Moskau und St. Petersburg aus. Im Gegenteil: Dass die zaristische Regierung die Sekte zu unterdrücken versuchte, verlieh dieser die Aura des Märtyrertums. Ihre Anhänger konnten mit Sympathien in praktisch allen Gesellschaftsschichten rechnen.
Was viele ungebildete Russen auf ihre eigene Art auslegten und umsetzten, verstanden die gebildeten Schichten als Anleitung zum Handeln in einem übertragenen Sinn. Die sozialistischen Ideen, denen über so lange Zeit hinweg so viele Russen hingebungsvoll erlagen, schufen im Grunde auch so etwas wie eine religiöse Sekte. Verheissen wurde um den Preis der Selbstaufopferung die Erlangung des Seelenheils im Kampf für eine lichte Zukunft. Auch diese Ideen riefen nach einer Art von Kastration, allerdings keiner chirurgischen, sondern einer geistigen. Der fanatische Terrorist Sergei Netschajew formulierte für die russische Intelligenzia die Geschlechterbeziehung folgendermassen: Ein Revolutionär könne keine Familie haben, er sei mit der Revolution verheiratet. In diesem Sinn ist die gesamte progressive russische Kultur der vorrevolutionären Epoche skopzisch. Dem ausschweifenden Leben der russischen Bourgeoisie wurde die revolutionäre Moral der Selbstverleugnung entgegengehalten.
Sogar jene Weltanschauung in der russischen Kultur, die der Sexualität am offensten gegenüberstand, der Symbolismus des Silbernen Zeitalters um die Jahrhundertwende, liess Erotik nur in Worten gelten. Nimmt man diese Bewegung genauer unter die Lupe, erkennt man dieselbe Abscheu gegen das Tierhafte im Menschen. Das reale Leben dieser Künstlerbohème liess die alte skopzische Moral obsiegen. So bauten zum Beispiel die beiden berühmtesten Ehen des Silbernen Zeitalters, die zwischen dem Schriftstellerpaar Dmitri Mereschkowski und Sinaida Gippius sowie die zwischen dem Dichter Aleksandr Blok und Ljubow Blok, dem Prototyp von Bloks «schöner Dame», ganz auf einer asexuellen Verbindung auf. Ganz oben in der Hierarchie des Symbolismus stand der Begriff der «ewigen Weiblichkeit». Ihm lag nicht etwa das Bild der Frau als erotisches Wesen zugrunde, sondern die Vorstellung von einer sich selbst aufopfernden Natur der Frau, die aus dem russischen Slawophilentum übernommen worden war. «Die ewige Weiblichkeit» war das Sinnbild für eine ausschliesslich geistige Vereinigung. Das Hauptthema vieler von Frauen verfasster Bestsellerromane war zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Freitod der Heldin, die lieber stirbt, als mit dem geliebten Mann in den Pfuhl der Lust hinabzusteigen.
Die skopzisch körperverachtende Einstellung hielt mit der Machtergreifung der Kommunisten Einzug in die Staatsideologie. Als Vorbild für die neuen Geschlechterbeziehungen dienten selbstredend Lenin und seine Frau, die Krupskaja. An Lenin war wenig Männliches, an Nadjeschda Krupskaja wenig Feminines – und sie hatten selbstverständlich auch keine Kinder. Etwas vom Ersten, was die neue kommunistische Regierung tat, war, die Sprache selbst zu kastrieren: Die Anreden «Herr» und «Frau» wurden abgeschafft und dafür das neutrale «Towarischtsch» (Genosse) eingeführt. Zum Symbol für die Geschlechtslosigkeit des «neuen Menschen» wurde die lederne Kommissarsjacke. Der Kommissar hatte die Aufgabe, alle Feinde der Revolution zu beseitigen und für die lichte Zukunft zu sorgen, nicht aber, irgendwelche primären oder sekundären Geschlechtsmerkmale zu haben. Eines der populärsten Revolutionstheaterstücke war die Optimistische Tragödie von Wsewolod Wischnewski. Darin hört die den kommunistischen Ideen hingebungsvoll zugetane Kommissarin auf, ein erotisches Wesen zu sein: «Nun, wer noch möchte den Kommissarskörper versuchen?», fragt die Heldin, mit einer Mauserpistole über der Leiche eines Matrosen spielend, der versucht hatte, sie zu verführen. Klar, dass keiner mehr Wünsche anmeldet. Wenn es um die Erlösung der Welt und um das persönliche Seelenheil geht, gibt es kein Geschlecht: Geschlechtslose Matrosen und ihre geschlechtslose Kommissarin ziehen in die Schlacht und fallen, womit ihnen – Grund zum Optimismus – Unsterblichkeit gebührt.
Erst in den sechziger Jahren erwiderte der Regisseur Askoldow auf Wischnewskis Stück mit dem sehr eigenwilligen Film Die Kommissarin. Er lieferte so etwas wie die Fortsetzung der Optimistischen Tragödie, doch er liess die «eiserne» Kommissarin ihre lederne Jacke ausziehen, ein Kind zur Welt bringen und sie damit zu den universell menschlichen Werten zurückkehren. Der Film war im Westen bekannt, in der Sowjetunion blieb er verboten.
In den dreissiger Jahren, als Europa auf den Krieg zusteuerte, blühte in Deutschland der Kult des gesunden arischen Körpers, ein von patriotischen Müttern gezeugtes zukünftiges Futter für die Kanonen. Auch auf der Leinwand der sowjetischen Künstler und Filmregisseure erschienen Turner und Turnerinnen mit entblössten Körpern. Abermals handelt es sich um eine Form des «kastrierten» Körpers. Der Sport wurde im totalitären Regime der dreissiger Jahre nicht als persönlicher, individuell gestaltbarer Zeitvertreib verstanden, sondern als gesellschaftlicher Drill im Dienste der Weltrevolution. Die an den kommunistischen Feiertagen in strengen Kolonnen zu Tausenden über den Roten Platz marschierenden Athleten waren symbolische Soldaten, die Massensportvorführungen, die geboten wurden, waren eine theatralische Zurschaustellung der Bereitschaft dieser Menschen, ein kollektives Opfer zu bringen. Was man zu sehen bekam, war eine Parade von Geschöpfen, die einmütig zum Altar schritten und, trotz ihrer Nacktheit, keine Erotik ausstrahlten. Ihre Körper waren zwar entblösst, doch sie schienen keine Genitalien zu haben, die Unterhosen «entsexualisierten» sie. Der deutsche Nationalsozialismus hatte da weniger Schwierigkeiten: Viele Skulpturen und Gemälde zeigten, wenn auch idealisiert, nackte Körper. Der «arische Mensch» mit seiner Potenz zum Kinderkriegen wurde ein Vorzeigeobjekt.
Während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der nackte Körper völlig aus den sowjetischen Massenmedien verbannt. Joseph Brodsky schreibt in seinen Leningrader Erinnerungen, wie stark in der damaligen puritanischen Atmosphäre die vier Zentimeter entblössten Oberschenkels der jungen Parteidame auf dem Bild Die Aufnahme im Komsomol, das damals in fast jeder Schule hing, die Schüler sexuell erregte. Auch ich kann mich daran erinnern, wie eine Photographie in einem Pionierlager uns Knaben in Unruhe versetzte. Darauf war Soja Kosmodemjanskaja zu sehen, eine im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen gefangen genommene und erhängte Partisanin, nach der auch das Pionierlager benannt war: Im Schnee liegt eine junge Frau, der der Strick noch um den Hals liegt und eine Brust aus der Bluse schaut – die andere hatten ihr deutsche Schlächter abgeschnitten.
Die offizielle sowjetische Kultur war durch und durch asexuell. Der Körper und die Freuden der sinnlichen Liebe wurden mit den Verführungskünsten des kapitalistischen Westens in Verbindung gebracht. Auffallend ist auch, dass die antisowjetische Untergrundkultur es – angesichts der Greuel des Systems, das zu kritisieren sie sich zur Aufgabe gemacht hatte – ebenfalls für unmoralisch hielt, die eigene Sinnlichkeit auszuleben. Schalamows oder Solschenizyns Beschreibungen der Lagerliebe rufen im Leser einzig Widerwille und Ekel hervor. Mit der Perestroika eroberte der nackte Körper nach dem Vorbild des Westens die Kinoleinwand in rasantem Tempo. Doch es ist bezeichnend, dass im grössten Teil der neuen russischen Filme Liebesszenen Vergewaltigungen gleichen.
Ermattet im Teufelskreis
Zahlreiche Neuanfänge hat Russland im Lauf seiner Geschichte erlebt, doch das Land kommt aus der Misere nicht heraus. Die Russen haben als Erklärung dafür stets einen Sündenbock gefunden. Für Michail Schischkin, den Träger des russischen Booker-Preises 2000, hat sich diese Art Denken mittlerweile ad absurdum geführt.
«Wer ist schuld?» Diese Frage, die einst Alexander Herzen als Titel für seinen berühmten Roman wählte, hat in der Rangliste der russischen «ewigen Fragen» sei eh und je an vorderster Stelle gestanden, ja sie nimmt bis heute erfolgreich die Spitzenposition ein. Mit dem Wechsel der Generationen, der sozialen Systeme, der Ideologien, der Namen und der Grenzen des Landes hat sich der Inhalt dieser Schuld nur geringfügig verändert. Vor hundert Jahren wie auch heute schlägt sich jeder denkende Russe mit denselben Fragen herum: Wer trägt die Schuld am allgegenwärtigen Schlamassel – an den schlechten Strassen, am Sumpf der allgemeinen Korruption, an der Armut des Volkes und dem zusammengestohlenen Reichtum der Neureichen, an der Kluft zwischen der Bevölkerung und den Machthabenden, an der Verwahrlosung der Dinge und der zügellos wuchernden Kriminalität?
Nach wie vor beflügelt die Suche nach einem Feind das russische Denken. Wen hat man nicht alles auf die Anklagebank gesetzt! Vor der Revolution schleuderte die progressive Intelligenz ihre Flüche gegen den Zarismus – er knechte jegliche Freiheit; gegen die Kirche – sie verneble den Menschen die Sinne; und gegen das soziale Gefüge – es lasse die ungerechte Verteilung des Reichtums zu. Die schlichteren Gemüter schoben die Schuld an allem russischen Unheil, am Zerfall des Landes und an den Niederlagen im Krieg stets den Deutschen, die den russischen Thron umschwirrten, den Studenten und den Juden in die Schuhe. Und so erhielten im Fleischwolf der russischen Revolution die «Schuldigen» ihre «gerechte» Strafe: Die Mitglieder der Zarenfamilie wurden erschossen, die sozialen Hierarchien durch den Kommunismus ersetzt, die Popen gemartert und die Reichen, sofern sie im Land und am Leben geblieben waren, arm gemacht.
Da das Leben unter Stalins Sozialismus sich nun aber nicht etwa verbesserte, sondern im Gegenteil bedeutend verschlechterte, wurde die Suche nach den Schuldigen mit neuem Ingrimm fortgesetzt. Wieder waren es die Deutschen, die zum «Volksfeind» erklärt wurden – und mit ihnen gleich auch alle anderen Fremdstämmigen. Daneben mussten die «kosmopolitischen» Intellektuellen und wiederum die Juden, die nun, treu dem Zeitgeist, Zionisten genannt wurden, den Kopf hinhalten. Alle Fäden der Verschwörung gegen das russische Volk führten selbstverständlich ins Ausland, die Hauptanklage in jenen Jahren lautete auf Spionage für ausländische Geheimdienste.
Im Geist der Liberalisierung nach Stalins Tod machten sich Chruschtschews Ideologen auf die Suche nach neuen Feinden, die dem Volk eine humane Lebensweise verwehrten. Käfer aus Colorado wurden etwa für die zerstörte Kartoffelernte verantwortlich gemacht oder das Klima dafür, dass in einer «Zone riskanter Landwirtschaft» den Kolchosarbeitern nichts gedieh. Das Volk wollte aber nicht so recht an diese neuen Feinde glauben. Schliesslich ist das Klima etwas allzu Subtiles, man kann es nicht einsperren oder erschiessen, und die Käfer haben, das liegt ohnehin auf der Hand, die Amerikaner eingeschleust.
Als das kommunistische Regime ins Wanken geriet, schlug das russische Denken auf seiner Suche nach den Schuldigen in die entgegengesetzte Richtung aus: Nun waren die Kommunisten an allem schuld. Auch ich zweifelte damals nicht daran. Als ich siebzehn Jahre alt war, war ich fest davon überzeugt, dass das Land, das mir Tschechow und Brodsky geschenkt hatte, eines Besseren würdig sei als des Elends, das sich meinen Augen rundum darbot. Mir schien damals klar: Es war die kriminelle Bande der Kommunistischen Partei, die die Menschen mit Gewalt bezwungen hatte, meine Heimat dahinsiechen liess und auch mit zugrunde richten wollte, denn sie verlangte von mir nicht allein äusseren Gehorsam, sondern trachtete auch nach dem Inhalt meines Schädels. Hier jedoch lebte bereits mein eigenes Russland, das aus Büchern bestand, die wir heimlich kopierten und gegenseitig austauschten. Mein älterer Bruder, der im Büro Solschenizyn und Nabokov kopierte, wurde verhaftet und ins Gefängnis abgesteckt. Es konnte für mich keinen Zweifel geben: Wenn man Russland nur vom Kommunismus befreite, dann könnten die Russen in Freiheit ihre eigene menschenwürdige Existenz aufbauen. Unser Haus war ein Gefängnis, das es niederzureissen galt.
Vor der Wende erlebte man Geschichte im Zeitlupentempo. Der Greis im Kreml wollte und wollte nicht sterben. Dann drückte plötzlich der oberste Filmvorführer auf einen falschen Knopf, und vor unseren Augen lief die Geschichte in Zeitraffer ab. Der natürliche Trott der Dinge war gestört. In atemberaubender Geschwindigkeit wurden Parteisekretäre gekrönt und zu Grabe getragen. Normalerweise hätte ein jeder uns in mindestens fünf bis zehn Jahren in eine hehre Zukunft führen sollen. Dann kam aufs Mal der jüngste Bandenführer zum Zug. Er fühlte sich verpflichtet, die erlahmende Macht der Bande wieder zu stärken. Um der Herausforderung der Zeit auf militärischem Gebiet gewachsen zu sein, brauchte man westliches technisches Know-how. Eigentlich wollte man in den Eisernen Vorhang nur ein kleines Loch bohren, doch der Druck von innen war so stark, dass der Wall trotz aufwendigen Vorkehrungen riss. So passierte das, was noch kurz zuvor unvorstellbar gewesen war: der Kollaps des Systems.
Der über Generationen hinweg an Unterdrückung gewöhnten russischen Bevölkerung wurde über Nacht die schönste Freiheit geschenkt, das Leben in die eigene Hand zu nehmen und nach einem eigenen Schnittmuster zu schneidern – geschenkt, unerwartet, unverdient.
Ich war von Anfang an mit dabei bei den Kundgebungen, Protestzügen, Strassendiskussionen. Ich zwang meine Bekannten und Verwandten geradezu, aktiv zu werden, damit bei den Wahlen möglichst viele gegen die Kommunisten stimmten, denn ich meinte, gegen den Kommunismus zu kämpfen, bedeute für mein Russland zu kämpfen. Damals fühlte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben wunderbar einig mit meinem Land und meinem Volk. Und die Solidarität schien keine Grenzen zu haben: Die Berliner Mauer zerstob, Ceausescu wurde hinweggefegt, eine Leninstatue nach der andern fiel. Es war ein unglaubliches Gefühl, diese Art der Veränderungen in der Welt zu sehen und überzeugt zu sein: Auch du hast dem schweinischen System ein paar Fusstritte versetzt.
Nun setzten Reformen ein, doch das neue Russland, das sich über dem alten erhebt, hat in seiner Architektur eine seltsame Ähnlichkeit mit dem vorhergegangenen. Der Totalitarismus, das Imperium, das System, der Kommunismus, egal wie man es nennt: Wesentlich ist bei allen die Hierarchie der Macht, die sich kaum von derjenigen einer kriminellen Bande unterscheidet. Diese Ordnung war uns nicht einfach äusserlich, wie ich gedacht hatte, sie war in uns drinnen. Und es geschah, was unausweichlich geschehen musste: Die Menschen, die den Zwang in ihrer Seele, in ihrem Fleisch und in ihren Knochen trugen, bauten erneut ein gemeinsames Imperium auf. Ein Leben nach dem eigenen Schnittmuster.
Und wieder sitzt die Bevölkerung da und harrt der Dinge, die da kommen mögen. Sie hat wieder auf den Erlöser gewartet, der sie vor allem Übel befreit – und auf Putin gesetzt. Und wartet wieder. Die Strasse im Dorf sieht immer noch aus wie im 16. Jahrhundert, und in den Köpfen und Seelen lebt noch immer die Vergangenheit. In Russland gibt es keine Zeit. Der Filmvorführer hat die beiden Enden des Films zusammengeklebt und ist weggegangen. Und auf der Leinwand flackert stets dasselbe Bild: Die Feinde führen einen endlosen Krieg gegen das Vaterland.
Schliesslich braucht ein Imperium einen Krieg, das gehört dazu. Ohne Krieg kann das militärische Prinzip, das sich im Laufe der Jahrhunderte etabliert hat, die Ordnung in Russland nicht aufrechterhalten. Darin ist man sich einig, die Bevölkerung und die von ihr gewählte Obrigkeit. Je brutaler der Krieg in Tschetschenien geführt wurde, desto mehr Popularität genoss die Regierung. Indem das russische Volk Putin wählte, in vollem Bewusstsein und in freien Wahlen, entschied es sich für den Krieg. Demokratie, wie man sie in Russland handhabt, schliesst Kriminalität keineswegs aus.
Eine neue Generation ist herangewachsen, die die Vergangenheit nur wenig kennt, sich aber wiederum die gleiche Frage stellt: Wer ist schuld? Schuld an den schlechten Strassen, am Sumpf der allgemeinen Korruption, an der Armut des Volkes und dem zusammengestohlenen Reichtum der Neureichen, an der Kluft zwischen der Bevölkerung und den Machthabenden, an der Verwahrlosung der Dinge und der zügellos wuchernden Kriminalität? Wer ist schuld am Tschetschenienkrieg, wer an der Tragödie der «Kursk»?
Neue Zeiten – neue Feinde? Die neuen Feinde haben eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den alten. Nach überkommener Sitte vermutete man nun hinter der Herrschaft des Kommunismus eine zionistische Verschwörung. Studien, die peinlich genau die Zahl der Revolutionäre jüdischer Herkunft berechneten, überfluteten das Land. Dann wurde das Feindbild der Zionisten mit jenem der Demokraten getauscht. Und die ehemals imperialistische Verschwörung wich einer tschetschenischen. Den Platz des allmächtigen Feindes im Innern des Landes, der Kommunistischen Partei, hat schliesslich die Mafia eingenommen.
Doch was ist eigentlich die russische Mafia? Wo beginnt sie? Mit dem Drogengeschäft? Dem Erdölhandel? Der Moskauer Regierung? Mit Aeroflot? Dem Kreml? – Oft hört man von Schweizern, die in den letzten Jahren ihr Glück in Russland mit Handel versucht oder Entwicklungsprojekte aufgebaut haben, folgenden Vergleich: In Russland korrekt Geschäfte zu machen, sei, wie wenn man nach London komme und dort versuche, mit dem Wagen auf der rechten Strassenseite zu fahren. Wohl oder übel müsse man die Fahrbahn wechseln und sich den ortsüblichen Verkehrsregeln unterordnen. So kommt es denn auch, dass die Verteilung von Gütern und Geldern, die mitleidige Schweizer gesammelt haben, irgendwo in der russischen Provinz in kriminelle Hände gerät. Oder ein anderes Beispiel: Ein russischer Versicherungsagent einer Schweizer Firma kommt zum Direktor einer Fabrik und schliesst einen Lebensversicherungsvertrag für die gesamte Belegschaft ab. Die Prämien werden einem Sozialfonds entnommen, das heisst: Man hätte sie auch für einen Kindergarten oder bessere Verpflegung verwenden können. Die Kommission für den abgeschlossenen Vertrag teilen der Agent und der Direktor brüderlich. Das Protokoll ist voll des Lobes, wie man sich um das Leben der Arbeiter kümmere. In Wirklichkeit wird ein Jahr später, da die nächsten Prämien nicht eingezahlt werden, die Versicherung, von der die Angestellten nichts wissen, automatisch eingestellt. Die Prämien aus Geldern, die eigentlich den Arbeitern hätten zugute kommen sollen, bleiben auf ganz «legale» Weise auf dem Konto der Versicherungsgesellschaft in Zürich liegen. – Wer ist jetzt die Mafia?
In Russland hat stets eine Straflager-Mentalität geherrscht: Die zur Obrigkeit gehörenden Schufte bekamen in der Zelle die besten Pritschen und nahmen den Schwächeren die Kleider und die Lebensmittel weg. Sie sorgten auch für die Ordnung – eine eigene, kriminelle Ordnung. Und wer im Gefängnis aufgewachsen ist, kennt auch keine andere Ordnung. Diese Mentalität herrschte früher im Kreml, sie herrscht auch jetzt, und sie wird weiter herrschen.
Der Untergang als Existenz
SOS – das Lebensgefühl eines russischen Schriftstellers
NZZ, 13./14.02.1999
Stellen Sie sich die «Titanic» vor, so gross wie einen ganzen Kontinent. Sie geht unter und kann doch nicht ganz untergehen. Panisches Seufzen gehört immer mehr zum selbstverständlichen Umgangston. «Zu Hilfe, zu Hilfe!», so lautet das Leitmotiv der offiziellen Auftritte der Politiker, der Artikel der Journalisten sowie der Gespräche beim gemütlichen Zusammensitzen im Freundeskreis. Man rechnet dauernd mit einer Katastrophe, die alltäglichen Sorgen und Kümmernisse spielen sich vor dieser düsteren Kulisse ab. Die Rettungsboote sind längst schon davongeschwommen. Natürlich wäre es durchaus möglich, sich aus dem versinkenden Giganten durch einen Sprung ins offene Meer zu retten, aber wer springt schon gerne ins kalte Wasser, zumal ja nicht jeder die Kunst des Schwimmens beherrscht. Das Schiff ist am Versinken, im Salon jedoch spielt ein Orchester, allem zum Trotz, besingt die Freude und die Schönheit des Lebens. Und die Menschen sind nun einmal Menschen: man stirbt, man wird geboren. Der Horizont hinter dem Bullauge bäumt sich immer höher auf, je mehr Schlagseite das Schiff bekommt, aber die neuen Generationen sind immer neu davon überzeugt, dass der Horizont genau so liegen muss, nämlich quer zum gesunden Menschenverstand. Untergang als Zustand der Existenz, Endzeitstimmung als Lebenseinstellung.
Wenden wir uns dem kaum beachteten Orchester zu. – In der Sowjetunion stand längst nicht allen die Möglichkeit offen, gegen ein Entgelt die Freude am Leben zu besingen. Wer offiziell die kommunistische Apokalypse pries, erhielt für seine Mühen Datschen, Wagen, Auslandreisen und einen Platz auf einem Ehrenfriedhof. Denjenigen, die auf ihrer Lyra herumzupften, ohne dabei einen Mitgliederausweis für den Schriftstellerverband vorzeigen zu können, klopfte man auf die Finger, bisweilen wurde ihnen eine Gefängnisstrafe aufgebrummt, was ihren Liedern doch letztlich nur eine tiefere Dur-Tonart verlieh.
Die Auflagenhöhen besagten nicht das geringste. Sogar wenn von den Kolchos-Kriegsepen, die die Regale in den Buchhandlungen bevölkerten, tatsächlich etwas verkauft wurde, betraf dies den Autor nicht mehr – zwischen ihm und dem Leser thronte der Geheimdienst mit seinem offenen Ohr für alles, was mit Kultur zu tun hatte. Die öffentlich nicht zugelassenen Literaten mussten sich damit begnügen, gegenseitig ihre Manuskriptseiten auszutauschen oder sie am Küchentisch vorzulesen. Manchmal geschah es, dass vor dem Bullauge ein Slawist mit Engelsfittichen erschien. Dann flogen die Manuskripte in den Himmel und kehrten, von einer Stimme mit fremdländischem Akzent vorgetragen, trotz gestörtem Empfang in einer Radiosendung zurück. Ab und zu fiel dann auch mal etwas Handfesteres vom Himmel. Nabokov zum Beispiel gab Carl und Ellendea Proffer, den Herausgebern von Ardis, einem wichtigen amerikanischen Verlag für russische Literatur, Geld für ein Paar Jeans für Brodsky. Die russische Literatur führte ein eigenständiges, vom Leser unabhängiges Dasein. Das Orchester spielte seine Untergangsmusik nur für sich selbst in einem versinkenden Land.
Kaum hatte Gorbatschew die Kommandobrücke erklommen, verkündete er durch den Lautsprecher den gebeutelten Passagieren, dass das Weltende nun zu Ende sei. Dem Volk wurde unterbreitet, dass das untergehende Schiff gar nicht am Untergehen ist. Das Orchester blies die Fanfaren. Die Bevölkerung schöpfte Hoffnung, dass ihr Land sich doch eigentlich in nichts von der übrigen Welt unterscheide, dass es bloss ein bisschen in Rückstand geraten sei, wegen seiner Schlagseite, jetzt galt es nur, das Schiff wieder aufrecht zu stellen und es mit Volldampf die zivilisierte Welt einholen zu lassen. Ja es schien sogar, dass am Horizont die Scheinwerfer einiger Leuchttürme aufgeblitzt hätten und den Weg zur Zivilisation wiesen: Coca-Cola, Menschenrechte, McDonalds, Privateigentum, Mercedes-Benz, freier Markt und freie Wahlen, was immer man gerade unter dem löblichen Wort Zivilisation verstand. Und das Wichtigste: Blut sollte keines mehr fliessen.
Die Texte, die bisher verboten waren, wurden nun veröffentlicht. Die Auflagen der Literaturzeitschriften stiegen in Millionenhöhe. Man schwelgte in Literatur, man las, als ob damit einer grossen Sache gedient sei, als ob man damit sich und Russland retten könnte, man las, als ob jedes gelesene Wort das Schiff ein Stückchen aufrichtete und den Horizont in eine horizontale Lage rückte. Solschenizyn hatte ja seine Nobelpreisrede mit folgendem Satz beendet: «Das wahre Wort zieht die ganze Welt auf seine Seite.» Also las man, als gälte es, dadurch eine verkehrte Welt richtigzustellen, mit der man doch verwachsen war.
Den renommierten Literaturzeitschriften ging es nun gut, über fehlenden Absatz konnten sie sich keineswegs beklagen, Papier und Druckereien standen immer noch unter der Ägide des Staates und kosteten so gut wie nichts. Das Sowjetsystem hatte sich an die eigene Zerstörung gemacht und benutzte dazu das Wort wie ein Brecheisen, das es sich in den eigenen Leib rammte. Mit einem freien Buchmarkt hatte das alles allerdings wenig zu tun, und auf das Autorenhonorar hatte es so gut wie keine Auswirkung.
Dieses, mickrig wie es war, wurde zwar von der Inflation aufgebläht, aber der Wert des Geldes schwand noch schneller. Eine ganze Mannschaft von Rettungsslawisten wurde an Land gesetzt, sie verteilten Lebensmittelpakete, russische Bookerpreise und grants. Habt noch ein wenig Geduld, ihr Mitbrüder, munterte man sich gegenseitig auf, nur noch ein wenig, und dann wird das Land Puschkins und Dostojewskis in den Schoss wahrer menschlicher Werte zurückfinden, dann wird sich ein zivilisierter Buchmarkt etablieren, und alles wird gut sein. Und das Orchester spielte den Hoffnungsmarsch.
Vor den Bullaugen jedoch zeigte sich, dass die Schlagseite noch stärker geworden war. Es krachten die Balken im Schiffsrumpf, ganze Schiffsteile schwammen davon. Je mehr Blut in Tiflis, Abchasien, Ossetien, Tadschikistan, Tschetschenien floss, desto kleiner wurden die Auflagenhöhen der Literaturzeitschriften. Je unverschämter die Verbrechen an der Macht wurden, je öfter in düsteren Moskauer Treppenhäusern Pistolenschüsse widerhallten, je erbarmungsloser die nouveaux riches ihr geraubtes Hab und Gut der darbenden Bevölkerung zur Schau stellten, desto offensichtlicher wurde, dass der Glaube, dieses Schiff aus der verfahrenen Lage herauszumanövrieren, nur eine weitere Utopie war, ebenso, dass ein Wort, und sei es auch das allerwahrste, diese Welt zurechtbiegt. Die schwindelerregenden Auflagenhöhen von Novyj Mir und Znamja fielen auf ein paar wenige tausend, von anderen Literaturzeitschriften ganz zu schweigen, und die meisten Projekte wurden vom reichen Onkel aus Amerika namens Soros vorausfinanziert.
Die von den enttäuschten Hoffnungen aufgewühlten Passagiere haben sich inzwischen wieder beruhigt und sind erneut in eine Untergangsstimmung verfallen. Der ständig betrunkene Steuermann zerrt derart am Steuerrad, dass niemand daran zweifelt, dass das zu nichts Gutem führen kann. Der Kurs geht in Richtung Auferstehung des russischen Imperiums, die Funkzeichen melden: «Unsere japanischen Inseln geben wir nicht her», die Geschwindigkeit, mit der man untergeht, wird täglich ein bisschen erhöht. Der Präsident befiehlt seinen Beratern, eine neue Staatsideologie auszuarbeiten. Die Ideologie des neuen Russland erweist sich als die alte: Die Situation ist zwar schlimm, aber keine Angst, sie wird noch schlimmer!
Es gab verschiedentlich Optimisten, die immer noch dazu aufriefen, sich zusammenzureissen und am Schopf zu nehmen, dabei zeigten sie auf Moskau, das sei ein lebendiges Beispiel dafür, wie sich Russland in Richtung Zivilisation bewegen kann: ein blitzsauber gekehrtes Zentrum, zahllose Kasinos, die nagelneue, in Gold erstrahlende Christi-Erlöser-Kathedrale, Pizza Huts, für die Gorbatschew selbst Werbung macht. Aber da ist der Internationale Währungsfonds zur Besinnung gekommen und hat den Dollarhahn zugedreht, von Pizza Hut muss man sich jetzt trennen, nicht nur von Pizza Hut als Restaurant, sondern auch als Hoffnungsträger. Wie lustig und traurig zugleich: alle Preise sind wieder in die Höhe gegangen, die für Bücher ausgenommen, diese kauft man auch so nicht.
Im Laufe der vergangenen Jahre hat der Büchermarkt eine zwar nicht gerade zivilisierte, aber immerhin situationsgerechte Form angenommen: Wollte ein Autor von seiner Kunst gut leben, so musste er einst Kolchos-Kriegs-Schundliteratur produzieren, jetzt hingegen ist Bettgeschichten-Mafia-Lektüre gefragt. In denselben Kooperativwohnungen für Schriftsteller im Moskauer Stadtteil Aeroport, wo einst beflissen auf die Bedürfnisse der Kulturabteilung des Zentralkomitees eingegangen wurde, will man jetzt der Nachfrage eines guten Teils der Bevölkerung nach einer Liebe gerecht werden, die nicht von dieser Welt ist: Übersetzungen von Romanen aus Hollywood sollen es sein, zwischen glitzernden Buchdeckeln auf den Verkaufsständen schmachtend, doch verfasst werden sie von ehemaligen Mitgliedern des Sowjetischen Schriftstellerverbandes, für Kopeken – die Auflagenhöhe wird von den Verlegern zwecks Steuerersparnis geheimgehalten. Von einer Datscha, einem Wagen, einem Platz auf einem Ehrenfriedhof sollte man lieber gar nicht erst träumen.
Auch für jene, deren Bücher nicht gedruckt wurden, hat sich der Kreis geschlossen: Zwar lesen sie einander ihre Texte nun nicht mehr am Küchentisch vor, dafür halten sie Lesungen im Majakowski-Museum, sie tauschen nicht mehr ihre Manuskripte gegenseitig aus, sondern ihre mit dem eigenen Geld gedruckten Texte, deren Auflagenhöhe die der Gutenberg-Bibel wohl kaum übersteigt.
Das Leben in Russland läuft wieder in gewohnten Bahnen, die russische Literatur hat von neuem den ihr gebührenden Platz eingenommen: Niemand braucht sie, ausser sie sich selbst. Und natürlich ausser den Slawisten. Die russischen Sponsoren, die lauthals verkünden, sie wollten diese oder jene Veröffentlichung finanzieren, verschwinden mit der Zeit stillschweigend, wie ehedem sind es in erster Linie ausländische, westliche Kulturfonds, die die Literaturzeitschriften unterstützen, Preisverleihungen, Stipendien für russische Schriftsteller ermöglichen. Um so schlechter geht es denen, zu deren Bekannten kein Slawist gehört.
Kürzlich rief ich einen meiner Freunde an. Seine Erzählungen wurden zuvor in den renommiertesten russischen Zeitschriften publiziert, ein Einzelband kam heraus. Von Beruf ist er Chirurg, seine Frau arbeitet als Krankenschwester, die beiden haben zwei Kinder. Ihr gemeinsames Einkommen im Spital genügt nicht für den Lebensunterhalt, er erzählte mir, dass er jetzt abends und an den Wochenenden als Taxifahrer mit seinem alten «Moskwitsch» dazuverdient. Er sagte: «Du siehst, es ist alles in Ordnung.» Ich fragte ihn: «Ja und wann kommst du denn noch zum Schreiben?» Er lachte: «In den Staus.»
Und wieder spielt auf Deck dieses Schiffes mit starker Schlagseite das Orchester nur für sich alleine. Ein Orchester auf einem sinkenden Schiff, das doch nie versinkt.
Lenins Fr. 12.90 lagern bei der ZKB
NZZ, 28.11.1997
Die bange Frage, ob mit Uljanow, Wladimir, Zürich, genannt Lenin, noch ein Revolutionär ein Schweizer Bankkonto aufweise (vgl. NZZ 27. 11.97), hat überraschend schnell eine Antwort gefunden: Der in Zürich lebende russische Schriftsteller Michail Schischkin hat der NZZ folgenden (durch die Redaktion leicht überarbeiteten) Text zugestellt:
«Vor seiner Abreise nach Russland hob Lenin, Klient bei der Zürcher Kantonalbank, sein Guthaben von seinem Konto ab und übergab das Sparbüchlein mit einem Rest von Fr. 5.05 Raissa Charitonowa. Raissa war die Frau von Moissej Charitonow, der als Sekretär der Zürcher Bolschewikensektion fungierte. Mit dem Restbetrag sollte Lenins ausstehender Parteimitgliedsbeitrag bezahlt werden. In ihren Lebenserinnerungen schilderte Charitonowa, wie sie kurz vor ihrer Rückreise nach Russland im Herbst 1917 bei der Zürcher Kantonalbank Lenins Sparbüchlein am Schalter vorwies. Der Bankangestellte habe ausgerufen: ʻW. Uljanow, ist das der Uljanow, der als politischer Emigrant bei uns in Zürich gewohnt hat und jetzt in Russland ein berühmter Mann geworden ist? Der Uljanow, über den überall in den Zeitungen geschrieben wird?ʼ Raissa Charitonowa habe darauf so beherrscht wie möglich entgegnet: ʻJa, genau dieser Uljanow, politischer Emigrant, der beim Schuster Kammerer an der Spiegelgasse 14 gewohnt hatʼ . . .
Das Bankpersonal sei dann zusammengelaufen, um das Sparheft in Augenschein zu nehmen. Charitonowa erinnert sich weiter, dass der Abteilungsleiter ihr offeriert habe, das Konto zu schliessen und das Guthaben auszuhändigen. Nein danke, habe sie daraufhin erklärt und folgendes ausgeführt: ʻNicht das ist der Gnind, weshalb ich zu Ihnen gekommen bin, ein Guthaben von 5 Fr. zu erhalten. Ich werde dieses Sparheft mit mir in die Heimat nehmen, nach Russland, das Guthaben kann ruhig auf der Schweizer Bank liegenbleiben. Die Anlage ist nicht gross, aber dafür ist der Anleger ein grosser Mann.ʼ Darauf verabschiedete sich Raissa Charitonowa, und als sie sich beim Ausgang nochmals umblickte, sah sie lauter verdutzte Gesichter hinter sich. Übrigens hat das Sparbüchlein mit der Nummer 611361 im Archiv des Moskauer Instituts für Marxismus-Leninismus nicht nur den (grossen Anlegen überlebt, sondern auch den von ihm aufgebauten Staat und wartet nun geduldig auf einen Erben.»
Schischkins präzise und damit abgeschlossene Schilderung (sie wird auch in seinem in absehbarer Zeit erscheinenden Buch Die russische Schweiz. Literarisch-historischer Reiseführer zu finden sein) ruft nach einem simplen Kontrollanruf bei einem Sprecher der Zürcher Kantonalbank (ZKB). Und siehe da, es handelt sich um einen Volltreffer. Das fragliche Sparheft hatte tatsächlich Lenin gehört und wurde offenbar bis Kriegsbeginn brav verzinst. Im Rahmen einer Aufräumaktion wurde es dann auf ein Sammelkonto übertragen, womit auch die Verzinsung eingestellt wurde. Immerhin konnte sich das Guthaben mehren: Fr. 12.90 waren es dann, die die Bank der Meldestelle (Atag Ernst & Young in Basel) rapportierte. Da im Rahmen der ersten Nachforschungsaktion der Banken, die ihren Niederschlag in der Juli-Liste fand, nicht nach Sparheften gesucht wurde, sei das geschichtsträchtige Konto zunächst unbemerkt geblieben. Erst die zweite Kontrolle, deren Ergebnisse in der Oktober-Liste publiziert wurden, machte dann die Öffentlichkeit auf das Konto des Wladimir Uljanow aufmerksam. Die Bank habe ferner der Atag mitgeteilt, dass Wladimir Uljanow tatsächlich Lenin sei.
Wie bereits berichtet, erhebt eine Nichte Lenins auf das Konto Anspruch. Damit ist zu hoffen, dass nach erfolgter Klärung der Verzinsungsfrage (von 1939 bis heute), mit einer Auszahlung wenigstens diese Geschichte ihren Abschluss findet.
Gewiss ist ferner, dass diese Situation in anderen Zeiten als Beweis für die sprichwörtliche Korrektheit der Schweizer Banken hätte vermarktet werden können. Ungewiss ist dagegen für die Nachwelt nun etwas ganz anderes: «Schuldet» nun durch das Verhalten von Raissa Charitonowa Lenin den Zürcher Bolschewiken noch immer seinen Mitgliedschaftsbeitrag für das Jahr 1917?
Interview für das deutsche Fernsehen am 21.08.1991